Verdammt richtig, sagte ich
Die Memoiren des George W. Bush von Eliot Weinberger
Ende der 1960er Jahre war George Bush junior in Yale und versohlte Kandidaten, die seiner Studentenverbindung Delta Kappa Epsilon beitreten wollten, mit einem heißen Kleiderbügel den nackten Hintern. Zur gleichen Zeit lehrte Michel Foucault am neu gegründeten Département de Philosophie an der Universität Paris VIII und schrieb seinen berühmten Vortrag über die Frage: „Was ist ein Autor?“1
Bush jr. und Foucault sind sich nie begegnet. Der Philosoph mag auf einer seiner Vortragsreisen auch in Texas vorbeigekommen sein, aber Junior ist seinen Sadomaso-Gelüsten, soweit bekannt, nur in seinen Universitätsjahren nachgegangen (ein Romanschreiber wird also eine zufällige Begegnung in einer Kellerbar in Austin erfinden müssen).
Erschwerend kommt hinzu, dass sich die Ahnungslosigkeit des Juniors – von Profisport abgesehen – natürlich auch auf das Land namens Frankreich erstreckte. Erst 2002 schaffte er es nach Paris, wo er – inzwischen US-Präsident – bei einer Pressekonferenz über den neben ihm stehenden Jacques Chirac sagte: „Er sagt, das Essen hier sei fantastisch, heute Abend werde ich ihm die Gelegenheit bieten, mir das zu beweisen.“
Foucault fand seine Theorien – mehr oder weniger überzeugend – in Schriftstellern wie Proust oder Flaubert verkörpert. Der Philosoph starb 1984, als Junior noch ein – inzwischen älterer – Verbindungsstudent war. Das Buch mit dem Titel „Decision Points“ bekam Foucault also nicht mehr zu Gesicht, was schade ist, weil der Text ausgezeichnet zu seiner Theorie passt. Denn die Fragen, die er schon 1969 für hoffnungslos überholt erklärt hatte, sind exakt die, die man sich bei dem Buch „von“ George W. Bush nicht stellen sollte: „Wer spricht hier eigentlich? Spricht tatsächlich er selbst und nicht jemand anders? Worin besteht seine Authentizität oder Originalität? Und welcher Teil seines tiefsten Inneren kommt in seinem Diskurs zum Ausdruck?“
Zwischen „Decision Points“ und George W. Bush besteht dasselbe Verhältnis wie zwischen einer Parfüm-Serie und dem Filmstar, dessen Namen sie trägt. Der Expräsident war zweifellos als Berater an der Entstehung des Textes beteiligt, aber die Sätze haben andere verfasst: sein junger Redenschreiber und treuer Schildknappe Chris Michel, der seit seinem Yale-Studium mit Bushs Tochter Barbara befreundet ist; der junge freischaffende Lektor Sean Desmond, die Mitarbeiter des Verlags Crown Publishing (der für das Buch 7 Millionen Dollar gezahlt haben soll); ein ganzes Team von Rechercheuren und schließlich etliche vertrauenswürdige Freunde. Foucault: „Was ist denn so wichtig an der Frage, wer da spricht?“ Schließlich zeichnet den Autor nur „die Einzigartigkeit seiner Abwesenheit“ aus.
„Decision Points“ ist ein postmoderner Text: Viele Passagen stammen aus anderen Büchern, erzählen Szenen, die Bush gar nicht selbst erlebt hat, sind den Memoiren anderer Regierungsmitglieder oder journalistischen Darstellungen entnommen. Zum Beispiel Bob Woodwards Büchern „Plan of Attack“ und „Bush at War“.2 Der postmoderne Kreis schließt sich mit Dialogen, die von dem für seine erfundenen Dialoge berühmten Woodward abgekupfert sind.
