Eine Milliarde T-Shirts im Jahr
Für die Textilarbeiterinnen in Bangladesch stehen die Rechte nur auf dem Papier von Yasmina Hamlawi
Klapprige Fahrräder, Kleinlaster, auf denen sich die Stoffballen türmen, übervolle Busse und Motorradfahrer, unterwegs mit Kind und Kegel: Tag und Nacht rollt der Verkehr über die einzige Straße, die von Bangladeschs Hauptstadt Dhaka in den Norden des Landes führt. Am Rand der schlecht gepflasterten Nationalstraße 3 sind lauter Frauen und Mädchen zu Fuß unterwegs; ihr gleichmäßiger Schritt erinnert an eine religiöse Prozession. Hin und wieder schert eine Gruppe aus und verschwindet in Richtung einer Kleiderfabrik.
Drei Millionen Menschen machen sich jeden Morgen auf den Weg in eine der 4 000 Fabriken im Industriegürtel von Dhaka. Die meisten sind Frauen: Näherinnen oder Schneiderinnen, Zuschneiderinnen oder Lageristinnen. Die großen Handelsfirmen und Textilmarken aus dem Westen haben keine eigenen Fabriken: Wal-Mart, H & M, Tommy Hilfiger, GAP, Levi Strauss, Zara, Carrefour, Marks & Spencer und viele andere lassen ihre Ware von billigen Arbeitskräften in Bangladesch direkt oder über Zulieferfirmen produzieren.
Der Textilsektor, der wenig Investitionen braucht und vor allem auf menschlicher Arbeitskraft beruht, ist eine der ökonomischen Säulen Ostasiens. In zahlreichen Ländern der Region begann das Industriezeitalter mit der Herstellung von Kleidern. In Bangladesch begann es Ende der 1970er Jahre, zwanzig Jahre vor dem Boom der Bekleidungsindustrie.
Die ersten Frauen, die dem Ruf in die neuen Fabriken folgten, waren damals geschiedene oder verstoßene Ehefrauen und Witwen. Mit ihren Kindern im Schlepptau entflohen sie dem Elend auf dem Land und zogen nach Dhaka. Sie hatten nichts mehr zu verlieren. In ihren Dörfern waren sie sowieso Außenseiter und hatten keinerlei Einkommen. Deshalb konnte sie die Wut der konservativen Dörfler nicht mehr groß erschrecken. Die tonangebenden Kreise auf dem Land befürchteten, dass mit der Landflucht der Frauen die patriarchalisch-muslimische Ordnung umgestürzt würde.1
Später sind den Außenseiterinnen andere Frauen gefolgt, solche, die von einer besseren Zukunft träumten, einer arrangierten Ehe entkommen oder ihren Kindern eine bessere Ausbildung ermöglichen wollten. So haben die Kleiderfabriken indirekt zu einem gesellschaftlichen Wandel beigetragen, der von der Emanzipation der ärmsten Frauen ausging. Während die Arbeiterinnen in den 1970er Jahren schlecht angesehen waren, hat sich ihre Position mittlerweile sogar umgekehrt: Nun bestimmen sie oft die Heiratsbedingungen und kommen für ihre Mitgift selbst auf.
Während die jüngste Wirtschaftskrise viele Textilexportländer hart getroffen hat, erging es Bangladesch relativ gut. „So billig wie hier ist Arbeitskraft fast nirgendwo auf der Welt“, erklärt Zillul Hye Razi, Handelsberater für die Europäischen Union in Bangladesch, das nach China und Vietnam der drittwichtigste Lieferant für die EU-Länder ist und sogar Indien eingeholt hat. Der Textilsektor macht inzwischen 13 Prozent des Bruttoinlandsprodukts und 80 Prozent der hiesigen Exporte aus. Laut Angaben von „Campagne Vêtements Propres“ (Kampagne für saubere Kleidung), dem belgischen Ableger der internationalen Organisation, die sich für die Verbesserung der Arbeitsbedingungen in der Textilindustrie einsetzt, hat Bangladesch zwischen Juni 2005 und Juni 2006 Kleidung im Wert von 6,5 Milliarden Euro exportiert. Ein Segen für das leidgeprüfte kleine Land.
Über 150 Millionen Einwohner leben in Bangladesch auf einem Gebiet, das etwa 40 Prozent der Fläche Deutschlands entspricht. Im Unterschied zum benachbarten Birma besitzt es keine Bodenschätze und ist zudem am Golf von Bengalen regelmäßig heftigen Wirbelstürmen ausgesetzt. Viele Bangladescher fliehen vor den Umweltkatastrophen vom Land in die Städte.2 Verelendung und soziale Unsicherheit sind die Folgen. In unmittelbarer Nachbarschaft zu den beiden Großmächten Indien und China sehen viele Bangladescher die Zukunft ihres Landes eher pessimistisch. Die Raffgier vieler Politiker bestätigt sie darin. Nach dem Ranking von Transparency International zählt Bangladesch zu den korruptesten Länder der Welt: Unter 178 Ländern kam es 2010 auf Platz 134.
Das ist eine große Belastung für einen Staat, in dem 40 Prozent der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze leben und mit 1,25 Dollar pro Tag auskommen müssen. Nach dem Human Development Index den UN (HDI) belegt Bangladesch 2010 den 129. Rang von 169 Ländern. Eine tiefe Niedergeschlagenheit hat sich der gesamten Bevölkerung bemächtigt. Ab und zu regt sich Protest, wie etwa 2008, als es wie in vielen anderen Ländern auch zu Hungeraufständen kam.
In den Textilfabriken, wo etwa 40 Prozent aller Industriearbeiter des Landes beschäftigt sind, begehren inzwischen die Arbeiter in regelmäßigen Abständen auf gegen das eklatante Missverhältnis zwischen ihren Löhnen und den Gewinnen, die die Kleiderproduzenten und -exporteure einstreichen. An den Protesten, die im Mai 2010 begannen, beteiligten sich bisher mehr als 50 000 Arbeiter. Sie riskieren ihr Leben, denn die Regierung setzt zur Niederschlagung der Demonstrationen bewaffnete Einheiten ein. Es gab schon dutzende Tote und hunderte Verletzte.
Dabei fordern die Arbeiter nur eine Anpassung der Löhne an die durch die Inflation gestiegenen Lebensmittelpreise. Statt der üblichen 1 662 Takas (17 Euro) bräuchten sie eigentlich 5 000 Takas (51 Euro) monatlich zum Leben. Zum Vergleich: In Vietnam verdienen Arbeiter mindestens 75 Euro, in Indien 112 Euro im Monat.3 Die Demonstranten verlangen außerdem die Einhaltung des bereits bestehenden Arbeitsrechts: einen freien Tag in der Woche, Mutterschaftsurlaub, Anrechnung von Überstunden und die Anerkennung von Gewerkschaften.
Reena gibt uns heimlich nachts ein Interview. Sie ist sichtlich beunruhigt. Unablässig streicht sie über ihre bunte khamiz, eine lange Tunika, die zur Pluderhose, dem salwar, getragen wird. „Ich arbeite seit zwölf Jahren von acht Uhr morgens bis Mitternacht und verdiene 2 600 Takas monatlich (knapp 27 Euro). Davon leben wir alle: meine drei Töchter, meine Schwiegereltern und mein Mann, der keine feste Arbeit hat. Außerdem muss ich 50 Takas an den Abteilungsleiter zahlen, damit er mich in Ruhe lässt. Die Stellen hier sind nämlich sehr begehrt.“
Umgerechnet auf eine 5-Tage-Woche arbeiten die Frauen also 80 Stunden. Laut Gesetz gilt in Bangladesch eine 6-Tage-Woche mit 48 Stunden. Da die Bestellungen der ausländischen Auftraggeber um jeden Preis erfüllt werden müssen, arbeiten die Frauen gezwungenermaßen oft bis zu 17 oder 19 Stunden – ohne Pause.
Zunächst hatte Premierministerin Sheikh Hasina Wajed Verständnis für die Lage der Textilarbeiter gezeigt und die Löhne als „unzureichend“ und sogar „unmenschlich“ bezeichnet.4 Doch inzwischen ist der Ton schärfer geworden.
Am 29. Juli 2010 wurden zwar in einer Schlichtung unter anderem Lohnerhöhungen vereinbart, doch die Arbeiter weigerten sich, auf die bloße Ankündigung hin in die Fabriken zurückzukehren. Daraufhin ließ Hasina Wajed auf Drängen der Unternehmerschaft die Armee anrücken, um „der Anarchie und dem Niedergang“ ein Ende zu bereiten. Derweil beteuern die Fabrikanten, dass sie keine höhere Löhne zahlen könnten, weil Bangladesch sonst nicht im Wettbewerb gegen die mächtigen Textilkonkurrenten Vietnam und China mithalten könne. Die Produktionskosten seien zu hoch, da die Energieversorgung oft ausfalle und die Infrastruktur, zumal das Transportwesen, mangelhaft sei.
Seit dem 1. November ist das zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern ausgehandelte Abkommen in Kraft. Es sieht einen monatlichen Mindestlohn von 3 000 Takas (30 Euro) vor. Doch selbst nach dieser Lohnerhöhung sind Bangladeschs Textilarbeiter immer noch die am schlechtesten bezahlten Arbeitnehmer in ganz Asien. Die regionale Organisation Asian Floor Wage, die für einen existenzsichernden Mindestlohn kämpft, hat ausgerechnet, dass dieser bei 10 000 Takas (144 Euro) liegen müsste. Mit 5 000 Takas käme eine Person allein knapp zurecht.
Außerdem ist zu befürchten, dass diese Gesetzesnovelle genauso wenig in die Praxis umgesetzt wird wie andere Arbeitnehmerrechte. Jedenfalls ist sie in zahlreichen Fabriken noch nicht angekommen. Die Wut ist nach wie vor groß, und in den Vororten von Dhaka kommt es immer wieder zu blutigen Zusammenstößen mit den Sicherheitskräften. Im Dezember 2010 kamen dort vier Demonstranten ums Leben.
Bei den Auseinandersetzungen im Sommer waren die Streikführer und die unabhängigen Delegierten der Belegschaften nicht zu Wort gekommen: Sie wurden verhaftet, bedroht und von den Gesprächen ferngehalten, bevor man sie durch Marionetten ersetzte. Bangladesch hat 1967 zwar die Konvention über den Schutz des Vereinigungsrechts der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) von 1948 ratifiziert, doch de facto „werden nur sehr wenige Arbeitnehmerorganisationen zugelassen“, sagt Faizul Hakim, Präsident des Gewerkschaftsverbands von Bangladesch (BTUF).
Zara, Tommy Hilfiger, H & M, Levi Strauss, Marks & Spencer
Die offiziellen Gewerkschaften, meint er, steckten unter einer Decke mit den Arbeitgebern. Und die anderen agieren als „Arbeitervereinigungen“ im Schatten. „Die Arbeiter werden mit allen möglichen Mitteln davon abgehalten, sich ihnen anzuschließen.“ Moshrefa Mishu, Vorsitzende des Garment Workers Unity Forum (GWUF) und erste Frau an der Spitze einer Textilarbeiterorganisation, wurde im Dezember 2010 verhaftet. Nicht zum ersten Mal: Ihre Popularität bringt die Regierung zunehmend in Bedrängnis, und so wurde sie unter der Anschuldigung, mit „äußeren Feinden “ zusammenzuarbeiten, schon mehrfach festgenommen. Gespräche mit der ausländischen Presse wurden ihr untersagt.
Bangladesch exportiert jährlich eine Milliarde T-Shirts. 85 Prozent seiner Textilprodukte gehen in EU-Länder. Das Land profitiert vom Allgemeinen Zollpräferenzsystem der Union, das in der Nachfolge des ersten Lomé-Abkommens von 1975 den am wenigsten entwickelten Ländern einen zollfreien Zugang zum EU-Markt gewährt. Doch auf die schlechten Arbeitsbedingungen in dem Textilexportland werden die EU-Handelsberater nicht gern angesprochen. „Wir üben keinerlei Druck aus, das wäre kontraproduktiv. Wir treten hier nur als Berater auf“, rechtfertigt sich Hye Razi. „Der Textilsektor spielt eine enorme wirtschaftliche und soziale Rolle für das Land. Millionen Arbeiter, hauptsächlich Frauen, müssen damit ihre Familien ernähren, die auf dem Land wohnen. Wenn Sie die Beschäftigung billiger Arbeitskräfte als Ausbeutung betrachten und das ändern wollen, bedenken Sie bitte, dass zahllose Menschen davon betroffen wären und dadurch ihre Arbeit verlieren könnten.“
Die vielen Streiks haben den Textilsektor geschwächt. Die Fabrikanten fürchten ihre Auftraggeber zu verlieren, denn die können einen Auftrag ohne weiteres stornieren. Das Outsourcing macht die großen Marken unabhängig. Wenn es in einem Land Lieferschwierigkeiten gibt, vergeben sie ihre Aufträge eben woanders hin, je nach Stückkosten und dem erforderlichen Know-how.
Populäre Unternehmen wie die schwedische Kette Hennes & Mauritz (H & M), die in 38 Ländern 2 200 Geschäfte besitzt, haben einen Verhaltenskodex aufgestellt, um den kritischen Kunden im Westen zu zeigen, dass sie sich sehr wohl darum kümmern, dass „unsere Produkte unter guten Arbeitsverhältnissen hergestellt werden“.
Für die Arbeiterin Reena ist das nichts als Augenwischerei: „Wenn ein ausländischer Einkäufer eine Fabrik besichtigt, wird von vorn bis hinten nur gelogen. Die Arbeitszeiten stimmen nicht. Offiziell arbeiten hier natürlich auch keine Minderjährigen. Und ich muss eine getürkte Lohnabrechnung unterschreiben. Das Gehalt steht nur auf dem Papier. In Wirklichkeit bekomme ich viel weniger. Und sobald die Einkäufer wieder weg sind, reißen sie uns die teuren Wasserflaschen wieder aus der Hand.“ Der Textileinkäufer von der französischen SB-Kette Auchan will nicht mit uns reden. Und Hye Razi sagt: „Die Einkäufer könnten schon dafür sorgen, dass es den Herstellerfirmen und Arbeitern besser geht.“
Ein weiteres Problem ist die Unübersichtlichkeit dieser Treppengeschäfte mit den Subunternehmen von Subunternehmen. Zwischen Auftraggebern und Arbeitern gibt es keine direkte Verbindung, da hilft auch kein noch so gut gemeinter Kodex. Und die Sicherheit der Arbeiter leidet als Erstes. Jedes Jahr brennen mehrere Fabriken und in den überfüllten, baufälligen Gebäuden spielen sich furchtbare Dramen ab. Zuletzt gab es am 14. Dezember 2010 ein Feuer in einer Fabrik vor den Toren von Dhaka, die der Hameen-Gruppe gehört, einer Zulieferfirma von Carrefour und H & M; 28 Menschen starben. Kein Einzelfall, wie Carole Crabbé von Campagne Vêtements Propres sagt. Die internationalen Marken, die Arbeitgeber vor Ort und die Regierung schieben sich gegenseitig die Verantwortung zu.
Rubayet Jesmin, die in Dhaka lebt und über die Wirtschaftspolitik der Europäischen Union forscht, meint: „Die Verantwortung liegt bei den Fabrikbesitzern, bei den Einkäufern und auch bei den Konsumenten. Wenn ein Kunde ein Sweatshirt für 6 Euro kauft, muss er davon ausgehen, dass es unter schlechten Arbeitsbedingungen produziert wurde.“
Fußnoten: