Das Ende der chinesischen Geduld
Die Proteste chinesischer Bürger werden zahlreicher und mutiger. Auch die Führung in Peking reagiert inzwischen flexibler – zumindest solange das Machtmonopol der KP nicht in Frage gestellt wird von Sven Hansen
In den Morgenstunden des 18. Januar 2007 dringen mehrere Hundertschaften der Volkspolizei in das Dorf Sanshan in der Provinz Guangdong ein und räumen ein Camp protestierender Bauern. Laut Augenzeugenberichten1 setzen die Polizisten wahllos Schlagstöcke ein. Zelte werden zerstört und Transparente abgerissen einschließlich eines Porträts von Mao Tse-tung. Mehr als vierzig Menschen werden festgenommen.
Mit dem Camp protestierten Bauern gegen die Landnahme der Behörden. Die hatten den Bauern die 26 Hektar große Fläche weggenommen und an einen US-Logistikkonzern verkauft. Die Bauern klagen, sie seien viel zu gering oder gar nicht entschädigt worden. Nach Auskunft ihres Anwalts sind die Enteignungen gesetzeswidrig und ohne Genehmigung höherer Stellen erfolgt. Dabei geht es gar nicht um Enteignung im juristischen Sinne – in China gibt es keinen privaten Grundbesitz –, sondern um die vorzeitige und gering entschädigte Kündigung langfristiger Bodennutzungsrechte und um deren Verkauf an einen ausländischen Investor. Dafür wird Acker- in Industrieland umgewandelt. Lokalbehörden und lokale Kader machen das äußerst lukrative Geschäft und profitieren nicht selten persönlich von Korruptions- und Bestechungsgeldern.
Bereits im Mai 2005 hatten laut einem Hongkonger Medienbericht 4 000 Polizisten in Sanshan die Ernte auf den Feldern vernichtet, um die Enteignungen durchzusetzen. Die umstrittenen 26 Hektar Land sind nur ein Teil der insgesamt 1 200 Hektar, deren Umwandlung in Industrieland die Behörden gegen den Willen der Bauern beschlossen hatten.
Der Konflikt in Sanshan zeigt beispielhaft die alltäglichen Landkonflikte im heutigen China. Manche ziehen sich über Jahre hin und werden mit aller Härte ausgetragen. So nahmen im Dorf Dongzhou, ebenfalls in Guangdong, verzweifelte Bauern im Dezember 2006 acht Beamte mehrere Tage lang als Geiseln. Vorausgegangen war die Festnahme eines dörflichen Aktivisten. In dem Dorf waren zuvor mindestens drei Bauern von der Polizei erschossen worden, als diese gewaltsam 10 000 Demonstranten auseinandertrieb. Die Bauern hatten ebenfalls gegen zu niedrige Entschädigungen protestiert.
Im Dorf Shengyou (Provinz Hebei) heuerten im Juni 2005 lokale Kader eigens 300 Schläger an. Sie griffen die Bauern, die gegen den Bau einer Fabrik auf ihren Feldern protestierten, brutal an. Sechs Bauern wurden getötet, mehr als fünfzig schwer verletzt. Weil jemand den Angriff filmte und im Internet veröffentlichte, verloren in diesem einen Fall die verantwortlichen Kader sogar ihre Posten.
Ein Vizeminister in Peking räumte kürzlich ein, dass Landnutzungskonflikte die Ursache für die Hälfte aller Proteste in ländlichen Gebieten seien. Schätzungen zufolge seien bis 2010 etwa 15 Millionen chinesischen Bauern wegen Landumwandlung von Vertreibung bedroht. Weitere 30 Prozent der bäuerlichen Proteste machen sich an Korruption und Zweckentfremdung öffentlicher Mittel fest, die restlichen 20 Prozent wenden sich gegen Umweltverschmutzung.2
Die steigende Zahl der Massenproteste stellt die größte Gefahr für die Stabilität des Landes dar, warnte Ende letzten Jahres die amtliche Nachrichtenagentur Xinhua.3 Die Agentur, die der KP-Propagandaabteilung untersteht, erwähnt Proteste sonst nur selten. Nach offiziellen Angaben stieg die Zahl öffentlicher Proteste landesweit von 8 700 im Jahr 1993 auf 87 000 in 2005. In jeder Provinz kommen im Schnitt auf jeden Tag über sieben Protestaktionen. 2004 sollen landesweit 3,7 Millionen Menschen teilgenommen haben gegenüber 700 000 im Jahr 1993.
Vorfälle mit Massencharakter
Die offiziellen Zahlen der chinesischen Führung sind natürlich mit Vorsicht zu genießen. Auch ihre Erfassungskriterien sind alles andere als transparent. Doch am alarmierenden Trend besteht kein Zweifel. Für die erste Jahreshälfte 2006 wird dagegen erstmals ein Rückgang auf 39 000 „Vorfälle mit Massencharakter“ gemeldet. Das sind für Xinhua immer noch genug, um warnend darauf hinzuweisen, dass die Führung in Peking zunehmend an ihrem Umgang mit Protesten gemessen werde.
„Ein Grund für die vielen Proteste ist, dass die Menschen keine Gerechtigkeit erfahren. Denn unsere Gerichte haben sich gegenüber der Regierung und nicht gegenüber der Bevölkerung zu verantworten,“ meint der bekannte Pekinger Umweltaktivist Wen Bo. Auch mische sich die Regierung in die Verfahren ein, indem sie beispielsweise in bestimmten Fällen das Strafmaß von vornherein festlege.
Zu öffentlichen Protesten oder gar Straßen- und Eisenbahnblockaden kommt es meist erst dann, wenn alle anderen Mittel ausgeschöpft und die Betroffenen völlig verzweifelt und mit ihrer Geduld am Ende sind. Parallel zum Anstieg der Proteste stieg auch die Zahl der Petitionen, Zivilklagen und Arbeitsprozesse.5 Auch bemühen sich Demonstranten um Rückendeckung durch die Medien. Die dürfen jedoch oft gar nicht berichten oder höchstens die offizielle Sicht verbreiten. In Zeiten von Internet und Handy, die zur Organisation der Proteste eingesetzt werden, lässt sich jedoch kaum noch verhindern, dass Informationen kursieren.
Ein Problem für die Regierung sind auch Proteste unzufriedener Arbeiter. Sie demonstrieren gegen Entlassungen, zu geringe Abfindungen oder nicht gezahlte Löhne. Von der offiziellen Gewerkschaft, die der Partei als Kontrollorgan dient, können Arbeiter keine Hilfe erwarten. Allein von 1999 bis 2004 wurden bei der Reform von Staatsbetrieben 27,8 Millionen Arbeiter „freigesetzt“, in den letzten beiden Jahren dürften weitere 6 Millionen dazugekommen sein.4 2002 kam es in Nordostchina im sogenannten Rostgürtel mit seinen maroden Schwerindustriekombinaten mehrfach zu größeren Arbeiterdemonstrationen mit zehntausenden Teilnehmern.
In den letzten Jahren nahmen die Arbeiterproteste wieder ab und konzentrierten sich nur noch auf einzelne, hauptsächlich private Betriebe. Dort wie in den Sonderwirtschaftszonen arbeiten viele der rund 150 Millionen Wanderarbeiter. Sie sind weitgehend rechtlos, bekommen oft ihre Löhne nicht ausbezahlt und müssen ihre Arbeit unter elenden Bedingungen verrichten. „Die Regierung ist etwas toleranter gegenüber Arbeiterprotesten in der Privatindustrie, weil sich diese zunächst gegen die Arbeitgeber und nicht wie in den Staatsbetrieben direkt gegen lokale Kader richten,“ meint May Wong von Globalization Monitor. Diese in Hongkong ansässige Organisation analysiert die Arbeitsbedingungen in chinesischen Weltmarktfabriken und unterstützt die Beschäftigten bei der Gründung unabhängiger Interessenvertretungen.