Hier und da hat das Autorenteam lyrische Formulierungen beigesteuert – beispielsweise als am 11. September 2001 Tränen die verrußten Gesichter der Rettungskräfte „durchfurchten wie Bäche eine Wüste“ – aber ansonsten liest sich diese Prosa in weiten Teilen wie folgt: „Ich sagte Margaret und dem Vizegeneralstabschef Josh Bolten, dass ich das für eine weitreichende Entscheidung halte. Ich schlug vor, diese nach folgendem Verfahren zu treffen: Zunächst würde ich meine Leitlinien darlegen, dann alle Experten mit ihren unterschiedlichen Meinungen anhören, dann einen vorläufigen Entschluss fassen und diesen mit einigen klugen Leuten durchsprechen. Meine endgültige Entscheidung würde ich dann dem amerikanischen Volk darlegen. Zum Abschluss würde ich ein Verfahren festlegen, das sicherstellt, dass meine Politik umgesetzt wird.“ So geht das über knapp 500 Seiten. Man ist an Kenneth Goldsmith und sein „unkreatives Schreiben“ erinnert, an die protokollierten Radio-Wetterberichte eines ganzen Jahres – das Schreiben hat sich „von seinem Gegenstand befreit“ (Foucault).
Die Managersprache versteht unter „Decision Points“ die Faktoren, die bedacht werden müssen, bevor man eine Entscheidung trifft (in Powerpoint-Präsentationen sind diese Punkte meist als kleine Patronen dargestellt). Im Buch „Decision Points“ gibt es aber keine solchen Entscheidungen. Entgegen der oben erwähnten Absicht hält Bush nie inne, um irgendetwas zu bedenken. Er ist der Entscheider, der spontan und „schneidig“ handelt, und zwar stets mit dem Anspruch auf „moralische Klarheit“.
In der gruseligsten Zeile des Buches darf Bush sogar zugeben, dass sein Motiv für die Invasion in Afghanistan und im Irak einfach nur Rache war – ein emotionaler Impuls, den wir uns bei einer weltpolitischen Führungsfigur mit Zugang zu Atomwaffen als Allerletztes wünschen. Und zu 9/11 sagt er: „Mir kochte das Blut. Wir wollten herausfinden, wer das getan hat, und ihnen in den Arsch treten.“
Tatsächlich haben die „Decision Points“-Autoren einen Raum geschaffen, in den „das schreibende Subjekt ständig entschwinden“ (Foucault) kann. Über George W. Bush erfährt man in dem Buch so gut wie nichts. Hunderte anderer Leute werden genannt – und fast durchweg gelobt, als wäre das Buch eine überlange Dankesrede –, aber nicht ein einziger Mensch außerhalb der Bush-Familie wird als Person lebendig. Jede neue Figur wird mit einem einzigen Satz eingeführt, der einen oder mehrere der folgenden Punkte enthält: 1) texanische Abstammung; 2) Leistungen als College-Sportler; 3) Wehrdienst; 4) tief religiös. Und stets endet der Satz mit drei persönlichen Merkmalen wie: „ehrlich, moralisch und geradlinig“; „klug, bedächtig, energisch“ (zu Condi Rice); „kenntnisreich, wortmächtig und selbstsicher“ (zu Donald Rumsfeld), „klug, prinzipienfest, menschlich“ (zu Supreme-Court-Richter Clarence Thomas) und so weiter. Die so charakterisierte Person tut anschließend, was immer Bush zu tun befiehlt.
