09.03.2007

Diagnose Starrsinn

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Diagnose Starrsinn

George W. Bush: Flucht nach vorn aus der Realität von Ibrahim Warde

Mehr militärischen Druck im Irak durch die Entsendung von 21 500 zusätzlichen Soldaten kündigte US-Präsident George W. Bush in seiner Grundsatzrede am 10. Januar an. Eine solche kurzfristige Truppenverstärkung war Tage zuvor auch in einer Studie der neokonservativen Denkfabrik American Enterprise Institute (AEI) empfohlen worden. Im Dezember 2006 hatte die vom Kongress eingesetzte Iraq Study Group unter Leitung von James Baker und Lee Hamilton in ihrem Bericht hingegen einen schrittweisen Truppenabzug aus dem Irak empfohlen. Im Kongress gab es folglich auch Widerstand gegen die neue Vorwärtsstrategie: Harry Reid, Führer der demokratischen Mehrheit im Senat, erklärte am 18. Februar in einer CNN-Videokonferenz, die Doktrin, im Irak auf jede Niederlage mit einer neuen Offensive zu antworten, sei ein schwerer Fehler – „schlimmer als in Vietnam“.

Noch vor einigen Monaten sah es so aus, als könnten die „Realisten“ in der US-Politik wieder die Oberhand gewinnen. Die neokonservative Prominenz –von Paul Wolfowitz über Richard Perle, Douglas Feith und Lewis Libby bis John Bolton – schwieg, als der Irak im Bürgerkrieg versank.1 Unilaterale Politik und Militarismus schienen keine Fürsprecher mehr zu haben.2

Nach der Wahlschlappe vom 7. November 2006 versprach George W. Bush einen „neuen Ansatz“ in der Irakpolitik der USA und ersetzte Verteidigungsminister Donald Rumsfeld durch Robert Gates, einen Vertrauten seines Vaters in dessen Zeit als Präsident.

Der im Dezember veröffentlichte Abschlussbericht der Baker-Kommission empfahl, einen „verantwortungsbewussten Übergang“ zur irakischen Selbstverwaltung, um den Abzug der US-Kampftruppen bis zum ersten Vierteljahr 2008 abzuschließen. Zudem regte er eine „umfassende neue diplomatische Offensive“ an – konkret: Gespräche mit Iraks Nachbarn Syrien und Iran, zu denen sich die USA auf Druck der irakischen Regierung nur in thematisch engen Grenzen bereit erklärte. Auch solle sich Washington „erneut und nachhaltig für einen umfassenden arabisch-israelischen Frieden“ nach dem Prinzip „Land für Frieden“ einsetzen.3

Bush erklärte öffentlich, er finde einige Punkte der Studie sehr interessant, wolle aber noch andere Meinungen einholen, bevor er seine neue Strategie bekannt gebe. Im privaten Gespräch fand er wohl zu einem weniger höflichen Urteil – er soll den Bericht als „einen dampfenden Haufen Scheiße“ („a flaming turd“) bezeichnet haben.4

Um die Entscheidung der Regierung für die militärische Flucht nach vorn zu verstehen, muss man möglicherweise die frühen politischen und religiösen Prägungen von George W. Bush in Betracht ziehen – oder gar seine ödipale Phase. Vor einigen Jahren antwortete der Präsident auf die Frage, ob er seinen Vater um Rat gefragt habe, bevor er sich zum Krieg gegen den Irak entschloss: „Nein, nicht an ihn, nicht an meinen Vater wende ich mich, um Kraft zu schöpfen. In solchen Augenblicken rufe ich den allmächtigen Vater an.“6

Wie in jeder Dynastie ist auch im Hause Bush die Vater-Sohn-Beziehung nicht unbelastet. Dem Thronerben war es wichtig, in der Außenpolitik einen radikalen Kurswechsel zu vollziehen. George Bush sen. sah sich als Realisten und Pragmatiker, von „Visionen“ hielt er wenig. Militärische Lorbeeren erwarb er sich 1991 durch die Vertreibung der irakischen Truppen aus Kuwait. Seinem Außenminister James Baker war es damals gelungen, nicht nur eine Koalition von 34 Staaten zu schmieden (darunter einige arabische Länder), sondern auch das formelle Mandat des UN-Sicherheitsrats für den Einsatz zu erhalten – und sogar die Alliierten der USA für die Kriegskosten zur Kasse zu bitten.7