Die Protestwelle hat längst auch Angehörige der Mittelschicht erfasst. So demonstrierten im Oktober 2006 hundert ehemalige Angestellte der staatlichen Industrial and Commercial Bank of China (ICBC) am Tag vor deren Börsengang, der ein Volumen von 21,9 Milliarden US-Dollar umfasste – der weltweit größte Börsengang aller Zeiten. Die Demonstration für höhere Abfindungen vor einem Gewerkschaftsbüro löste die Polizei jedoch schnell auf.6
Selbst Käufer von luxuriösen Eigentumswohnungen und Villen machen, wenn sie sich von Immobilienfirmen betrogen fühlen, ihrem Ärger inzwischen öffentlich Luft. So haben Mitte Januar 2007 etwa hundert Villenbesitzer der Pekinger Greenwich-Siedlung aus Protest gegen die schlechte Bauausführung Transparente an ihre Häuser und Autos gehängt.7
Proteste, aber keine Bewegung
Auch Studenten, die bei der 1989 niedergeschlagenen Demokratiebewegung die treibende Kraft waren, gehen heute wieder auf die Straße. So in der südlichen Provinz Jiangxi und in Schanghai: Dabei ging es um die Frage der Anerkennung von Abschlüssen privater Hochschulen. Bei Protesten mit 8 000 Teilnehmern an zwei privaten Hochschulen nahe Nanchang, der Hauptstadt von Jiangxi, kam es zu Ausschreitungen auf dem Campus. Nachdem die Regierung in Peking auf den Fall aufmerksam geworden war, verhinderte ein massives Polizeiaufgebot neue Proteste.8
Schon geringfügige Anlässe können Proteste auslösen und, bedingt durch das hohe Maß an Unzufriedenheit, eskalieren. So kam es Ende 2004 in einem Dorf in der Provinz Henan nach einem Verkehrsunfall, an dem ein Angehöriger der muslimischen Hui-Minderheit und ein Han-Chinese beteiligt waren, fünf Tage lang zu ethnischen Auseinandersetzungen mit mehreren Toten. Die Unruhen konnten erst mit drastischen Maßnahmen des lokalen Kriegsrechts niedergeschlagen werden.
Im November 2006 starb ein kleiner Junge, der Pestizide geschluckt hatte, in einem Krankenhaus in Sichuan. Als der Großvater ihn ins Krankenhaus brachte, verlangten die Ärzte angeblich zuerst eine Vorauszahlung, die er jedoch nicht leisten konnte. Während der Großvater Geld aufzutreiben versuchte, starb der Junge. Daraufhin versammelte sich spontan eine aufgebrachte Menge von 2 000 Menschen, die im Krankenhaus randalierte.
Beobachter sind sich einig, dass die Proteste größer, häufiger, weiter verbreitet, länger anhaltend und gewalttätiger sind als noch vor einigen Jahren.9 Nach wie vor jedoch machen sie sich vor allem an lokalen Ereignissen fest. So suchen demonstrierende Bauern bisher offenbar weder den Kontakt zu anderen Bauern, die andernorts protestieren, noch kooperieren sie mit Arbeitern oder Studenten. Und protestierende Arbeiter aus Staatsbetrieben kooperieren nicht mit Wanderarbeitern.
Als Hauptursache für Proteste gilt die zunehmend ungerechte Einkommensverteilung, insbesondere die wachsende Kluft zwischen Land und Stadt. Zwar sind auch die ländlichen Einkommen im Schnitt der letzten Jahre gestiegen, aber viel langsamer als in den Städten, wo inzwischen im Schnitt das Sechsfache verdient wird. Der Gini-Koeffizient, ein international anerkannter Gradmesser für die Ungleichheit von Gesellschaften8 , beträgt in China inzwischen 0,47. 1978 hatte er noch bei 0,27 gelegen. Die als besorgniserregend geltende Schwelle von 0,40 wurde 2000 überschritten.
Und doch richten sich die Proteste fast ausschließlich gegen lokale Kader und Behörden. „Es bleibt unrealistisch, öffentliche Demonstrationen gegen politische Maßnahmen der Zentralregierung zu organisieren,“ meint Lo Sze Ping, der bei Greenpeace China in Peking die Kampagnenabteilung leitet. Nichtregierungsorganisationen müssten ihre Kritik konstruktiv anbringen, damit sie Wirkungen erzielen, erklärt Lo. Beispielsweise sei es nützlich, die Zentralregierung in Peking davon zu unterrichten, dass ihre Umweltgesetze in einer bestimmten Provinz missachtet werden, um sich gegen die Interessen lokaler Regierungen und Firmen durchzusetzen.
Tabu ist nach wie vor jeglicher Protest auf dem zentralen und symbolischen Tiananmen-Platz in Peking. Als 2004 ein Petitionssteller dort eine Kundgebung mit 10 000 weiteren Petitionsstellern aus dem ganzen Land anmelden wollte, wurde er umgehend wegen „Unruhestiftung“ verhaftet. Auch jede Aktion der Sekte Falun Gong wertet die KP als Provokation. 1999, noch vor ihrem Verbot, waren 10.000 schweigende Anhänger der Sekte ins Regierungsviertel gezogen und hatten die KP in Schrecken versetzt.
Die Regierung behält sich weiterhin das Recht vor, zu entscheiden, welche Proteste sie duldet und welche nicht. Doch reagiert sie inzwischen flexibler auf Demonstrationen und setzt nicht nur auf Repression. Nicht selten haben in der Vergangenheit Polizei und Behörden durch drastische Maßnahmen Proteste erst angeheizt. Jetzt sind die Behörden eher gesprächs- und sogar verhandlungsbereit, was allerdings nicht ausschließt, dass sie anschließend ihre Gesprächspartner als Rädelsführer festnehmen lassen.
Die bisherigen Proteste bedrohen die Macht der KP nicht unmittelbar. Das liegt an der organisatorischen Schwäche und fehlenden Vernetzung der Protestierenden sowie daran, dass sie keine übergreifende Agenda haben. Das allerdings könnte sich bei einer schweren nationalen Krise ändern, zumal wenn sich auch die bisher vom Regime erfolgreich kooptierten Intellektuellen oder Angehörigen der Mittelschicht stärker beteiligen würden. Dann könnten die Proteste sich auch auf die Außenpolitik der chinesischen Führung auswirken. Das hieße entweder, dass die Regierung, um die Probleme im Inneren lösen zu können, mehr Wert auf außenpolitische Stabilität legen muss. Oder dass sie sich, um von den inneren Problemen abzulenken, auf außenpolitischen Abenteuer einlässt.
Die jetzige Staats- und Parteiführung unter Hu Jintao hat bereits mehrfach ihre Besorgnis über die wachsende Proteste und die soziale Schieflage geäußert und auch verschiedene Maßnahmen angekündigt, um gegenzusteuern. Besonders für die Bauern wurde mit der Abschaffung der Agrarsteuer und der verbesserten Kontrolle der Landumwandlungen einiges getan. Nicht zuletzt mit dem Konzept der „harmonischen Gesellschaft“ will die Führung zeigen, dass sie sich der sozialen Probleme bewusst und um Ausgleich bemüht ist. Doch stören Proteste, so die weitere Botschaft, eben auch die Harmonie.
„Es ist offensichtlich, dass die Führung unter Hu Jintao nicht nur mit Repression arbeiten kann“, sagt Wong von Globalization Monitor. „Deshalb hat sie kleine Zugeständnisse gemacht. Doch niemand weiß, ob die Reformen auf den unteren Ebenen wirklich umgesetzt werden. Denn dort herrschen lokale Kader, die nicht von der Öffentlichkeit kontrolliert werden. Erst wenn es Bürgerrechte und politische Freiheiten gibt, kann die Bevölkerung ihre Rechte gegenüber skrupellosen Kadern und Beamten durchsetzen.“
Chinas Staats- und Parteiführung versucht dagegen im Interesse der Aufrechterhaltung ihres Machtmonopols die Regierung und Verwaltung effizienter zu machen – ohne grundlegende politische Reformen. Als Folge werden lokale Kader, auf die das Regime ja angewiesen ist, stärker kontrolliert und die Medienzensur verstärkt.
Fußnoten:
Sven Hansen ist Asienredakteur der tageszeitung (taz) in Berlin.
© Le Monde diplomatique, Berlin
Le Monde diplomatique nimmt am Zeitschriftenprojekt Documenta 12 magazines teil.