Bush ist der einzige Held dieses Buches, auf jeder Seite. Ihm werden, über die offiziellen Reden und Presseerklärungen hinaus, ein paar Sätze in den Mund gelegt, fast immer tritt er energisch und souverän auf, ist empört über die Fehler seiner Untergebenen. Einige Beispiele: – „ ‚Was zum Teufel geht hier vor?‘, fragte ich in der Sitzung des Nationalen Sicherheitsrats Ende April.“ – „ ‚Warum stoppt niemand diese Plünderer?‘ “ – „ ‚Wir müssen herausfinden, was er weiß‘, wies ich das Team an. ‚Wie sehen unsere Optionen aus?‘ “ – „ ‚Verdammt richtig‘, sagte ich.“ – „ ‚Wo zum Teufel ist Ashcroft?‘, fragte ich.“ – „ ‚Wir werden selbstbewusst und geduldig, kühl und beharrlich bleiben‘, sagte ich.“ – „Daraufhin sagte ich zu meinen Beratern: ‚Ich habe diesen Job nicht angenommen, um mich zu verstecken.‘ “ – „ ‚Wir haben keine 24 Stunden Zeit‘, blaffte ich zurück, ‚wir haben schon zu lange gewartet.‘ “
Dazu Foucault: „Der Name des Autors dient dazu, eine bestimmte Art des Diskurses zu charakterisieren.“
Dieses Buch ist eine Chronik der Bush-Ära, in der vieles fehlt: das Wort Terroralarm und die Umbenennung von French Fries in „Freedom Fries“ (weil Paris im UN-Sicherheitsrat gegen den Irakkrieg gestimmt hat); die Firma Halliburton (der Vizepräsident Cheney verbunden war) und der Gesetzentwurf über „gesunde Wälder“ (der Urwaldgebiete für die Holzindustrie erschließen sollte); der Clear Sky Act (der die Grenzwerte für Luftverschmutzung heruntersetzte), die New Freedom Initiative (nach der alle US-Bürger auf Geisteskrankheiten getestet werden sollten), und die in den Nationalparks verkauften Broschüren, in denen die Entstehung des Gran Canyon auf die Sintflut zurückgeführt wird, sowie die vom Gesundheitsministerium in Auftrag gegebenen Forschungen über die Frage, ob Krebs durch Beten geheilt werden kann.
Des Weiteren kommen in dem Buch nicht vor: der Tod des Footballstars Pat Tillman durch „friendly fire“ in Afghanistan; die erfundene Rettung der Gefreiten Jessica Lynch in einem irakischen Krankenhaus; die Cheney-Theorie von der „einheitlichen Exekutive“, die im Wesentlichen besagt, dass der Präsident in seinem Handeln weder durch den Kongress noch durch die Gerichte eingeschränkt ist.
Erstaunlich ist auch, dass wichtige Figuren der Bush-Welt wie Paul Wolfowitz, Richard Perle, Ahmed Chalabi und Richard Armitage gar nicht oder nur am Rande erwähnt werden. Condi und Colin Powell spielen Nebenrollen, und Rummy tritt nur sporadisch und schemenhaft auf. Das eigentliche schwarze Loch im ganzen Buch ist jedoch der große Strippenzieher Dick Cheney, der für den Strohmannpräsidenten Bush als Regierungschef agierte. In „Decision Points“ hält er sich fast immer – wie während seiner realen Amtszeit – an geheimen Orten versteckt. Er taucht nur auf ganz wenigen Seiten auf, als eines von vielen Mitgliedern des Bush-Teams. Die Botschaft ist klar: Washington war zu klein für zwei Entscheider.
In diesem dicken Buch ist Cheneys Präsenz nur zweimal wirklich zu spüren. Als der Präsident sich weigert, seinem Stabschef Scooter Libby Straffreiheit zu gewähren3 , beschwert sich sein Vize mit den Worten: „Ich kann nicht glauben, dass Sie einen Soldaten auf dem Schlachtfeld aufgeben.“ (Diese Szene ist allerdings einem Zeitungsartikel entnommen, wo der Satz nicht Cheney, sondern einem anonymen Mitarbeiter zugeschrieben wird und auch nicht direkt an Bush gerichtet ist.)
An einer anderen Stelle ahnt man, mit welchem Geschick Cheney bei Bush den Macho-Knopf zu drücken verstand: „Dick Cheney war über die langsamen Fortschritte auf diplomatischer Ebene nicht glücklich. Er gab zu bedenken, dass Saddam Hussein die Zeit nutzen könnte, um Waffen zu produzieren und zu verstecken oder einen Angriff vorzubereiten. Bei einem unserer wöchentlichen Mittagessen im Winter 2002 fragte mich Dick ganz direkt: ‚Wirst du diesen Burschen erledigen oder nicht?‘ Damit wollte er sagen, dass die Zeit der Diplomatie abgelaufen sei. Ich mochte Dicks unverblümte Ratschläge. Ich sagte ihm, es sei noch nicht so weit. ‚Okay, Mister Präsident, das ist Ihr nächster Job‘, erwiderte Cheney, und dann folgte einer seiner Lieblingssätze. ‚Dafür kriegen Sie schließlich die viele Kohle‘, sagte er mit einem milden Lächeln.“
Cheneys Rolle durften die Textbastler zusammenschneiden. Die große Überraschung ist jedoch ein Nebendarsteller: Vater Bush. Nun wissen wir alle schon längst viel zu viel über die Dramen der Familie Bush: Der Dad war Mitglied der berühmten Phi-Beta-Kappa-Verbindung in Yale und ein gefeierter College-Sportler. Sein Junior war an derselben Uni, aber nur ein mittelmäßiger Tollpatsch, der es nie ins Team geschafft hat und sich mit der Rolle des Cheerleaders begnügen musste. Dad war ein Fliegerheld des Zweiten Weltkriegs (obwohl ihn Leute außerhalb seines engsten Freundeskreises für einen Feigling halten, aber das ist eine andere Geschichte). Von der militärische Karriere des Juniors ist vor allem bemerkenswert, dass er aus nie geklärten Gründen seine Fliegerausbildung bei der Texas Air National Guard abgebrochen hat. Dad war im Ölbusiness erfolgreich; Junior verlor ein Vermögen mit dem Kauf trockener Ölquellen und musste immer wieder von Dads Freunden vor dem Bankrott gerettet werden. Als ausgerechnet das schwarze Schaf der Familie, dieser Loser, Präsident der USA wurde – und nicht sein dafür ausgebildeter und ausersehener Bruder Jeb –, holte er sich mit Cheney und Rumsfeld bewusst zwei auftrumpfende amerikanische Unilateralisten dazu, die sein diplomatischer Vater nicht ausstehen konnte.
Viele Beobachter sahen in Juniors Obsession, Saddam Hussein zu erledigen – anders als im Buch dargestellt war sie vom ersten Tag seiner Amtszeit an unübersehbar –, eine Reaktion auf das angebliche „Versäumnis“ seines Vaters, im Februar 1991 am Ende des ersten Golfkriegs nach Bagdad zu marschieren. Dabei hat sich 2003 selbst Dads bester Freund – und ehemaliger Sicherheitsberater – Brent Scowcroft öffentlich gegen den bevorstehenden Irakkrieg gestellt. Für den Junior war dies während seiner Amtszeit ein heikles Thema, und auf die Frage, ob er den Rat seines Vaters suche, antwortete er mit dem berühmten Satz: „Ich frage nur meinen Vater im Himmel um Rat.“
Erstaunlicherweise kommt Dad nun in Juniors Buch andauernd vor. Unentwegt versichern sich Vater und Sohn, wie stolz sie aufeinander sind und wie unverbrüchlich sie sich lieben. Das Autorenteam fühlte sich sogar bemüßigt, die Worte des Papas an den Junior nach dessen zweiter Wahl zum Präsidenten (eigentlich war es ja die erste) in voller Länge zu zitieren: „Congratulations, son.“
Der ganze Mix aus Frömmigkeit, Patriotismus, Familiensinn und Selbstverherrlichung wird am besten in der folgenden dramatischen Szene deutlich, die für das Buch vielleicht die typischste ist: „Bei einer Weihnachtsfeier an Heiligabend stand ich neben Mutter und Vater, als der Militärgeistliche der Marine zu uns trat. Er sagte: ‚Sir, ich komme gerade aus Wilford Hall in San Antonio, wo die verwundeten Soldaten liegen. Ich habe den Jungs gesagt, dass ich Sie heute Abend sehe und ob sie eine Botschaft für den Präsidenten hätten.‘ Und dann fuhr er fort: ‚Sie sagten: Bitte sagen Sie dem Präsidenten, dass wir stolz sind, einem großen Land zu dienen, und dass wir stolz sind, einem großen Mann wie George Bush zu dienen.‘ Dad stiegen die Tränen in die Augen.“
Kleiner Exkurs: Mag sein, dass Militärgeistliche so gestelzt daherreden, aber es fällt doch auf, dass in diesem Buch ziemlich viele Szenen vorkommen, in denen erwachsene Männer – die meisten in Uniform – zu weinen anfangen, wenn sie Bush reden hören. Der ganze Text erinnert – vielleicht weil er auf ein bestimmtes Publikum zielt – stark an Country- oder Westernmusik: Seine Helden machen große Sprüche, um im nächsten Moment in Tränen auszubrechen.
Mutter Bush hingegen – an keiner Stelle Mom genannt – haut immer wieder mit trockenen Kommentaren dazwischen. Als der Junior – schon in seinen mittleren Jahren – einen Marathonlauf bestreitet, kommen Mother und Dad aus der Kirche, woher sonst. Auf den Eingangsstufen stehend ruft der Papa stolz: „Da läuft mein Junge!“ Während Mutter Bush ihn anfeuert: „Halt durch, George! Vor dir sind ein paar Fettsäcke!“
Als Junior sich entschloss, für das Gouverneursamt in Texas zu kandidieren, erklärte Mutter Bush kurz und bündig: „George, du kannst nicht gewinnen.“ Nicht zitiert wird dagegen ihr unvergesslicher Kommentar zum Irakkrieg: „Warum sollen wir uns die Berichte über Leichensäcke und Tote anhören? Warum soll ich meinen schönen Verstand auf so etwas verschwenden.“4
Das bemerkenswerteste Detail im ganzen Buch ist jedoch die folgende bizarre Szene: Mutter Bush hatte zu Hause eine Fehlgeburt und bittet den halbwüchsigen Sohn, sie ins Krankenhaus zu fahren. Im Auto zeigt sie ihm dann den Fötus seines Geschwisterchens, den sie aus irgendeinem Grund in ein Konservenglas gesteckt hat. Bush behauptet, in diesem Moment zum Pro-Life-Anhänger geworden zu sein, der sich kompromisslos gegen Abtreibungen und später auch gegen die Forschung mit embryonalen Stammzellen wendet. Auf die Idee wäre Mutter Bush allerdings nicht gekommen: In den frühen 1960er Jahren waren republikanische Patrizier wie die Bushs entschieden für Empfängnisverhütung und Geburtenkontrolle, schon weil sie nicht wollten, dass die ungewaschenen Arbeitermassen sich vermehren wie die Kaninchen. Dad war sogar im Vorstand der texanischen Sektion der „Planned Parenthood Federation of America“.5
„Decision Points“ verwischt die Grenze zwischen Fiction und Non-Fiction und gibt sich damit als postmoderner Text zu erkennen. Was bedeutet, dass die Passagen, die nicht glatt gelogen sind (was insbesondere für die Darstellung des Hurrikans „Katrina“ und der Vorgeschichte des Irakkriegs gilt), nur die Sonnenseite einer Halbwahrheit abbilden. Inzwischen haben Legionen investigativer Amateurjournalisten eine Liste dieser Lügen zusammengestellt, wobei sie wie gewohnt die Arbeit tun, die in den großen Medien keiner mehr leistet. Und Gerhard Schröder hat bereits angemerkt, dass die Passage, in der er auftaucht, völlig falsch ist.6 Ähnlich hat sich sogar Mutter Bush geäußert. In einem CNN-Interview am 23. November 2010 stellte sie klar, dass sie Junior das Glas mit dem Fötus nie gezeigt habe, das habe vielmehr „Paula“ getan – als wüssten wir alle, wer Paula war, nämlich ihre damalige Haushälterin –, und sie selbst sei darüber schockiert gewesen.7
Überhaupt hat der Decision-Point-Bush (DPB) nur wenig Ähnlichkeit mit dem George W. Bush (GWB), den wir in Erinnerung haben. Der DPB brütet unentwegt über dicken Akten; GWB dagegen wollte mündlich vorgetragene Kurzberichte. Rumsfeld, der wusste, mit wem er es zu tun hatte, präsentierte seinen täglichen Lagebericht mit einem Hochglanzdeckblatt, auf dem ein aufregendes Foto aus dem Kampf abgebildet war, nebst inspirierendem Bibelspruch. Der DPB verweist ständig auf seine Lieblingsbücher und behauptet, als Präsident jede Woche zwei gelesen zu haben. GWB stand im Ruf, Legastheniker zu sein, und hat außer „dem Buch der Bücher“ kein anderes gelesen (ähnlich wie sein Gegenspieler, der andere missratene Sohn aus reichem Hause namens Ussama Bin Laden). Von GWB weiß man, dass er bei internen Meetings nie Fragen stellte, aber der DPB behauptet: „Ich lerne am besten durch Fragen. Zuweilen frage ich nach, um einen komplexen Sachverhalt zu erfassen. Manchmal will ich durch Fragen auch das Wissen meiner Mitarbeiter testen. Wenn sie nicht knapp und in einfachem Englisch antworten können, habe ich sofort den Verdacht, dass sie das Thema vielleicht nicht voll im Griff haben.“
Der DPB arbeitet unentwegt daran, dass die freie Welt frei bleibt; GWP verbrachte seine Zeit gern im Fitnessstudio des Weißen Hauses und hat öfter Ferien gemacht als alle Präsidenten vor ihm. Der 29-jährige DPB reist nach Peking, um seinen Dad zu besuchen, der damals Botschafter in China war, sinniert dabei über die Französische und die Oktoberrevolution und kommt zu bedeutenden Einsichten über Freiheit und Gerechtigkeit; der reale GWB sagte seinerzeit, er fahre nach Peking, „um chinesische Frauen zu treffen“.
Im Buch ist der postmodernistische Bush – wie im wirklichen Leben auch – ein Simulacrum, ein Als-ob: ein Spross der Ostküstenaristokratie, der den texanischen Cowboy gibt, obwohl er nicht reiten kann und auf einer Ranch ohne Rinder lebt. Am glücklichsten war und ist er im Kreis von Erfolgsmenschen aus den drei Bereichen, in denen er selbst ein klarer Versager war: Sport, Militär und Business. Wie ein Fußballfan, der im Trikot seines Vereins ins Stadion geht. Mehrfach ist die Rede von seinem „Militärdienst“ – der bestand in Wirklichkeit in monatelangen Versuchen, sich davor zu drücken.
Er war der einzige US-Präsident der Moderne, der öffentlich in Uniform auftrat (was nicht einmal der Exgeneral Eisenhower getan hat) wie ein ordensbehängter Despot aus einer Bananenrepublik. Selten in seinem Leben sei er, wie er erklärt, so stolz gewesen wie beim US-Baseball-Finale, als er den zeremoniellen ersten Pitch werfen durfte. Das Foto auf dem Umschlag von „Decision Points“ zeigt Bush in seinem zweiten stolzen Moment: wie er mit seinem Cheerleader-Megafon in den Trümmern der Twin Towers steht, als einer der vielen Rettungsarbeiter.
Ein Welpe unter lauter Alphatieren, ein Nichtskönner im Vergleich zu Dad, von der Mutter gedemütigt, wurde der Junior – ein klassischer Fall von Kompensation – zum kleinen Tyrannen: einer, der anderen gern den Hintern versohlt und für seine Sticheleien bekannt ist. Ein Boss, der seine Untergebenen beschimpft und für jeden Einzelnen in seiner Umgebung demütigende Spitznamen erfindet. Einer, der ohne jedes Mitgefühl für das Leid anderer Menschen ist und das Foltern mutmaßlicher Terroristen gutheißt.
Wer könnte vergessen, wie hämisch er sich als Gouverneur von Texas über die zum Tode verurteilte Karla Faye Tucker lustig machte, die sogar der Papst vor dem elektrischen Stuhl bewahren wollte. Oder seinen launigen Auftritt beim Dinner für die Korrespondenten im Weißen Haus im März 2004, als er die vergebliche Suche nach Massenvernichtungswaffen im Irak zum Running Gag machte. Oder wie er, der Mann des Militärs, die Sozialleistungen für Kriegsveteranen gekürzt und nichts gegen die entsetzlichen Zustände in deren Krankenhäusern unternommen hat. Oder dass er das Geld für die öffentliche Gesundheit und Sicherheit radikal zusammengestrichen hat.
Wie der Goldfisch seiner Schwester sterben musste
Aus dem Buch geht hervor, was Bushs schlimmste Erfahrung während seiner Präsidentschaft war: nicht der 11. September 2001, auch nicht die Tatsache, dass durch seine Kriege Hunderttausende starben oder verstümmelt wurden, oder die Millionen Arbeitslosen. Nein, das Schlimmste war, dass der Rapper Kanye West bei einem Solidaritätskonzert für die Opfer des Hurrikans „Katrina“ erklärte, die Schwarzen seien Bush egal.
