Fünf Jahre mit Evo
Die Bolivianer erwarten jetzt vor allem spürbare Verbesserungen ihrer Lebensverhältnisse von Pablo Stefanoni
Amautas, weise Aymara, die mit Räucherwerk auf der Plaza Murillo umhergehen, um schlechte Schwingungen zu vertreiben, Opfergaben an die Pachamama, Indigene, Bauern, Beamte: Am 22. Januar 2011 wurde der fünfte Jahrestag des Regierungsantritts von Präsident Evo Morales gefeiert. Nach einer langen Reihe wirkungsvoller Massendemonstrationen war er mit dem Versprechen an die Macht gekommen, „Bolivien neu zu gründen“.
Trotz der heftigen Auseinandersetzungen mit den agrarindustriellen Eliten der östlichen Tieflandprovinzen gelang es Morales, seine Macht stetig zu festigen, die sich auf die Mobilisierung der Bauern und eines Teils der städtischen Bevölkerung stützt und durch Wahlergebnisse regelmäßig gestärkt wird: Im August 2008 wurde er in einem Referendum mit 67 Prozent der Wählerstimmen in seinem Amt bestätigt und im Dezember 2009 mit ungewöhnlichen 64 Prozent wiedergewählt.
Während dieser Präsident nach wie vor den kollektiven nationalen Willen verkörpert, Unterentwicklung und soziale Ausgrenzung hinter sich zu lassen, steht die Opposition für die Wiedereinsetzung der alten Privilegien in einem Land, das noch immer vom „internen Kolonialismus“ geprägt ist.1 Demgegenüber standen die Verstaatlichung der Erdgasindustrie 2006, die Verabschiedung einer neuen Verfassung und eine Reihe nationalistischer und indigenistischer Maßnahmen für den „starken, plurinationalen Staat“.
Dennoch wurden die Feierlichkeiten zur fünfjährigen Präsidentschaft von Evo Morales getrübt durch den gescheiterten „Gasolinazo“: Zunächst hatte Vizepräsident Álvaro García Linera am 26. Dezember 2010 eine Preiserhöhung für Treibstoff um bis zu 83 Prozent angekündigt. Damals hielt sich Evo Morales gerade in Caracas auf, um Hilfsgüter in die Überschwemmungsgebiete zu überbringen. Die Umstände und der Ton, mit dem die Aufhebung der Subventionen für Benzin und Diesel verkündet wurden, riefen Erinnerungen an die neoliberalen „Strukturanpassungen“ der 1990er und frühen 2000er Jahre wach und lösten einen für die Morales-Ära ungewöhnlichen Unmut im Volk aus. Während die Proteste bisher von der konservativen Rechten ausgegangen waren, kamen sie nun aus den ureigenen Bastionen des „Evismo“ selbst. Deshalb beeilte sich Morales, seinen Erlass eine Woche später wieder zurückzunehmen. Der bolivianische Präsident erklärte, seine Regierung „höre auf das Volk“, und obwohl diese Maßnahme notwendig sei, hätten ihm die „sozialen Bewegungen“ gesagt, dass jetzt nicht der rechte Zeitpunkt dafür sei.2
Außer dass Morales damit wieder einmal seinen politischen Riecher bewies, spiegelte diese Minikrise auch die Diskrepanz zwischen der häufig hochtrabenden Rhetorik, die kommunitären Sozialismus und dergleichen beschwört, und den tatsächlich weitaus bescheideneren Veränderungen im täglichen Leben der Bolivianer. Die begrenzten Erfolge im Kampf gegen die Armut, die Einführung sozialer Hilfsprogramme über Bonusdekrete3 oder der Ausbau der Infrastruktur – Straßen und Stromversorgung in ländlichen Gebieten – sind Fortschritte, die auch zum Umfeld der „gemäßigten Linken“ nach Art Lula da Silvas in Brasilien passen würden. Gleichzeitig aber leidet der bolivianische Staat an chronischer Schwäche. Vor allem der Mangel an Führungskadern und die geringe Dichte des institutionellen Netzes legt der Regierung in ihrem Bemühen um ein etatistisches Programm, wie etwa die Inbetriebnahme staatlicher Unternehmen, eine Menge Steine in den Weg.
Die Verhandlungen mit kleinen und großen Produzenten auf der Suche nach möglichen Wegen, eine Produktionssteigerung zu erzielen und damit der inflationären Verteuerung der Nahrungsmittel und der Knappheit wie beispielsweise von Zucker entgegenzuwirken, machen ebenso wie die Zugeständnisse an die Erdölkonzerne deutlich, dass die Überwindung der Mechanismen des Markts komplizierter ist, als die Regierung oder die sogenannten sozialen Bewegungen es sich vorgestellt hatten. Klar wurde auch, dass sich die wachsende Kommerzialisierung der sozialen Beziehungen nicht aufhalten lässt, die selbst bis tief in die ländlichen und indigenen Dorfgemeinschaften vorgedrungen ist.
Es ist also kein Zufall, dass Evo Morales unter den Folgen einer „Krise der Narrative“ zu leiden hat: Die Kreativität ist gering, wenn es darum geht, sich mit der gleichen oder ähnlichen politisch-symbolischen Schlagkraft konkrete Maßnahmen wie in den Anfangszeiten auszudenken. Das letzte Bildungsgesetz ist nach einer beschränkten Debatte verabschiedet worden, an der nur die unmittelbar Betroffenen, vor allem Lehrer, beteiligt waren. Die Zustimmung für das Projekt einer allgemeinen Krankenversicherung – ein Modell, das zur Zeit entwickelt wird – ist noch nicht gesichert, und es fehlen die nötigen Reformen, um einen kostenlosen Gesundheitsdienst von einem gewissen Standard für die Mehrheit der Bolivianer sicherzustellen, die bisher sogar für die medizinische Grundversorgung im Krankenhaus auf ziemlich niedrigem Niveau selbst bezahlen müssen. Von komplizierteren Therapien ganz zu schweigen.
Spürbarer ist der Wandel beim Austausch der Eliten: Im staatlichen Machtgefüge sind Indigene, Landbewohner und Angehörige der Unterschicht inzwischen in großer Zahl angekommen. Auch die Selbstwahrnehmung der Bolivianer hat sich verändert: Zum ersten Mal hat ihr Präsident eine Stimme, die weltweit gehört wird. Und in der internationalen Politik hat sich Bolivien nach Jahrzehnten der klaglosen Unterwerfung unter das Diktat Washingtons mit Ländern wie Venezuela, Kuba oder dem Iran verbündet.
Zweifellos ist Bolivien in den letzten Jahren zum leuchtenden Vorbild für die geworden, die auf der Suche nach Alternativen zur kapitalistischen Moderne und deren Dauerkrise sind. Die Präsenz der Indigenen als wichtigste Akteure des momentanen Erneuerungsprozesses regt zu Denkansätzen über ein „Anderes“ an, das geeignet wäre, neue Perspektiven, Weltanschauungen und politische, ökonomische und soziale Konzepte aufzuzeigen. Doch wenn man die Dinge genauer unter die Lupe nimmt, werden sie sehr viel komplizierter. Während es zutrifft, dass die Mehrheit der Bolivianer indigenen Völkern angehört (62 Prozent nach der Volkszählung von 2001), so lässt sich nicht leugnen, dass sich in Bolivien eine tiefe Sehnsucht nach Modernisierung mit aller Macht Bahn bricht. Evo Morales ist der Ausdruck dieses wiedererwachten Fortschrittsdenkens, das heute mächtiger scheint als die Vorschläge des „buen vivir“, des guten Lebens nach nichtmaterialistischen, vermeintlich in der indigenen Weltsicht verankerten Regeln (wie es in der ecuadorianischen Verfassung verankert wurde).
Der Kauf eines Satelliten aus China, Großprojekte wie in der petrochemischen Industrie, Energieversorgung aus Wasserkraft und Straßenbau (auch im Amazonasgebiet) sowie das enge Bündnis zwischen Volk und Militär machen deutlich, welche unterschiedlichen Zielvorstellungen hier im Spiel sind und wie sehr diese – da eine offene Debatte über verschiedene Positionen im eigenen Lager ausbleibt – zum ideologischen Verwirrspiel werden. Zwei generelle Tendenzen lassen sich jedoch schematisch skizzieren, von denen mehrere Kombinationen möglich sind.
Eine Vision – die hegemonische, für die sich der Vizepräsident García Linera einsetzt – sieht einen starken Staat vor, begleitet von einer „besonnenen“ makroökonomischen Strategie. Wenngleich eine solche Politik sich durchaus als Garant für Stabilität bewährt hat, führte sie dennoch nicht zu einem tragfähigeren produktiven Modell, das in der Lage wäre, hochwertige Arbeitsplätze zu schaffen und die informelle Wirtschaft zu kontrollieren, die einen Großteil des Arbeitsmarkts ausmacht.
Die eher philosophische als realpolitisch wirksame Tendenz drückt sich in anderen Bereichen aus – wie beim Klimagipfel und -gegengipfel, bei Versammlungen sozialer Bewegungen und Kursen zur politischen Bildung – und ist auf ein postkapitalistisches, kommunitäres Modell ausgerichtet, das auf politischem, ökonomischem, sogar rechtlichem Pluralismus basiert, der durch die neue Verfassung sanktioniert ist. Diese Strömung wird vor allem von Außenminister und Kabinettschef David Choquehuanca vertreten.
Die Spannungen werden besonders in der Umweltpolitik offenkundig: Während Bolivien auf Klimagipfeln darum bemüht ist, eine politische und vor allem moralische Führungsrolle zu spielen, bleiben die innenpolitischen Maßnahmen in Sachen Umweltschutz oder Kampf gegen den Klimawandel inkonsequent. Und der Preis, den das Land für die Stärkung seiner Machtposition als wichtiger Rohstofflieferant – bei den hohen Rohstoffpreisen auf dem internationalen Markt – zu zahlen hat, ist weder Thema der öffentlichen Debatte noch eine Frage, mit der sich die Regierung primär beschäftigt.
Sie nennen sich Bewegung ohne Furcht
Ein weiteres Beispiel: Während Bolivien auf dem Klimagipfel in Cancún allein gegen die Welt stand im Kampf um eine maximalistische Zielsetzung, räumte die damalige Ministerin für Landwirtschaft und Entwicklung, Antonia Rodríguez, ein, dass sie mit den großen Sojaproduzenten über die Legalisierung des Anbaus genmanipulierter Sojapflanzen verhandelte. Und noch ein Letztes: Kürzlich erklärte Morales Paraguays Modell einer exportorientierten Landwirtschaft zum Vorbild für eine effiziente Lebensmittelproduktion und bat Präsident Fernando Lugo um technische Hilfe und Beratung. Dabei ist das hochgelobte „paraguayische Modell“ das klassische Modell des Großgrundbesitzes, der Vertreibung von Kleinbauern und der einseitig exportorientierten Landwirtschaft.4
Zum ersten Mal seit seinem Amtsantritt ist Morales nicht nur mit den Höhlenbewohnern der politischen Rechten konfrontiert, sondern auch mit einer oppositionellen Mitte-links-Koalition, der „Bewegung ohne Furcht“ (MSM) des ehemaligen Bürgermeisters von La Paz, Juan del Granado, die bis Anfang 2010 eine Allianz mit der Regierung bildete. Mit Unterstützung der städtischen Mittelschicht, vor allem in La Paz, versuchen sich die „Furchtlosen“ als demokratischere und institutionellere Variante des aktuellen Wandlungsprozesses zu präsentieren, „die die Fehler kritisiert und das Erreichte unterstützt“. Dafür führen sie ihre Erfolge als Stadtregierung von La Paz ins Feld, eine der besten des Landes während der letzten Jahrzehnte.
Die Regierung reagierte darauf mit Gerichtsverfahren gegen del Granado und den derzeitigen Bürgermeister von La Paz, Luis Revilla. Auf diese Weise hat sie sich bisher ihrer mächtigsten konservativen Rivalen entledigt; hier aber ist fraglich, ob diese Strategie gegen die Vertreter der gemäßigten Linken erfolgversprechend ist. Kürzlich wurde der Gouverneur der Provinz Tarija im Süden, wo Boliviens größte Erdgasvorkommen liegen, abgesetzt und erhielt Asyl in Paraguay; der Exgouverneur der nördlichen Provinz Pando, Leopoldo Fernández, befindet sich in Haft, wo er auf seine Verurteilung wegen des sogenannten Massakers von El Porvenir im Jahr 2008 wartet. Damals war es in der abgelegenen Urwaldregion Boliviens zu gewaltsamen Übergriffe gegen regierungstreue Campesinos gekommen, verübt mutmaßlich von Fernández’ Schlägertrupps. Andere ehemalige starke Männer der Opposition, wie der Exchef der Separatisten von Santa Cruz, Branko Marinkovic, haben Zuflucht in den USA gefunden.
In Morales’ zweiter Amtszeit macht sich neben den üblichen Verschleißerscheinungen eine gewisse ideologische Stagnation bemerkbar. 2014 wird sich der Präsident erneut zur Wahl stellen. Seine politische Zukunft wird davon abhängen, ob er in der Lage sein wird, das Steuer im Wandlungsprozess wieder herumzureißen und einen Teil des Charismas seiner ersten Jahre zurückzugewinnen. Keine leichte Aufgabe.
Zweifellos ist der „Wandel“ in eine prosaischere Phase eingetreten, ohne dass noch große Feinde in Sicht wären – ein Vorteil und ein Nachteil zugleich, da der gemeinsame Kampf gegen die „Separatisten“ die eigenen Reihen bis 2008 zusammenschweißte. Jetzt erwarten die Bolivianer, dass die maximalistischen Diskurse endlich auch zu konkreten Verbesserungen ihrer Lebensverhältnisse führen. Zur Revolution in ihren Geldbeuteln.
Fußnoten: