07.08.2014

Für New York mit Marx und Machiavelli

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Für New York mit Marx und Machiavelli

Bill de Blasio, der geliebte und gehasste Bürgermeister von Eric Alterman

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New York City ist im Begriff, ein „zweites Havanna“ zu werden– jedenfalls nach der festen Überzeugung der Republikaner. Die Konservativen haben laut New York Times Bill de Blasio, seit Januar Bürgermeister von New York City, zu ihrem Lieblingsfeind erkoren.1 Die republikanische Parteispitze sieht in de Blasios junger Regierung und ihren politischen Plänen „all ihre Ängste vor einer erstarkenden Neuen Linken“ verkörpert, wie etwa „populistische Verachtung der Reichen, offene Sympathie für die organisierte Arbeiterschaft und unerbittliche Fokussierung auf die Einkommensungleichheit“.

Der Vorwurf, hier werde ein Klassenkampf gegen die Wohlhabenden geführt, begleitet jeden von de Blasios Schritten seit seiner Amtseinführung am 1. Januar. Damals hatte er verkündet: „Wir sind aufgerufen, den ökonomischen und sozialen Ungleichheiten, die unsere geliebte Stadt zu zerstören drohen, ein Ende zu bereiten.“ Der Wirtschaftskolumnist des Internetmagazins Slate, Matt Yglesias, twitterte daraufhin: „De Blasio beschwört bei seiner Amtseinführung die Mumien Lenin, Mao und Ho Chi Minh.“ Weniger Tage später, nach einem schweren Schneesturm, wurde es dann völlig absurd: Die Boulevardblätter ließen verbitterte Bewohner der edelsten Gegend der Upper East Side zu Wort kommen, die sich als Opfer verspäteter Schneeräumung wähnten: „Er will uns eins auswischen“, behauptete etwa Molly Jong Fast, Tochter der berühmten Autorin Erica Jong, gegenüber Rupert Murdochs New York Post am 21. Januar. „Indem er die Upper East Side nicht räumen lässt, gibt er uns zu verstehen: ‚Ich gehöre nicht zu euch.‘ “

Es ist bemerkenswert, wie schnell dieser Gedanke sich in den Köpfen festsetzte und auch von weniger ideologischen Medien auf lokaler wie nationaler Ebene nachgebetet wurde. Zur Erinnerung: Alle drei großen New Yorker Tageszeitungen hatten bei den Vorwahlen der Demokratischen Partei Christine Quinn unterstützt, die extrem wirtschaftsfreundliche – und lesbische – Stadtratsvorsitzende und Favoritin von de Blasios Amtsvorgänger Bloomberg.

De Blasio hatte sich im Wahlkampf links von allen wichtigen Kandidaten positioniert und seine Kampagne ganz auf das Thema der sozialen Ungerechtigkeit ausgerichtet. New York, das seien zwei verschiedene Städte, betonte er unaufhörlich: eine für die Superreichen und eine für den Rest.

Die Botschaft kam an, de Blasio gewann. Dazu trug gewiss auch seine multikulturelle Familie bei – seine Frau ist Afroamerikanerin und die Kinder –, aber auch seine scharfe Kritik an der Polizeiwillkür gegenüber Farbigen. Doch die ökonomische Botschaft war die Achse all seiner Wahlaussagen.

New York ist die Großstadt mit der größten sozialen Ungleichheit in den USA – die in der globalen Rangliste der Ungleichheit an dritter Stelle liegen. 38 Prozent aller Einkommen entfallen auf nur 5 Prozent der Haushalte. Dies liegt vor allem an der Wall Street, wo 2013 durchschnittlich 164.530 Dollar pro Mitarbeiter allein an Boni gezahlt wurden. Ein Jahreseinkommen von 20 Millionen Dollar, wie es etwa der Goldman-Sachs-Chef, Lloyd Blankfein, bezieht, findet hier niemand anstößig.

Unter Bloomberg war die Stadtverwaltung vornehmlich auf das Wohlergehen dieses Teils der Gesellschaft bedacht – davon ausgehend, dass die Superreichen den Löwenanteil der Steuern einbringen. Manhattan erscheint heute reicher und glitzernder als je zuvor; Wohnungen für zig Millionen Dollar sind ganz normal, aber nur für eine globalisierte Elite erschwinglich.

Zugleich sind in den letzten zehn Jahren immer mehr New Yorker aus der Mittelschicht in die Armut abgedriftet. Von 2008 bis 2011 ist das mittlere Familieneinkommen um 6 Prozent gefallen; Ende 2011 lagen 46 Prozent der Haushalte mit ihrem Einkommen keine 50 Prozent über der Armutsgrenze. 17 Prozent der Familien mit einem Vollzeiteinkommen lebten in Armut, 5,2 Prozent waren es bei Familien mit zwei Vollzeit Arbeitenden. Im Zeitraum von 2005 bis 2012 stiegen die Mieten inflationsbereinigt um 11 Prozent, die Einkommen dagegen nur um 2 Prozent. Und mehr als die Hälfte aller New Yorker geben heute über 30 Prozent ihres Einkommens für das Wohnen aus.2

Duell der Demokraten

Im Wahlkampf hatte de Blasio Kindergartenplätze für alle versprochen (was keiner seiner Rivalen übernahm), finanziert durch eine Steuer von 0,05 Prozent auf Einkommen über 500 000 Dollar. Der Finanzierungsvorschlag war eher symbolisch, denn der Bürgermeister von New York kann keine Steuern erheben. Dafür ist allein die Regierung des Bundesstaats New York in Albany zuständig. Dessen Gouverneur Andrew Cuomo (ein potenzieller Präsidentschaftskandidat der Demokraten) profiliert sich in Fragen der Waffengesetze oder der Homoehe als Linker, in Sachen Steuern ist er aber konservativ. Auf dem demokratischen Parteitag des Staats New York tönte er, seine Regierung habe „die Steuern für die Mittelschicht auf den tiefsten Stand seit 1953, die Unternehmenssteuer auf den tiefsten Stand seit 1968“ gesenkt und die „erste Grundsteuersenkung überhaupt verabschiedet“.

De Blasios Amtszeit ist in vieler Hinsicht ein riskanter Tanz des ökonomisch progressiven Bürgermeisters mit dem unternehmerfreundlichen Gouverneur. Die Differenzen der beiden spiegeln den fundamentalen Widerspruch innerhalb der Demokratischen Partei wider und sind Teil des Kampfs um deren künftige Orientierung. Die Wirtschaftspopulisten hoffen auf Politiker wie de Blasio und die Senatorin Elizabeth Warren, während die unternehmerfreundliche Fraktion der Partei auf Leute wie Cuomo und Hillary Clinton setzt, die Schutz vor dem aufsässigen Volk mit seinen Mistgabeln bieten.

Ein New Yorker Bürgermeister muss sich mit dem Gouverneur stets gut stellen, weil fast alle Bundesmittel über die Bundesstaaten verteilt werden und diese auch die Steuerhoheit ausüben. Damit hält Cuomo in jedem Konflikt die Trümpfe in der Hand. Obwohl er nicht einmal in der eigenen Partei sonderlich beliebt ist, wird sein enormes Geschick bei der Verfolgung seiner politischen Interessen und Ziele von Freund wie Feind bewundert – die freilich je nach Thema und Interesse wechseln können.

Zum Beispiel übernahm Cuomo die Forderung nach garantierten Kindergartenplätzen, nachdem er die entsprechenden Umfragewerte aus de Blasios Wahlkampf gesehen hatte. Aber wie zu erwarten war, scheute er davor zurück, das Programm durch eine neue Reichensteuer zu finanzieren. De Blasio wiederum lehnte Cuomos Angebot einer auf ein Jahr befristeten Finanzierung ab und bestand auf einer langfristigen finanziellen Absicherung. In den Zeitungen dominierte die konservative Position, selbst die liberale New York Times riet dem Bürgermeister, Cuomos Angebot als Etappensieg zu verbuchen und sich neuen Themen zuzuwenden. Doch de Blasio blieb hartnäckig und rang dem Bundesstaat am Ende immerhin eine Finanzierung für drei volle Jahre ab.

Danach unterlief de Blasio allerdings ein schwerer Fehler, als er zuließ, dass Cuomo die Frage der chartered schools demagogisch ausschlachtete. Diese halbprivaten Freien Schulen werden zum Teil öffentlich finanziert, unterliegen aber weder dem üblichen Reglement des staatlichen Schulsystems noch der Kontrolle der Lehrergewerkschaften. Solche Schulen werden nur von einem winzigen Teil (knapp 6 Prozent) der New Yorker Kinder besucht, aber sie sind ein Lieblingsprojekt von konservativen Pädagogen und leistungsorientierten Hedgefonds-Managern, die Gewerkschaften verabscheuen und auf die Vorstellung messbarer (allerdings nachweislich fragwürdiger) Lernleistungen fixiert sind.

Die meisten Linken sehen in diesen Schulen einen Versuch, das staatliche Schulsystem zu untergraben, weil sie diesem einen Teil der Gelder entziehen und auch viele engagierte Eltern und Kinder abspenstig machen. (Die meisten chartered schools haben als Zielgruppe bestimmte Minderheiten.) Als de Blasio einige dieser Institute an die Kandare nehmen wollte, trat Cuomo – dessen Sponsoren oft Anhänger freier Schulen sind – als Retter auf den Plan und zwang de Blasio zu einem blamablen Rückzieher. Am Ende stand der Bürgermeister als politischer Grünschnabel da, der sich von einem alten Hasen abkanzeln lassen muss.

Aber de Blasio ist nicht nachtragend. Als die Working Families Party, ein den Demokraten nahestehendes Bündnis von Gewerkschaftern, Lokalpolitikern und engagierten Bürgern, das de Blasio im Wahlkampf unterstützt hat, Ende Mai über die Unterstützung für Cuomos erneute Kandidatur zerstritt, stellte sich de Blasio trotz allem klar hinter Cuomo. Gemeinsam mit den mächtigsten Gewerkschaften der Stadt, die auf die Zustimmung des Gouverneurs für ihre Tarifverträge angewiesen sind, kämpfte er hinter den Kulissen für die Zustimmung der Parteibasis: Es sei besser, den Gouverneur zu unterstützen und eine Enttäuschung in Kauf zu nehmen, als Cuomos Feindschaft heraufzubeschwören. Denn obwohl die Linke aufgrund der Gewerkschaften und der zahlreichen Bürgerorganisationen in New York weit stärker ist als in den meisten anderen US-amerikanischen Städten, bleibt die Tatsache bestehen, dass es auch im 21. Jahrhundert noch Kernland des Kapitals ist.

Wohnungsbau und Gerechtigkeit

Kein Politiker im Staat New York kann es mit einem amtierenden Gouverneur aufnehmen, der die Macht des Geldes im Rücken hat. Cuomo hat schon jetzt über 33 Millionen Dollar für die Kampagne zu seiner Wiederwahl am 4. November gesammelt, obwohl es keinen ernstzunehmenden Gegenkandidaten gibt. Auch besteht innerhalb der Linken, unter den unterschiedlichen ethnischen Gruppen, den Umweltverbänden und religiösen Gemeinschaften, den Mietervereinen, den geschlechterpolitischen Organisationen und den ideologischen Gruppierungen wie üblich nur wenig Einigkeit. Die meisten beschäftigen sich nur mit sozialen und kulturellen Fragen ihres engeren Umfelds und sind für einen gemeinsamen Kampf für ökonomische Gerechtigkeit nicht zu begeistern.

Besonders schwer wird es de Blasio haben, sein Versprechen einzuhalten, 200 000 neue, bezahlbare Wohneinheiten zu bauen, und zwar mithilfe neuer Planungsgesetze und Stadtentwicklungsgelder. Der Bürgermeister selbst spricht von dem „buchstäblich größten und ehrgeizigsten Programm zur Errichtung bezahlbaren Wohnraums, das je von einer Stadt in der Geschichte der USA aufgelegt wurde“. Aber die meisten Fachleute halten das Programm für schwer bis gar nicht realisierbar.