Dabei hatte West nur zur Hälfte recht. Bush ist nicht besonders rassistisch. Er hat die hispanischen Einwanderer nie als Horden furchterregender Invasoren dargestellt; Condi war sein Fitnessclub-Kumpel, praktisch seine zweite Ehefrau; er hat Colin Powell bewundert und sich in Militär und Profisport, die in Sachen Integration weiter sind als alle anderen Bereiche der US-Gesellschaft, ganz zu Hause gefühlt. Es ist nicht so, dass ihm die Schwarzen egal gewesen wären. Jenseits seiner Familie waren ihm alle Leute egal. Und von dem evangelikalen Prediger Billy Graham hatte er gelernt, dass „wir die Liebe Gottes nicht durch gute Taten verdienen können“, sondern nur durch die Gnade des Herrn, und von der wusste Bush, dass er ihrer bereits teilhaftig war.
Seit dem 9. November 2010 wurden von „Decision Points“ etwa eineinhalb Millionen Exemplare verkauft. Konservative Gruppen decken sich bergeweise damit ein. Das Timing war perfekt, weil das Buch das ideale Weihnachtsgeschenk für den republikanisch wählenden Onkel war. Hinzu kommt, dass uns Bush gerade mal zwei Jahre nach seinem Abschied von Washington wie ein ganz vernünftiger Mann vorkommen will – jedenfalls im Vergleich mit den Republikanern, die inzwischen in höhere Ämter gewählt wurden.
Anders als sie war Bush kein Christ, der family values predigt, sich aber gern von Prostituierten windeln lässt.8 Auch musste er nie ein Bußgeld von 1,7 Milliarden Dollar (jawohl, Milliarden!) zahlen, weil er die öffentliche Hand betrogen hat.9 Er ist nicht für die Verbrennung des Korans10 , und er hält Obama nicht für einen kenianischen Muslim, der mit Terroristen unter einer Decke steckt. Er befürwortet keine militärische Invasion in Mexiko oder einen Verfassungszusatz, der festlegen soll, dass die USA nicht dem islamischen Scharia-Recht unterworfen werden kann. Er fordert weder einen Elektrozaun entlang der Grenze zu Kanada noch die Todesstrafe für Ärzte, die Abtreibungen vornehmen. Er glaubt nicht, dass die Forderung nach Radwegen in größeren Städten Teil eines Komplotts der Vereinten Nationen ist, mit dem eine große gemeinsame Weltregierung installiert werden soll.
Die Anhänger von Sarah Palin und der Tea Party, die solche Forderungen aufstellen, verschaffen den Republikanern viel Publicity, aber die Macht haben immer noch die altmodischen Neokonservativen. Und deren Präsidentschaftskandidat könnte Ende nächsten Jahres sogar der äußerst geduldige Jeb Bush sein – als der vielleicht letzte Republikaner, der über eine langweilige konservative Seriosität und über einen landesweit bekannten Namen verfügt.
Trotz der eindrucksvollen Verkaufszahlen werden nicht viele Menschen die „Autobiografie“ des George W. Bush lesen, von durchlesen ganz zu schweigen. Wer es schafft, wird immerhin drei Enthüllungen finden (abgesehen von dem Fötus im Einmachglas). Erstens: Junior hat den Goldfisch seiner Schwester Doro getötet, indem er Wodka ins Goldfischglas schüttete. Zweitens: Er entschloss sich, als Präsidentschaftskandidat anzutreten, nachdem er eine Predigt über Moses gehört hatte, der die Kinder Israels aus Ägypten führte. Drittens: Weil er gern früh zu Bett geht, jammerte George W. Bush am 11. September 2001 um zehn Uhr abends, dass er jetzt schlafen müsse. Und er glaubt, dass dieses Buch seinen Lesern „von Nutzen sein wird, wenn sie vor wichtigen Entscheidungen in ihrem Leben stehen“.
Fußnoten: