07.08.2014

Land unter in Bosnien

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Land unter in Bosnien

Nach den Überschwemmungen kommt die Solidarität in Exjugoslawien zurück von Philippe Bertinchamps und Jean-Arnault Dérens

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Am 14. Mai trat die Bosna über die Ufer und überschwemmte das Zentrum der Kleinstadt Maglaj in Zentralbosnien. Zwei Tage lang stand das Wasser zwei Meter hoch in den Straßen. Einen Monat später bietet Maglaj immer noch ein Bild der Verwüstung. Viele der 25 000 Einwohner haben sich in die höher gelegenen Stockwerke der Häuser geflüchtet oder bei Nachbarn, Verwandten und Freunden Unterschlupf gefunden. Modergeruch liegt in der Luft, der Wind wirbelt weißen Staub auf: die Reste der Chemikalien, die von den Desinfektions- und Schädlingsbekämpfungstrupps versprüht wurden. Dass die Bosna über die Ufer tritt, kommt häufig vor, aber in diesem Jahr brachte das Frühjahr – nach einem milden Winter – schwere Regenfälle und die schlimmsten Überschwemmungen seit Menschengedenken.

Vier Frauen räumen die kommunale Apotheke aus, sie müssen alle Medikamente wegwerfen. Die Bevölkerung ist zur Gesundheitsversorgung auf humanitäre Hilfe angewiesen. „In ganz Bosnien gab es eine enorme Welle der Solidarität. Freiwillige kamen, um uns zu helfen, auch aus den Nachbarländern Serbien, Kroatien und Montenegro. Die Kehrseite der Spontaneität ist, dass es keinerlei Koordination gab, niemand weiß, wer wofür zuständig ist und was in den nächsten Monaten auf uns zukommt“, sagt die Apothekerin Sanija Tutundzic.

Alle Unternehmen in Maglaj haben geschlossen. Welche Schäden das Hochwasser in der Zellstofffabrik angerichtet hat, die fast 1 000 Menschen beschäftigte, ist noch nicht abzuschätzen. „Wir werden die nächsten zehn, zwanzig Jahre darunter leiden. Es ist noch schlimmer als der Krieg. Niemand war gegen eine solche Katastrophe versichert. Wer einen Kredit aufgenommen hatte, um eine kleine Firma zu gründen, muss sich jetzt wieder Geld leihen. Das Hochwasser ist ein Geschenk für die Banken“, sagt Asim Avdic verbittert, den wir vor dem Hotel Galeb treffen, wo er bis zu der Katastrophe gearbeitet hat.

Noch Wochen nach der Flut irren verzweifelte Einwohner durch die Straßen, auf denen kaum Autos unterwegs sind: Die meisten Fahrzeuge sind in den Wassermassen versunken. Auch viele Hunde und Katzen sind verschwunden. Die Angestellten der Stadtbibliothek versuchen, die wertvollsten Bestände zu retten: Blatt für Blatt trocknen sie das Stadtarchiv und wichtige lokalgeschichtliche Studien. 12 000 Bücher konnten sie retten, aber 28 000 sind zerstört. „Alle Bibliotheken in Bosnien haben uns geholfen“, erzählt die Leiterin Nina Saltic. „Einige haben Fliesen geschickt, die wir verlegen werden, wenn wir die Böden, wo das Wasser stand, gereinigt und getrocknet haben, andere haben uns Bücher überlassen.“ An der Initiative haben sich alle beteiligt: nicht nur die Bibliotheken der Föderation Bosnien und Herzegowina und der kroatisch-bosnischen Entität des Staates Bosnien und Herzegowina, sondern auch die der Republika Srpska, berichtet Nina Saltic. „Zum Glück sind die Trennlinien bei so einer Katastrophe nicht mehr existent. Nur unsere Politiker verstehen sich weiterhin nicht.“

Die Katastrophe vom 14. Mai hat auch das Schuljahr vorzeitig beendet: „Alle Schulen haben geschlossen, und wir wissen noch nicht, ob sie im September wieder öffnen können“, sagt Mehmet Mustabasic, der Bürgermeister von Maglaj. Er gehört der Partei der demokratischen Aktion (SDA) an, zählt also zu den bosniakischen Nationalisten, die seit der Unabhängigkeit Bosnien-Herzegowinas 1991 an der Macht sind. Im Prinzip ist der Kanton für die Schulen zuständig, aber er hat noch keine Soforthilfe für den Wiederaufbau freigegeben. Der Bürgermeister gibt zu, dass er selbst nicht weiß, an wen er sich wenden soll in diesem merkwürdigen Land, wo die politischen Institutionen immer noch nach politisch-ethnischen Trennlinien aufgeteilt sind.

Retter ohne Rettungsboot

Die Menschen überleben dank der Verteilung von Lebensmitteln und Trinkwasser, die aber immer unregelmäßiger stattfindet. „Zum Glück geben die, die ein bisschen haben, denen etwas ab, die gar nichts haben“, berichtet Mustabasic. „Wir haben begriffen, dass wir weder auf unsere Behörden noch auf internationale Hilfe zählen können.“

Immerhin hat am 10. Juli endlich eine Geberkonferenz stattgefunden. Aber die internationale Hilfe in den ersten Wochen nach der Katastrophe war lächerlich gering. Die EU, die in Bosnien durch das Büro des Hohen Repräsentanten (OHR) vertreten ist, wie auch die sechshundert Personen starke europäische Militärmission Eufor-Althea war vor Ort nur selten zu sehen.

Dafür durfte sich Sarajewo am 28. Juni als das „Herz Europas“ fühlen. So stand es jedenfalls im offiziellen Programm zum 100. Jahrestag des Attentats auf Erzherzog Franz Ferdinand, das zum Ersten Weltkrieg führte. An diesem Tag wurde mit viel Tamtam der Beitrag der Europäischen Union zum Frieden gefeiert, sehr zum Unmut der Einwohner. Die Kritik artikulierte der Journalist Zlatko Didzarevic am Vorabend der Gedenkfeiern: „Unser Land, Bosnien-Herzegowina, ist vollständig zerstört, es funktioniert nicht, es existiert nicht mehr. Dennoch empfängt es einen Strom europäischer Politiker, die hohle Erklärungen abgeben und ihr ‚Nie wieder‘ herunterbeten.“1 Derselben Meinung ist Dinko Sijercic, einer der Initiatoren des Bürgerplenums von Sarajewo: „Die Überschwemmungen im Mai haben ein Drittel unseres Landes verwüstet und tausende Menschen obdachlos gemacht. Es ist widerlich, dass jetzt ein Vermögen für so eine Veranstaltung ausgegeben wird. Mit dem Geld sollte man lieber den Betroffenen helfen.“

Schon im Februar 2014 waren in der kroatisch-bosnischen Föderation viele Menschen auf die Straße gegangen, um gegen die schlechten Lebensbedingungen und gegen die verantwortungslose und korrupte politische Klasse zu protestieren. Die „Revolte der Verzweiflung“ hatte in Tuzla begonnen, aber rasch organisierten sich auch in anderen Städten ständige Volksversammlungen.

Die Aktivisten von Sarajewo und Tuzla kamen den vom Hochwasser Betroffenen als Erste zu Hilfe – nicht mit Geld oder besonderen organisatorischen Fähigkeiten, aber doch mit viel gutem Willen. Damals wuchs die Wut in der Bevölkerung immer mehr an. Am 10. Juni blockierten die Einwohner des Dorfs Topcic Polje, das durch einen Erdrutsch verschüttet worden war, die Staatsstraße M17 zwischen Zenica und Doboj. Sie forderten, die Regierung solle endlich schweres Gerät schicken, um die Schlammmassen aus ihrem Dorf zu räumen.

Aus Mazedonien, Montenegro und Slowenien trafen kurz nach der Hochwasserkatastrophe Feuerwehrleute, Ärzte und Sanitäter ein, die Bürger dieser Länder sammelten Lebensmittel oder boten sich als Hilfskräfte an. Diese Welle der Solidarität erfasste das ganze Staatsgebiet des ehemaligen Jugoslawien: „vom Vardar-Fluss, der durch Mazedonien fließt, bis zum Berg Triglav, dem Gipfel der slowenischen Alpen“, wie es in der inoffiziellen Hymne des sozialistischen Jugoslawien hieß. Diese Hilfsbereitschaft erinnert an die Solidarität nach den Erdbeben von Skopje 1963 und an der montenegrinischen Küste 1979. So sah es auch der montenegrinische Schriftsteller Andrej Nikolaidis: „In den letzten 25 Jahren haben wir keinen Sieg errungen, aber die Solidarität haben wir nicht vergessen.“2

Das Ausmaß der Katastrophe ist allerdings auch eine Folge des unablässigen wirtschaftlichen und politischen „Wandels“ auf dem Balkan. In den letzten zwanzig Jahren haben die Staaten immer weniger in den Bau und den Unterhalt von Dämmen und Uferbefestigungen investiert. Im ehemaligen Jugoslawien, so der kroatische Philosoph Srecko Horvat, „plante die Regierung allein in Serbien den Bau von 34 neuen Dämmen, um die Donau und die Save im Zaum zu halten. Bis heute haben sie nur fünf davon gebaut. Die für die Gewässer zuständigen Unternehmen sind nach und nach privatisiert worden.“3

In Serbien wurde das Budget der kommunalen Rettungsdienste zusammengestrichen. So klagt Sascha Paunovic, Bürgermeister der zentralserbischen Stadt Paracin: Wir haben kein einziges Rettungsboot, und einige unserer Feuerwehrleute können nicht schwimmen.“ Für die 54 000 Einwohner von Paracin kam die Flut am 15. Mai völlig überraschend. Paunovic wurde frühmorgens von einen Telefonanruf aus Gornja Mutnica geweckt. In dem Nachbardorf hatten die Fluten bereits die Brücke und die Straßen weggerissen. Um zwölf Uhr mittags stand das Stadtzentrum bereits unter Wasser, am Abend war Paracin vom Rest der Welt abgeschnitten. Insgesamt 20 000 Menschen haben ihre Wohnungen verloren.

An jenem 15. Mai rief die Regierung Serbiens den Notstand aus. Zu dem Zeitpunkt hatte das Tiefdruckgebiet „Tamara“, das auf seinem Weg von der Adria zum Schwarzen Meer hängen geblieben war, bereits seit 72 Stunden gewaltige Regenmengen ausgeschüttet. Der Hydrometeorologische Dienst der Republik Serbien (Hidmet) hatte erstmals am 12. Mai Alarmstufe Rot ausgegeben. „Die Meteorologen haben ihre Arbeit ordentlich gemacht“, erzählt ein Hidmet-Ingenieur, der anonym bleiben möchte. Aber der hydrologische Dienst habe die Entwicklung der Pegelstände und der Abflussmengen nicht richtig berechnet. Und dann klagt der gute Mann: „Wir zeichnen unsere Schaubilder immer noch von Hand! Mit dem Ergebnis, dass die Behörden aufgrund von Inkompetenz und unzureichenden technischen Mitteln das Hochwasser nicht voraussehen und keine Vorkehrungen gegen Überflutungen treffen konnten.“

In Obrenovac ertönte die Sirene erst am Morgen des 16. Mai. Als das Städtchen erwachte, stand das Wasser schon hüfthoch. Fast alle 24 000 Einwohner mussten evakuiert werden. Der Fluss Kolubara hatte die Erdgeschosse ihrer Häuser überflutet. Zur gleichen Zeit rief 30 Kilometer flussabwärts der Bürgermeister von Belgrad, Sinisa Mali, die Bürger via Internet auf, in ihren Häusern zu bleiben.

In Serbien sind rund eineinhalb Millionen Menschen, ein Fünftel der Bevölkerung, von dem Hochwasser betroffen. „In ein paar Monaten wird davon nichts mehr zu sehen sein“, versichert Ministerpräsident Aleksandar Vucic. Den Einwohnern fällt es schwer, ihm zu glauben. Doch die Progressive Partei (SNS) des Regierungschefs, die aus der Parlamentswahl vom 16. März gestärkt hervorgegangen ist, muss die Macht mit niemandem teilen und kann ihre Deutung der Tragödie durchsetzen.4

Ende Mai begann eine Untersuchung, um die „Verantwortung“ der Bürgermeister der drei am stärksten betroffenen Gemeinden Obrenovac, Sabac und Krupanj zu klären. Da trifft es sich gut, dass keiner der drei Stadtväter der SNS angehört. Andererseits ist der Mitgliedsausweis der Partei praktisch unerlässlich, wenn jemand einen Job in der öffentlichen Verwaltung erhalten will, inklusive der Behörden, die für Katastrophenschutz zuständig sind. Politische Verbindungen und Klientelbeziehungen zählen mehr als Kompetenz. Viele können bezeugen, dass ein junger Universitätsabsolvent, um eine Anstellung zu finden, eine „Spende“ von durchschnittlich 5 000 Euro an die Partei abführen muss.

In der Folge hatte die Regierung nichts Eiligeres zu tun, als Hackerattacken auf Internetseiten zu organisieren, die der Verbreitung von „Falschmeldungen“ bezichtigt wurden, tatsächlich aber lediglich das Krisenmanagement kritisiert hatten. Diese Form der Zensur brachte Serbien eine scharfe Rüge der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) ein.5

Ministerpräsident Vucic stört das alles nicht: Er will die Katastrophe nutzen, um seine Macht auszubauen, die immer deutlicher autoritäre Züge zeigt. Bis heute gibt es für Serbien noch keine endgültige Schadensbilanz. In Bosnien-Herzegowina wird der wirtschaftliche Schaden des Hochwassers auf 2 Milliarden Euro beziffert; das sind 15 Prozent des Bruttoinlandsprodukts.

Fußnoten: 1 Interview mit Zlatko Dizdarevic, in: Le Courrier des Balkans, 2. Juni 2014. Dizdarevic war während der Belagerung Sarajewos (1992–1995) Chefredakteur der Tageszeitung Oslobodjenje. 2 Andrej Nikolaidis, „Hochwasser in Bosnien und Serbien: Jugoslawien zeigt geeint Stärke“, Le Courrier des Balkans, 19. Mai 2014. 3 Vgl. Srecko Horvat, „Under the surface of the Balkan floods lies a social disaster“, The Guardian, 22. Mai 2012. 4 Die SNS erhielt bei den Wahlen fast 50 Prozent der Stimmen sowie die absolute Mehrheit der Sitze im serbischen Parlament. Sie gewann zudem die kommunalen Nachwahlen in Belgrad. 5 Siehe caféeurope, 30. Mai 2014: cafe-europe.info/news-detail/hintergrund/news/in-serbien-hackt-der-zensor/. Aus dem Französischen von Ursel Schäfer Philippe Bertinchamps ist Journalist in Belgrad, Jean-Arnault Dérens ist Chefredakteur des Onlinemagazins Le Courrier des Balkans: balkans.courriers.info.

Le Monde diplomatique vom 07.08.2014, von Philippe Bertinchamps und Jean-Arnault Dérens