Was der Staat kann
Ohne öffentliche Investitionen gäbe es weder Internet noch Nanotechnologie von Mariana Mazzucato
Oft wird behauptet, die Nöte der „peripheren“ Länder der Eurozone, etwa Portugals und Italiens, seien durch einen „verschwenderischen“ öffentlichen Sektor verursacht. Dabei wird das Offensichtliche übersehen: dass diese Länder eher an einem stagnierenden öffentlichen Sektor leiden, der die strategischen Investitionen versäumt hat, die erfolgreichere Kernländer wie Deutschland seit Jahrzehnten tätigen.
Die Macht der Ideologie ist so groß, dass sie leicht eine verzerrte Wahrnehmung der Fakten bewirkt. Was die 2007 einsetzende Finanzkrise betrifft, so ließen sich viele Leute später einreden, deren Hauptursache sei die Verschuldung der öffentlichen Haushalte – dabei war es eindeutig die exzessive private Schuldenaufnahme (hauptsächlich auf dem US-Immobilienmarkt).
Natürlich gibt es Länder mit niedrigem Wachstum und hohem Haushaltsdefizit, aber die Frage von Ursache und Wirkung ist höchst umstritten. Dennoch lassen sich viele Menschen einreden, dass eine Staatsverschuldung von mehr als 90 Prozent des BIPs das Wachstum einbrechen lasse. Prompt wurde der Umkehrschluss zum neuen Dogma: Sparen wird das Wachstum garantiert (und automatisch) zurückbringen.
Noch offensichtlicher ist, dass es eindeutig nicht auf die Größe des öffentlichen Sektors ankommt, sondern darauf, wofür er das Geld ausgibt. Ausgaben für sinnlose Bürokratie oder für Bestechung sind gewiss nicht gleichzusetzen mit Ausgaben zur Verbesserung des Gesundheitssystems, für Spitzenqualität im Bildungswesen und bahnbrechende Forschungen, also Investitionen in „Humankapital“ und die Entwicklung neuer Technologien.
Die Variablen, die nach Ansicht der Ökonomen für das Wirtschaftswachstum wichtig sind – wie Bildung und Forschung und Entwicklung –, sind teuer. Die Tatsache, dass die schwächsten Länder in Europa mit den meisten Schulden im Verhältnis zum BIP in diesen Bereichen sehr wenig ausgegeben haben, sollte uns deshalb nicht überraschen. Doch die Sparmaßnahmen, die man ihnen gegenwärtig aufzwingt, werden das Problem nur verschlimmern. Es ist eine sich selbst erfüllenden Prophezeiung: Je mehr wir die Rolle des Staats in der Wirtschaft zurückfahren, desto weniger kann er als wichtiger Akteur auftreten und desto weniger vermag er Toptalente anzuziehen.
Ist es ein Zufall, dass das US-Energieministerium, von dem die meisten Ausgaben für Forschung und Entwicklung in der US-Regierung kommen und (pro Kopf) die meisten Ausgaben für Energieforschung aller OECD-Länder, einen Physiknobelpreisträger als Leiter gewinnen konnte? Oder dass weniger ambitionierte Länder eher nach dem Prinzip der Vetternwirtschaft funktionieren und in ihren Ministerien entsprechend wenig Sachverstand vorzuweisen haben? Natürlich ist das Problem nicht einfach mangelnder Sachverstand; wenn es jedoch gelingt, Talente zu gewinnen, ist das ein Indiz für das Ansehen, das öffentliche Einrichtungen in einem Land genießen.
Wir hören ständig, der Staat solle sich in wirtschaftlichen Belangen zurückhalten, weil er nicht in der Lage sei, „Gewinner“ zu erkennen, egal ob es sich um neue Technologien, aufstrebende Branchen oder bestimmte Firmen handelt. Dabei wird übersehen, dass sich der Staat in Fällen, in denen er angeblich versagt hat, oft an Projekte heranwagte, die eine Privatfirma kaum übernehmen würde: Entweder wollte er die Glanzzeit einer reifen Industrie ausdehnen (als Beispiel die französische Concorde, die die Strecke zwischen New York und London in gut drei Stunden fliegen konnte, oder das gescheiterte US-Projekt eines Überschalltransportjets) oder aktiv einen neuen Technologiesektor auf den Weg bringen (Beispiel Internet und IT-Revolution).
Wenn man auf solch schwierigem Terrain agiert, steigt die Wahrscheinlichkeit des Scheiterns. Doch wenn wir ständig kritisieren, der Staat könne kein effizienter und innovativer Akteur sein, werfen wir ihm nicht nur vorschnell Misserfolge vor, sondern wir haben auch keinen zuverlässigen Maßstab, um seine Investitionen fair zu beurteilen. Öffentliches Risikokapital ist etwas ganz anderes als privates Risikokapital. Es fließt in Bereiche mit viel größerem Risiko, in denen Geduld gefordert ist und die erwarteten Renditen niedriger sind. Das ist per definitionem eine schwierigere Situation. Dennoch werden die Renditen von öffentlichem und privatem Wagniskapital verglichen, als gäbe es diese Unterschiede nicht.
Dass der Staat nicht in der Lage ist, seine Position zu verteidigen und zu erklären, was er mit den ausgewählten Gewinnern zu tun hatte (vom Internet bis zu Firmen wie Apple), erleichtert ironischerweise die Kritik in den Fällen, in denen er versagt hat (zum Beispiel beim Überschalltransportprojekt). Und noch schlimmer: Durch die Kritik ist der Staat verletzlich und ängstlich geworden, er lässt sich leicht durch Lobbys vereinnahmen, die öffentliche Mittel in private Gewinne umwandeln wollen, oder durch angebliche Experten zum Schweigen bringen, die die immer gleichen Mythen über die Ursprünge wirtschaftlicher Dynamik wiederkäuen.
In den USA sank Ende der 1970er Jahre die Steuerbelastung von Kapitaleinkünften signifikant, vor allem dank der Lobbyarbeit der Risikokapital-Branche. Die Lobbyisten argumentierten gegenüber der Regierung, Risikokapitalgeber hätten sowohl das Internet wie die Anfänge der Halbleiterindustrie finanziert, ohne sie seien Innovationen also gar nicht möglich. Dieselben Akteure, die auf der Welle üppiger staatlicher Investitionen den Bereich eroberten, der später die Dot.com-Revolution hervorbringen sollte, überredeten anschließend die Regierung, die Steuern für sie zu senken. Ausgerechnet diejenigen, die für ihren eigenen Geschäftserfolg auf staatliche Gelder angewiesen waren, sorgten also dafür, dass sich die Taschen des Staats leerten.
Der Mythos vom Ursprung der Innovationen
Weil der Staat selbst zu wenig Vertrauen in seine Rolle hat, geht er den Mythen über den Ursprung von Innovation und unternehmerischem Wagemut auch zu leicht auf den Leim. So beklagen sich die großen Pharmaunternehmen bei ihren Regierungen gern, sie litten unter übermäßiger Regulierung und Bürokratie, während sie gleichzeitig bei Forschung und Entwicklung von staatlichen Geldern abhängen.
Auch Kleinunternehmerverbände haben in vielen Ländern die Regierungen davon überzeugt, dass dieser Unternehmenstyp unterfinanziert ist. Tatsächlich erhalten Kleinunternehmen in vielen Ländern mehr finanzielle Unterstützung als die Polizei, ohne die Jobs und die Innovationen zu schaffen, die eine solche Unterstützung rechtfertigen würden.1 Hätte der Staat besser verstanden, wie seine Investitionen zum Aufstieg der erfolgreichsten neuen Unternehmen wie Google, Apple und Compaq beigetragen haben, würde er solchen Argumenten womöglich entschiedener entgegentreten.
Aber der Staat betreibt kein gutes Marketing in eigener Sache. Zum Beispiel wäre der Kampf von Präsident Barack Obama für eine nationale Gesundheitsreform viel erfolgreicher gewesen, wenn die Bürger der Vereinigten Staaten gewusst hätten, wie wichtig der finanzielle Beitrag des Staats bei der Entwicklung vieler innovativer Medikamente war. Wobei es sich gar nicht um Propaganda handeln würde, sondern darum, Wissen über einen Aspekt der Technikgeschichte zu verbreiten.
Im Gesundheitswesen hat sich der Staat nicht „eingemischt“, sondern Neues auf den Weg gebracht. Doch erzählt – und leider auch geglaubt – wird eine andere Geschichte: die von den innovativen großen Pharmakonzernen und dem Staat, der sich unbefugt einmischt. Diese – komplexe – Geschichte richtig zu erzählen ist aus vielen Gründen wichtig. Die Pharmaindustrie rechtfertigt die hohen Preise für Medikamente, ob mit oder ohne staatliche Gelder entwickelt, mit ihren angeblichen „hohen Kosten für Forschung und Entwicklung“. Die Wahrheit aufzudecken hilft nicht nur den Regierungen, ihre politische Strategie zu verbessern, sondern kann auch dazu beitragen, dass der Markt besser funktioniert.
Die unternehmerische Rolle des Staates hervorzuheben bedeutet im Übrigen nicht, die unternehmerische Aktivität des privaten Sektors zu bestreiten: von jungen Unternehmen, die Dynamik in neue Sektoren bringen (zum Beispiel Google), bis zur wichtigen Finanzierung aus privaten Quellen durch Risikokapital. Das Problem besteht eher darin, dass oft nur die Geschichte des privaten Sektors erzählt wird. Silicon Valley und die Erfolge der Biotechbranche werden üblicherweise den genialen Köpfen zugeschrieben, die hinter kleinen Hightech-Firmen wie Facebook stehen oder hinter den vielen kleinen Biotechfirmen in Boston und Cambridge.
Dass Europa den Vereinigten Staaten angeblich hinterherhinkt, wird damit erklärt, dass sein Risikokapitalsektor unterentwickelt sei. Dabei wird häufig auf Hightech-Unternehmen in den USA verwiesen, um zu belegen, dass wir weniger Staat und mehr Markt brauchen: Man müsse nur das Gleichgewicht zugunsten des Markts verschieben, und schon werde Europa seine eigenen „Googles“ bekommen.
Aber wie viele Menschen wissen, dass der Algorithmus, dem Google seinen Unternehmenserfolg verdankt, mit dem Geld der National Science Foundation entwickelt wurde?2 Oder dass in Großbritannien die molekularen Antikörper, die die Grundlage der Biotechnologie-Industrie bildeten, lange vor dem Auftauchen von Risikokapitalgebern in Laboren des staatlichen Medical Research Council (MRC) entdeckt wurden? Und wer weiß schon, dass die Finanzierung von vielen der innovativsten jungen Unternehmen in den USA nicht auf privatem, sondern auf staatlichem Risikokapital basierte, das zum Beispiel aus dem Programm Small Business Innovation Research (SBIR) stammte?
Markt und Grundlagenforschung
Es ist wichtig, aus solchen Einsichten Lehren zu ziehen. Denn dann muss man die Rolle des Staats anders diskutieren – also nicht nur unter dem Aspekt, wie er die Nachfrage fördern kann und ob es ihm gelingt, „Gewinner herauszupicken“. Wir brauchen einen zielgerichtet handelnden, aktiven, unternehmerischen Staat, der in der Lage ist, Risiken einzugehen und ein hochgradig vernetztes System von Akteuren zu schaffen, das aus dem privaten Sektor das herausholt, was mittel- und langfristig für das Allgemeinwohl das Beste ist. In diesem Netzwerk muss der Staat als Hauptinvestor und Katalysator auftreten und die Verbreitung von Wissen steuern. Er kann selbst aktiv gestalten und muss sich nicht mit der Rolle des Förderers der Wissensökonomie zufriedengeben.
Einen unternehmerisch handelnden Staat zu fordern ist im Grunde keine „neue“ Industriepolitik, denn der Staat ist ja bereits aktiv, wenn auch eher im Verborgenen. Wie Fred Block und Matthew Keller einleuchtend dargelegt haben, hängt man die steuernden Eingriffe des Staats nicht an die große Glocke, um nicht Widerstände der konservativen Rechten herauszufordern.3
Ob in der Computerbranche, beim Internet, in der pharmazeutischen Industrie, der Bio- und Nanotechnologie oder bei der grünen Revolution: Immer war es der Staat, der allen Widrigkeiten zum Trotz wagte, über das scheinbar Unmögliche nachzudenken. Er schuf die neuen technologischen Chancen, finanzierte die großen Anfangsinvestitionen, ermöglichte einem dezentralen Netzwerk von Akteuren risikoreiche Forschungsvorhaben und stieß am Ende dynamische Entwicklungs- und Kommerzialisierungsprozesse an.
Die Ökonomen, die dem Staat eine wichtige Rolle zubilligen, argumentieren oft mit „Marktversagen“. Aus dieser Sicht, in der „unperfekte“ Märkte als Ausnahmen erscheinen, die staatliches Eingreifen erforderlich machen, ist die Rolle des Staats dann allerdings weniger interessant.
Wenn Märkte nicht perfekt funktionieren, kann das verschiedene Gründe haben: Private Unternehmen sind womöglich nicht bereit, in Bereiche wie Grundlagenforschung zu investieren, aus denen sie – da Forschungsergebnisse „öffentliche Güter“ sind – keine privaten Gewinne erzielen können. Oder sie vernachlässigen in ihrer Preiskalkulation die Kosten der Umweltverschmutzung. Oder das Risiko bestimmter Investitionen ist so hoch, dass eine Firma allein sie nicht übernehmen kann.
Angesichts dieser unterschiedlichen Formen von Marktversagen erwartet man vom Staat die Finanzierung von Grundlagenforschung, Strafsteuern für Firmen, die die Umwelt verschmutzen, sowie die Finanzierung von Infrastrukturprojekten. Dieser konzeptionelle Rahmen ist zwar nützlich, erklärt aber nicht, wie der Staat durch Investitionen eine „visionäre“ Strategie umsetzt. Das Internet wurde nicht entdeckt und die Nanotechnologie-Branche ist nicht entstanden, weil Privatunternehmen etwas wollten, aber nicht genug Geld für die erforderlichen Investitionen hatten. Beide verdanken ihre Existenz der Vision des Staats in Bereichen, die der private Sektor noch gar nicht entdeckt hatte. Selbst nachdem der Staat die neuen Technologien auf den Weg gebracht hatte, scheuten private Investoren immer noch das Risiko. Der Staat musste sogar die Kommerzialisierung des Internets unterstützen. Und es dauerte Jahre, bis private Wagniskapitalgeber begannen, Biotech- und Nanotech-Firmen zu finanzieren.
Es gibt natürlich viele Gegenbeispiele, bei denen der Staat keineswegs als unternehmerische Kraft auftritt. Es gehört ja auch nicht zu seinen zentralen Aufgaben, neue Technologien zu entwickeln und neue Industrien zu fördern. Aber wenn man anerkennt, in welchen Bereichen der Staat unternehmerisch agiert hat, wird das zu einer besseren Politik führen, als wenn wir den Staat nur als Retter bei Marktversagen und Unterstützer eines „dynamischen“ privaten Sektors betrachten.
Es gilt also vor allem, gewisse Mythen über die Quellen von Unternehmergeist und Innovation zu erkennen, die einigen sehr verbreiteten Auffassungen zugrunde liegen: Der Staat müsse den Privatunternehmen nur die richtigen Anreize bieten, Steuerentlastungen würden funktionieren, weil Unternehmen unbedingt in Innovationen investieren wollen, möglichst viele Hindernisse und Vorschriften müssten beseitigt werden, kleine Firmen seien per se flexibler und innovativer, das Kernproblem Europas sei nur die Vermarktung. Mythen dieser Art haben verhindert, dass die staatliche Förderung von Innovationen, vor denen private Unternehmen zurückscheuen, nicht so erfolgreich war, wie sie hätte sein können.