09.03.2007

Präzedenzfall für Bosnien

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Präzedenzfall für Bosnien

Den Spruch hört man immer wieder: „Der Zerfall Jugoslawiens hat im Kosovo begonnen und wird dort auch enden.“ Tatsache ist, dass Slobodan Milosevic das Thema Kosovo in den 1980er-Jahren immer wieder als Vehikel für seine politische Karriere benutzt hat. Doch ist die Unabhängigkeit des Kosovos wirklich, wie man in gewissen diplomatischen Kreisen verbreitet, „das letzte fehlende Teilchen im Balkan-Puzzle“? Nach dieser Einschätzung wäre damit die Ära des Zerfalls und der Abspaltungen endlich abgeschlossen. Doch nichts ist ungewisser.

Sowohl bei der Auflösung der UdSSR als auch bei der Jugoslawiens galt das Prinzip: Teilrepubliken (wie etwa Montenegro) hatten die Möglichkeit, unabhängig zu werden, einfache Provinzen dagegen nicht, und zwar selbst dann nicht, wenn sie Autonomiestatus hatten (wie das Kosovo, aber auch wie Tschetschenien oder Abchasien). Die Unabhängigkeit des Kosovo würde also eindeutig einen völlig neuen Präzedenzfall schaffen.

Aus russischen Diplomatenkreisen ist daher seit Monaten zu hören, dass die Kosovo-Frage nur anhand allgemeingültiger Prinzipien entschieden werden dürfe: Wenn die Unabhängigkeit des Kosovos anerkannt werde, warum dann nicht die Transnistriens (das sich von Moldawien abspalten und der Russischen Föderation beitreten will). Die Verfechter der Unabhängigkeit des Kosovos halten dem entgegen, das Kosovo sei ein „Sonderfall“. Doch warum das so sein soll, konnten sie bislang nicht überzeugend darlegen. Verschiedene Staaten fürchten, dass die Unabhängigkeit des Kosovos einen Dominoeffekt auslösen könnte. So ist etwa das EU-Mitglied Spanien ganz entschieden gegen die Sezession, weil man in Madrid sofort an das Baskenland und an Katalonien denkt. Ganz ähnlich reagiert man in Rumänien – mit Blick auf die ungarische Minderheit in Siebenbürgen.

Die Position Russlands hat sich in den vergangenen Monaten verhärtet. Nach allgemeiner Einschätzung erklärt sich dies damit, dass Moskau seine neue Stärke auf der internationalen Bühne demonstrieren will. Im Kreml lehnt man jede Kosovo-Lösung ab, die nicht von beiden Seiten akzeptiert wird. Die gern zitierte „Brüderschaft“ zwischen den beiden slawisch-orthodoxen Ländern Russland und Serbien dürfte dabei die geringste Rolle spielen. Viel entscheidender ist der Wille Putins, dem Westen seine harte Entschlossenheit zu demonstrieren – wie etwa in seiner Rede gegen die „amerikanische Hegemonie“ auf der Münchner Sicherheitskonferenz vom 10. Februar.

Auf regionaler Ebene würde die Unabhängigkeit des Kosovos gewisse Konsequenzen für Bosnien-Herzegowina haben. Führende Politiker der Republika Srpska, der „serbischen Einheit“ des noch immer geteilten Landes, weisen immer wieder darauf hin, dass die Unabhängigkeit des Kosovos einen Präzedenzfall schaffen und ihre eigenen sezessionistischen Ambitionen legitimieren würde. Auch aus Belgrad sind ähnliche Töne zu hören. Doch der angedeutete „Tauschhandel“ – ein unabhängiges Kosovo gegen eine eigenständige Republika Srpska, die eine Föderation mit Serbien eingehen kann – ist nur schwer vorstellbar.

Die ganze Situation ist auch deshalb so gefährlich, weil Bosnien-Herzegowina politisch immer noch in der Sackgasse steckt. Alle Versuche, die noch auf dem Dayton-Vertrag beruhende Verfassung zu reformieren, sind gescheitert. Und während die Parteien der Bosniaken und der Kroaten immer noch zerstritten sind, konnte Milorad Dodik, Ministerpräsident der Republika Srpska, das serbische Lager zusammenhalten. Seine Partei, die Unabhängigen Sozialdemokraten (SNSD), hat in der Republika Srpska mehr als 50 Prozent der Stimmen erhalten und alle Machtzentren in Banja Luka im Griff. Die SNSD ist inzwischen auch auf gesamtbosnischer Ebene die stärkste Partei. Im Wahlkampf hatten die serbischen Sozialdemokraten für die Republika Srpska das Recht gefordert, in einem Referendum über ihren eigenen Status abzustimmen. Interessant ist dabei, dass der Chef der SNSD seine politische Karriere, die erst nach dem Krieg begonnen hat, vor allem US-amerikanischer Unterstützung verdankt. Angesichts dessen hatte man Dodik wie selbstverständlich als „gemäßigten“ Politiker“ dargestellt.

Eine Weiterentwicklung des Status des Kosovos wird zweifellos auch Konsequenzen für alle albanisch geprägten Gebiete der Region haben. Es gibt albanische Stimmen, die eine mögliche Unabhängigkeit des Kosovos bereits als „historische Wiedergutmachung“ betrachten: Man stehe kurz davor, die historische Zerstückelung der albanischen Nation durch die Großmächte, insbesondere im Zuge der Auflösung des Osmanischen Reichs, wieder rückgängig zu machen. Damit steht auch die nationale albanische Frage wieder auf der Tagesordnung – und zwar trotz der formellen Garantien, die im Ahtisaari-Plan festgeschrieben sind und die es dem Kosovo verbieten, territoriale Ansprüche zu erheben oder sich mit einem seiner Nachbarstaaten zu vereinigen.

Mazedoniens Regierung hält es für besser, die Zukunft des Kosovos möglichst schnell zu klären – aus Angst vor Rückwirkungen auf das eigene Land, das sechs Jahre nach dem Abkommen von Ohrid zwischen der Regierung und der albanischen Guerilla noch immer instabil ist. Denn niemand weiß, wie groß die Anziehungskraft eines unabhängigen Kosovos für die Albaner Mazedoniens sein wird, die im Nachbarstaat ein Viertel der Bevölkerung ausmachen.

Auch das Presevo-Tal im Süden Serbiens lässt der Ahtisaari-Plan bewusst unerwähnt. Hier leben etwa 100 000 Albaner, die ihre Heimat „das östliche Kosovo“ nennen und nach wie vor vom Anschluss an ein unabhängiges Kosovo träumen. Den Glauben, dass ein Problem verschwindet, wenn man es nicht mehr erwähnt, bezeichnet man üblicherweise als Vogel-Strauß-Politik.

Letztlich kann man die Kosovo-Frage nur zufriedenstellend lösen, wenn man sie im Zusammenhang mit den beiden großen, noch ungelösten nationalen Fragen der Balkanregion betrachtet: der albanischen und der serbischen. Für beide Probleme, die zu tabuisieren zwecklos ist, gibt es nur zwei Lösungsansätze: Entweder entschließt man sich zu Grenzverschiebungen, was aber zwangsläufig zu neuen Konflikten oder gar einem neuen Krieg führt; oder man setzt auf die – möglichst rasche – europäische Integration der gesamten Region. Die zweite Strategie hieße, dass Grenzen in ihrer Bedeutung relativiert werden und mit der Zeit ganz verschwinden.1 Jean-Arnault Dérens

Fußnote:

1 Siehe Jean-Arnault Dérens und Laurent Geslin, „Serbischer Phantomschmerz“ und „Großalbanische Fantasien“, Le Monde diplomatique, Juli 2006.

Le Monde diplomatique vom 09.03.2007, von Jean-Arnault Dérens