Im Unterschied zu seinem Vater besaß George W. Bush keine außenpolitische Erfahrung, als er Präsident wurde. Doch er berief die Professorin Condoleezza Rice in seinen Beraterstab, die für ihn eine Art Hauslehrerin wurde.8 Auch andere Einflüsse waren prägend. 1998 unternahm Bush, damals noch Gouverneur von Texas, eine seiner ersten Auslandsreisen – nach Israel. Dort soll er seine erste Lektion in Militärstrategie erhalten haben: Der damalige israelische Außenminister Ariel Scharon machte ihm auf einem Hügelrücken bei Tel Aviv klar, warum ein „Frieden durch Stärke“ dem Prinzip „Land gegen Frieden“ vorzuziehen sei. Im Übrigen berichtet der frühere Botschafter Peter Galbraith, dass der Präsident der USA im Januar 2003, drei Monate vor dem Angriff auf den Irak, noch nichts davon gehört hatte, dass im Irak zwischen Sunniten und Schiiten ein eher feindliches Verhältnis herrscht.9

Der Dominoeffekt, der nicht eintrat

Knapp neun Monate nach seiner Amtsübernahme wollte Bush von seinem Wahlkampfversprechen, eine „moderate“ Außenpolitik zu führen, nichts mehr wissen. Am 14. September 2001, drei Tage nach 9/11, verkündete er bei einem Gottesdienst in der National Cathedral von Washington für die Opfer der Anschläge seine Entschlossenheit, „die Welt vom Bösen zu befreien“. Viele Beobachter berichten, er habe damals geglaubt, dieser Weg sei von oben vorgezeichnet, habe also seine Präsidentschaft als ein Werk göttlicher Vorsehung begriffen.

Die Einführung religiöser, moralischer und metaphysischer Aspekte gab in der politischen Debatte Raum für alle möglichen argumentativen Kombinationen. Damit entfernte die US-Regierung sich nicht nur vom klassischen politischen Realismus, sondern letztlich vom Realitätsprinzip. Dem Journalisten Ron Suskind erzählte einer der engsten Präsidentenberater: „In der Welt gelten jetzt neue Regeln. Wir sind jetzt ein Imperium, und indem wir handeln, schaffen wir unsere eigene Wirklichkeit.“10

Die Anschläge des 11. September 2001 dienten als Beleg für das Scheitern früherer politischer Ansätze und zur Begründung einer neuen unilateralen Politik der „Prävention“. Der Einmarsch in den Irak galt nun als notwendig, um eine grundlegende Reform der arabisch-muslimischen Welt zu bewirken und die Landkarte des Nahen Ostens neu zu zeichnen – ganz nach dem Motto des Orientalisten Bernard Lewis, auf den man sich in Washington immer häufiger berief: „Die Araber verstehen nur die Sprache der Gewalt.“11

Im Weißen Haus glaubten viele, im Irak werde man die Amerikaner als Befreier begrüßen, das Land werde sich in eine weltliche, liberale Demokratie verwandeln und Frieden mit Israel schließen – als Vorbild für den Wandel in der islamischen Welt, das Schule machen würde. In einer Art Dominoeffekt werde es in der ganzen Region dank Wahlsiegen der gemäßigten Kräfte einen allgemeinen „Machtwechsel“ geben; und dann würde der Nahostkonflikt endlich beigelegt.

Die aktuelle militärische Offensive in Bagdad ist typisch für den Starrsinn eines Präsidenten, der die Forderung nach einem Truppenrückzug mit Truppenverstärkung quittiert – gegen jeden Widerstand und „sogar, wenn er dabei nur noch von First Lady Laura und Hund Barney unterstützt wird“.12 Natürlich gibt sich Bush konziliant: Er bittet, der neuen Strategie „eine Chance zu geben“, und betont, die Entsendung weiterer Truppen diene nur dazu, Bagdad sicherer zu machen und Zeit für einen Prozess der nationalen Versöhnung zu gewinnen. Nichts fürchtet er so sehr, wie ins politische Abseits gedrängt zu werden: Inzwischen hat er nicht nur die öffentliche Meinung und Teile des Militärs gegen sich, sondern auch ein Parlament, in dem die Demokraten über die Mehrheit verfügen.

Seit dem 11. Oktober 2002 konnte der Präsident als Oberkommandierender der Streitkräfte mit Billigung des Kongresses „alle ihm notwendig erscheinenden Maßnahmen zur Verteidigung der nationalen Sicherheit gegen die ständige vom Irak ausgehende Bedrohung ergreifen“. Angesichts seiner weitgehenden Interpretation dieser Ermächtigung, die nicht mehr rückgängig zu machen ist, fühlen sich inzwischen viele Abgeordnete unwohl. Sie warnen vor einem neuen Krieg – nunmehr gegen den Iran.

Das Regime in Teheran gilt noch immer als der Hauptfeind der USA, im Kongress, in der militärischen Führung und auch in der Öffentlichkeit. Insofern ist die Offensive im Irak auch ein idealer Vorwand für eine verschärfte Konfrontation mit dem Iran: Schließlich kann man Teheran, etwa wegen der Lieferung von Waffen, für den Tod von US-Soldaten verantwortlich machen.

Der Präsident könnte also gegenüber dem Kongress (und der ganzen Welt) geltend machen, er brauche keine erneute Vollmacht für einen Krieg gegen den Iran, weil es hier allein um das Recht auf Selbstverteidigung gehe. Im Falle einer solchen Eskalation blieben dem Kongress nur symbolische Misstrauensvoten ohne große Wirkung.

Am 16. Februar 2007 verabschiedete das Repräsentantenhaus nach viertägiger Debatte mit 246 gegen 182 Stimmen eine Entschließung, die sowohl eine Unterstützung der Streitkräfte wie eine Verweigerung weiterer Truppen für den Irak ausdrücken sollte. 17 republikanische Abgeordnete hatten mit der demokratischen Mehrheit gestimmt, nur 2 demokratische Abgeordnete dagegen. Tags darauf fand der Antrag, die Truppenverstärkung auch im Senat zu debattieren, zwar eine Mehrheit – 56 Senatoren, unter ihnen 7 Republikaner, waren dafür, 34 dagegen. Doch es fehlten 4 Stimmen, um eine Befassung mit der Resolution durchzusetzen.

Der Kampf zwischen Exekutive und Legislative hat gerade erst begonnen. Im März wird es um die Finanzierung der neuen Strategie gehen, wenn der Militärhaushalt bewilligt werden muss. Die Parlamentarier werden diese Budgetposten genau unter die Lupe nehmen und könnten eine Neuverschuldung etwa davon abhängig machen, ob einsatzbereite Truppen zur Verfügung stehen.

Zum Beispiel hört man bereits die Forderung, dass Soldaten zwischen zwei Einsätzen jeweils ein Jahr in der Heimat stationiert sein müssen. Der Kongress hat also die Hand am Geldhahn und könnte Präsident Bush auf diese Weise die schwerste Niederlage seiner Präsidentschaft beibringen: Wenn die US-Truppen aus dem Irak abziehen, wird sich die „Mission“, die er als seine bedeutendste politische Leistung versteht, endgültig als gescheitert erweisen. Laut General Petraeus (siehe unten) bleiben dafür nur sechs Monate Zeit.

Fußnoten:

1 Die Neokonservativen haben nicht ihre Stellungen geräumt. Elliot Abrams, ein maßgeblicher Regierungsberater für den Nahen Osten, ist heute stellvertretender Nationaler Sicherheitsberater. 2 Mike Allen und Romesh Ratnesar, „The End of Cowboy Diplomacy“, Time, 10. Juli 2006. 3 Siehe: www.usip.org/isg/iraq_study_group_re port/report/1206/index.html. 4 Siehe Sidney Blumenthal, „Shuttle without diplomacy“, Salon (www.salon.com), 11. Januar 2007. 5 Ein psychoanalytisches Porträt des Präsidenten liefert Justin A. Frank, „Bush auf der Couch: Wie denkt und fühlt George W. Bush?“, Gießen (Psychosozial-Verlag) 2004. 6 Zitiert nach: Bob Woodward, „Der Angriff“, München (DVA) 2004. 7 James A. Baker und Thomas M. DeFrank, „The Politics of Diplomacy: Revolution, War and Peace, 1989–1992“, New York (Putnam’s Sons) 1995. 8 James Mann, „Rise of the Vulcans: The History of Bush’s War Cabinet“, New York (Penguin) 2004. 9 Peter W. Galbraith, „The End of Iraq: How American Incompetence Created a War Without End!“, New York (Simon & Schuster) 2006, S. 83. 10 Ron Suskind, „Without a Doubt“, The New York Times Magazine, 17. Oktober 2004. Das Zitat stammt wahrscheinlich von Karl Rove. 11 Bryan Burrough, Evgenia Peretz, David Rose und David Wise, „The Path to War“, Vanity Fair, Mai 2004. Siehe auch: Alain Gresh, „Das Islam-Gen“, Le Monde diplomatique in der Beilage der Schweizer Wochenzeitung, August 2005. 12 Bob Woodward, „Die Macht der Verdrängung. George W. Bush, das Weiße Haus und der Irak“, München (DVA) 2007.

Aus dem Französischen von Edgar Peinelt

Ibrahim Warde ist Professor an der Fletcher School of Law and Diplomacy, Tufts University, Medford, Massachusetts, und Autor von „The Financial War on Terror“, London (I. B. Tauris) 2006.

Le Monde diplomatique vom 09.03.2007, von von Ibrahim Warde