Die Bauindustrie ist die Wirtschaftsbranche, die – abgesehen vom Finanzsektor – in der New Yorker Stadtpolitik die größte Macht ausübt. Mit Immobilien lässt sich in New York City irre viel Geld verdienen. Es gibt genügend Leute, die zig Millionen Dollar für ein Apartment auf den Tisch legen, womit sie sich ein Ausmaß an Luxus erkaufen, das die Vorstellungskraft der meisten gewöhnlichen Einwohner New Yorks bei Weitem übersteigt. Solche Apartmenthäuser verfügen über private Schwimmhallen und Fitnessräume, zuweilen sogar eine hauseigene Bibliothek. Außerdem müssen die privilegierten Bewohner den Zugang zu ihrem Etablissement nicht mit dem U-Bahn fahrenden Gesindel teilen.

Der Boom bei Luxuswohnungen macht die meisten Bauunternehmer geneigt, wenn nicht entschlossen, mit der Stadtverwaltung ins Geschäft zu kommen. De Blasio versucht in der Baupolitik eine sowohl „unternehmerfreundliche“ als auch mittelschichtsorientierte Linie zu fahren. Bislang ist ihm dieser Spagat ganz gut gelungen. So brachte er etwa nur zwei Tage vor Ablauf der entscheidenden Frist ein großes Bauprojekt für kostengünstigen Wohnraum in Brooklyn durch.

De Blasio weiß, dass jeder Einsatz für die Armen und die Mittelschicht von New York City eine gleich starke oder sogar noch durchschlagskräftigere Reaktion der Superreichen und ihrer Vorreiter in Albany, in der Presse und in anderen Machtzentren zur Folge hat. Doch trotz der Panikmache der konservativen Kreise sind sich Bauunternehmer und linke Aktivisten im Grunde darin einig, dass de Blasio, „eher Machiavelli ist als Marx“, wie es ein Kommentator ausdrückte. Die Linke in New York wie im ganzen Lande könnte allerdings ein gerüttelt Maß von beidem vertragen. Aber zunächst müssen de Blasio und seine Genossen zeigen, ob sie die auf Marx und Machiavelli fußenden Hoffnungen wenigstens teilweise erfüllen können.

Auf keinen Fall kann de Blasio seinen Kampf über die Medien gewinnen, und das weiß er auch. Er wird vielmehr darauf setzen müssen, dass er den Menschen konkrete Hilfeleistungen bietet, die sie brauchen und dafür dankbar sind. In der Hoffnung, dass möglichst viele Menschen endlich kapieren, dass dass das Mediengetöse nichts mit ihrem Lebensalltag zu tun hat. Kindergartenplätze für alle, Hortbetreuung, Krankengeld, erschwinglicher Wohnraum, deutliche Steigerung des Mindestlohns – solche Programme gefallen Finanzexperten nicht besonders, aber sie bringen (wie die umkämpfte Krankenversicherung Obamacare) entscheidende Veränderungen für die Menschen, die sich nur mit Mühe über Wasser halten. Solange die Wirtschaft New Yorks floriert, sollte de Blasio imstande sein, die Hoffnungen auf eine progressive Urbanität einzulösen, die sich in den 1960ern zerschlagen haben. Damit könnte er ein Beispiel für andere prosperierende, aber sozial zerklüftete Städte setzen: für Los Angeles, Seattle, San Francisco und vielleicht auch Chicago.

Fußnoten: 1 Michael Barbaro und Michael M. Grynbaum, „Republicans Cast de Blasio as a Leading Liberal Foe“, The New York Times, 14. Mai 2014. 2 „NYC Housing. 10 issues for NY’s next Mayor“, Furman Center for Real Estate & Urban Policy, New York University, 2013. Aus dem Englischen von Robin Cackett Eric Alterman ist Journalist und Autor unter anderem von: „The Cause: The Fight for American Liberalism from Franklin Roosevelt to Barack Obama“, New York (Viking Books) 2012.

Le Monde diplomatique vom 07.08.2014, von Eric Alterman