Azungos und Mosambikaner
Über die Mühen eines jungen afrikanischen Staates von Colin Murphy
Mit Nikolausmütze auf dem Kopf und Trillerpfeife im Mund rennt ein Mädchen über den staubigen Weg, vor ihr eine Gruppe weißer Hauptstadtbewohner, deren Joggingstrecke durch dieses Elendsviertel von Maputo führt. An den Türen der Wellblechhütten tauchen die Slumbewohner auf und staunen über die Jogger, die ihre helle Haut in knappen Trikots zur Schau stellen. Die Weißen werfen Bonbons und Erdnüsse in Richtung der barfüßigen Kinder, die am Weg stehen und ihnen „Azungo“ zurufen.
In einer großen Pfütze am Straßenrand badet Amira ihre Kinder und wäscht deren Kleider. Wie es sich hier so lebt? „Es gibt kein Wasser. Es gibt keine Straßen – und wenn jemand ins Krankenhaus muss, gibt es Probleme.“ Und ist denn gar nichts besser geworden? „Etwas schon. Die Flut von 2000 hatte ja alles zerstört. Jetzt geht es wieder einigermaßen.“ Sie deutet resigniert auf ihre Wäsche und die drei Kinder, die im verdreckten braunen Wasser herumplanschen.
Weiter vorn biegt der Joggerpulk schon auf einen privaten Golfplatz ab, über den noch der alte Fußweg verläuft. Ich überlasse Amira ihrer Wäsche und laufe weiter, um die anderen einzuholen.
„Azungos sind immer weiße Menschen, von deiner Hautfarbe“, sagt Vitorinho Gusinho. „Alle Leute, die aus Europa kommen, die diese Hautfarbe haben, nennen wir Azungos. Ein Weißer, der in Mosambik geboren wurde, ist ein Mosambikaner, aber wir nennen ihn auch Azungo. Manchmal, wenn ein reicher Schwarzer sich dauernd mit den Mächtigen und mit Geschäftsleuten herumtreibt, dann zählen wir den auch zu den Azungos. Und weil wir Afrikaner immer unterentwickelt sind – viele kriegen kein regelmäßiges Essen –, nennen wir einen von uns, der ein Mittag- und ein Abendessen hat, eben auch einen Azungo.“ Und er lacht aus ganzem Herzen.
Ich brauche Minidiscs für meinen Recorder. Ich finde welche bei Tiger Video, einem dreistöckigen Elektroniksupermarkt an der Ecke Karl Marx Avenue / Ho Chi Min Avenue. Dort gibt es auch diese riesigen 50-Zoll-Flachbildfernseher für 8 000 Dollar. Jeden Monat geht einer über den Ladentisch, erzählt eine Verkäuferin, in Cash, versteht sich.
Als das Land noch von seinen Nüssen leben konnte
Paul Fauvet kam 1980 als Journalist nach Mosambik, um über den „Aufbau des Sozialismus“ zu berichten. Daraus wurde nichts, denn der junge Staat war in einen Krieg verwickelt, den die Apartheid-Regierung in Südafrika betrieben hat. Fauvet blieb und arbeitete für die staatliche Presseagentur. Seiner Rückkehr nach Großbritannien erging es so ähnlich wie dem sozialistischen Projekt: „Aufgeschoben“, sagt er trocken.
Die Infrastruktur des Landes wurde während des Krieges zerstört. Die Wirtschaft war bereits durch den überstürzten Abzug der Portugiesen angeschlagen, die vor der Unabhängigkeit von 1975 den größten Teil der Händler und höheren Berufsgruppen gestellt hatten. In den Jahren des Wiederaufbaus gab es zahlreiche Rückschläge. 1995 bewilligte die Weltbank einen 400-Millionen-Dollar-Kredit – unter der Bedingung, dass Mosambik den staatlichen Schutz seiner Cashew-Produktion aufgab, die zu den wichtigsten einheimischen Sektoren gehörte. Die ganze Branche brach zusammen. 2000 und 2001 wurde das Land dann von verheerenden Überflutungen heimgesucht.
Mosambik steht heute beim UN-Entwicklungsindex (Human Development Index, HDI), der wichtige Daten zur Armut und zur Gesundheitsversorgung in 177 Ländern erfasst, an 168. Stelle. In den letzten zehn Jahren konnte sich das Land um nur drei Plätze nach oben arbeiten. Und doch ist Paul Fauvet „einigermaßen optimistisch“. Er lässt Zahlen sprechen: Zwischen 1997 und 2003 ist der Anteil der Bevölkerung, die in Armut leben, von 69 auf 54 Prozent zurückgegangen. Zwar finanziert sich das Staatsbudget fast zur Hälfte aus der Auslandshilfe (400 Millionen Dollar), doch das Wirtschaftswachstum liegt stabil bei jährlich 8 Prozent. Der Tourismus boomt, und zahlreiche „Megaprojekte“ sind auf den Weg gebracht oder sogar schon fertiggestellt. Darunter eine riesige Aluminiumfabrik am Rande von Maputo, Erdgasanlagen, der Wiederaufbau der Zuckerindustrie und ein neuer Staudamm am Sambesi.
„Dieser Krieg war wie keiner zuvor“, schreibt der mosambikanische Schriftsteller Mia Couto in seinem Roman „Das schlafwandelnde Land“.1 „Das Chaos, das damals herrschte, war unvergleichbar. So schlimm waren nicht mal die früheren Kriege, in denen Sklaven gestohlen und dann an der Küste weiterverkauft wurden.“
Wenn einer die Traktoren reparieren könnte
Tom Wright ist Leiter des Landesbüros der Hilfsorganisation Concern Worldwide in Maputo. Der ehemalige Diplomat erinnert sich: „Vor zwanzig Jahren gab es überall in Afrika Traktoren. Damals galt eine ganz simple Rechnung: Man schafft einen Traktor an, also kann man mehr Land pflügen, also kann man mehr Lebensmittel produzieren, was weniger hungrige Menschen bedeutet. Aber zwanzig Jahre später findest du überall kaputte Traktoren, weil sie niemand reparieren kann und es keine Ersatzteile gibt.“
„Und dann diese handbetriebenen Wasserpumpen. Es ist so verdammt simpel. Ich habe überall in Afrika kaputte Wasserpumpen gesehen. Da fehlten nicht etwa Ersatzteile wie Dichtungen oder Ventile, nein, sie waren einfach außer Betrieb, weil keiner das nötige Werkzeug hatte. Dabei kann man die passenden Schraubenschlüssel durchaus kriegen, in der nächsten Stadt. Aber den Gemeinden fehlt dafür zumeist das Geld. Wenn man dann heute vorbeischaut und sagt: ‚Wir waren uns doch einig, dass es für die Pumpen eine Kasse für Instandhaltungskosten geben soll‘ – tja, dann ist der Kassenwart meist schon über alle Berge … Wer nur einmal hinfährt, ihnen eine Handpumpe aufstellt und zeigt, wie man sie instand hält, der hat noch nicht viel erreicht: Man muss wieder und wieder und dann eben noch mal zurückkommen.“
„Wir machen immer noch Fehler, aber wir werden immer besser. Dabei ist Entwicklungshilfe keine einfache Sache, im Gegenteil, sie ist ausgesprochen kompliziert. Man muss sehr geduldig sein, muss sich auf das Tempo der Leute einlassen, mit denen man arbeitet, und man kann die Veränderungen nicht erzwingen. Wenn wir den Menschen ihre Eigenständigkeit zurückgeben, wenn wir ihr Selbstbewusstsein stärken wollen, müssen wir uns auf ihre Geschwindigkeit einlassen.“
Der Elternrat tagt in einer großen Halle, vor langer Zeit war das hier eine katholische Kirche: Von den Wänden bröckelt der Putz, man hat freien Himmel über sich, das Wellblechdach deckt nur ein Drittel ab. Hier sitzt die Verwaltung der örtlichen Schule. Als Klassenräume dienen ein paar Hütten auf demselben Gelände, die Wände sind aus Palmhölzern, die Dächer aus geflochtenen Kokoswedeln. Die Balken, die das Ganze zusammenhalten, sind aus Palmstämmen gezimmert. In der überdachten Ecke des Schuppens lagert Unterrichtsmaterial: zerfledderte Schulbücher, neue Tafeln, eine kleine Sammlung von Tongefäßen, in einem Töpferkurs entstanden, ein paar Tische und Stühle, ein Hefter, ein Taschenrechner, eine Uhr, ein großes Poster, das den Blutkreislauf des Menschen zeigt, und ein paar Matten.
Die Ratsmitglieder sitzen auf einer langen Bank. Als die Sonne weitergewandert ist, stehen sie auf und rücken die Bank in den Schatten. Sr Mwinga, der Ratsälteste, hält eine Rede, weitschweifig, ernst und wortgewandt: „Früher hatten die Eltern nichts zu sagen, wenn es um die Belange der Schule ging. Das Sagen hatten die Lehrer. Heute ist es umgekehrt. Die langfristige Orientierung und Leitung liegt beim Rat.“
Dann spricht er über die Schulanlage: Dies ist die „Mutterschule“, einst von den Kapuzinermönchen gegründet, die in den 1940er-Jahren herkamen. Und doch sitzen sie hier in einem Gebäude, das nur zu einem Drittel überdacht ist, und die Klassenräume befinden sich in Hütten. Warum also nicht gleich eine neue Schule bauen?
In einem Nachbarort wird gerade eine neue Schule fertig. Von Surayas Haus aus kann man sie gut sehen. Suraya hält den Bau dieser Schule für eine gute Sache. Sie selbst ist nach der achten Klasse abgegangen, hat mit 16 geheiratet und gleich ein Kind bekommen. Inzwischen ist ihr Ehemann Alkoholiker geworden, und sie will wieder zur Schule und ihren Abschluss nachholen.
Ihr Haus ist aus nacktem Lehm und ohne Fenster, das Dach besteht aus Blattgeflecht. Der kleine Eingangsbereich geht in einen schmalen Flur über, von dem zwei Schlafzimmer abgehen. Dort fällt mein Blick auf ein batteriebetriebenes Radio, eine Flasche, ein paar Eimer; ein Topf mit Wasser, eine Matte, zwei pickende Hühner, ein Wandposter mit der Geschichte von Mosambik, eine Kleiderkiste, zwei gemachte Betten mit Moskitonetzen darüber, eine Hacke. Der Brunnen ist zwar nicht weit weg, aber sie klagt, dass man da immer so lang in der Schlange warten muss. Sie lacht, als ich frage, ob sie elektrischen Strom haben. Und dann meint sie: „Mosambik macht sich. Es gibt auf einmal Dinge, die wir vorher noch nie gesehen haben, höchstens die Alten, die längst tot sind, aber ich hab das vorher nie gesehen. Schöne Dinge. Wo vorher nichts war, entstehen Schulen, Krankenhäuser, Verwaltungsgebäude.“
Was wünscht sie sich für ihre Kinder? „Wir werden sehen. Nur Gott weiß, was passieren wird. Heute sterben immer so viele Menschen. Ich weiß nicht, ob meine Kinder es schaffen, ob ich sie groß werden sehe. Wenn ja, wünsche ich mir für sie eine gute Zukunft.“
Binda arbeitet in einer Botschaft, mit seinen dichten Dreadlocks unter der Mütze sieht er ein bisschen aus wie der legendäre mosambikanische Rastamusiker Jah Bee: „Entwicklung bedeutet für mich Frieden und Brot auf dem Tisch, für alle. Mit ‚Brot‘ meine ich nicht unbedingt Brot als solches, sondern was immer ein spirituelles Gefühl von Frieden zwischen den Menschen stiftet … Frieden, die Hoffnung auf eine gute Ernte, Arbeit auf den Feldern, und die Möglichkeit zu produzieren, so dass man etwas zu essen hat und die Grundbedürfnisse gesichert sind. Das alles könnte uns helfen, mit erhobenem Haupt durchs Leben zu gehen und wieder mehr über unsere eigene Kultur zu erfahren, statt immer nur von anderen abhängig zu sein.“
Um zwei Uhr morgens ist Highlife in Maputos Baixa-Distrikt. Die erste Bar ist ein Pole-Dancing-Club, gerammelt voll. Die zweite Bar ist fast leer – ein paar Billard spielende Jungs, ein paar gelangweilte Nutten, ein Pierce-Brosnan-Film auf einer großen Leinwand. Die dritte Bar ist das Central, hier sind wir richtig: kein Pole-Dancing, keine herumhurenden Exportugiesen, nur junge Leute, die sich amüsieren. Ich tanze mit einem einheimischen Mädchen. Sie ist freundlich, schüchtern. Nach dem Tanz zieht sie sich mit einer Entschuldigung zurück.
„Die gehen alle auf den Strich, Mann“, sagt mein Freund John, als wir gehen. „Das ist ein einziger Schwindel. ‚Ich bin ein gutes Mädchen‘ heißt die Nummer.“ Draußen erklärt der Türsteher, wie es läuft: Hinten gibt es eine Tür, durch die man mit den Mädchen geht. Der Mann hinter der Tür schickt einen in einen Raum im oberen Stockwerk. Für 20 Dollar. „Alle Mädchen da drin?“, fragt John. „Alle“, sagt der Türsteher. Die Frauen in Maputo nennen es „unser täglich Brot“. In Anspielung auf das Vaterunser.
Im April 2006 gab die britische Hilfsorganisation DFID ein Gutachten über das politische Konfliktpotenzial in Mosambik in Auftrag. Darin heißt es: „Mosambik hat zwar theoretisch ein Mehrparteiensystem, doch das Land wird von einer oligarchischen Gruppe innerhalb der Regierungspartei kontrolliert, die sich die Unterstützung der Leute mittels Patronage erkauft. Das Geld dafür kommt vor allem aus der Entwicklungshilfe. Eine baldige Einstellung oder Reduzierung der Hilfsgelder könnte jedoch genau den Schock auslösen, der die Konflikte voll ausbrechen lassen würde. Würde man andererseits die gegenwärtige Auslandshilfe einfach weiterlaufen lassen, würde das die grundlegenden Probleme des ganzen Herrschaftssystems noch verschärfen. Aber weil Mosambik unter den Geberländern als Erfolgsstory gilt, werden womöglich immer mehr Hilfsgelder fließen, ohne dass dass jemand prüft, was mit dem Geld passiert. Damit könnte sich das Patronagewesen weiter ausbreiten, die Konkurrenz unter den ‚raffgierigen Elementen‘ würde weiter verschärft, was wiederum das Leid der Armen verschlimmern würde. Mosambik ist eben in vieler Hinsicht noch ein ‚fragiler Staat‘.“
Vielleicht ist Mosambik doch stärker, als die Leute glauben
„Er ist überhaupt nicht fragil, im Gegenteil, er ist stark und wird immer stärker.“ Tom Wright passt das Fazit des DFID-Report nicht: „Das ist wie mit dem halb vollen und dem halb leeren Glas. Natürlich kann man an allem herummäkeln, was die Regierung tut – aber man darf nicht vergessen, dass hier das Potenzial fehlt, das sogar viele andere Staaten Afrikas schon haben. Mosambik ist ein relativ junges Land, der Bürgerkrieg ist gerade mal vierzehn Jahre vorbei …“
Das Gil Vicente ist eine coole moderne Bar, ihre Live-Musik-Abende sind berühmt. Als wir hereinkommen, macht die Band gerade Pause. Ein Bildschirm senkt sich von der Decke, und plötzlich steht er über der Bar – Bono in Lebensgröße.
„Dies ist nicht nur ein amerikanischer Traum. Oder ein europäischer oder ein asiatischer Traum. Es ist auch ein afrikanischer Traum …“ Hinter ihm erscheint der Umriss des afrikanischen Kontinents, das Logo des Roten Kreuzes, die Flaggen der Länder Afrikas vor einem gleißenden Lichtvorhang, und Bono singt: „I want to run, I want to hide, I want to tear down the walls that hold me inside …“ Eine Frau mit Bandana taucht auf, ihre weißen Hotpants schimmern rosa im fluoreszierenden Licht, dann hebt sie einen Arm und winkt in die Runde. „Ehrlich gesagt: Asien gefällt mir besser“, meint einer meiner Kollegen.
Fußnote:
1 Mia Couto, „Das schlafwandelnde Land“, Frankfurt am Main (dipa-Verlag) 1994.
© Le Monde diplomatique, London
Aus dem Englischen von Elisabeth Wellershaus
Colin Murphy ist Journalist und lebt in Dublin. Er befasst sich vor allem mit Fragen der Migration und Entwicklungspolitik.