Blickwechsel
Die arabische Revolution und der libysche Krieg verändern die gegenseitige Wahrnehmung der arabischen Welt und des Westens von Serge Halimi
Die Volksaufstände in den arabischen Ländern verändern die innenpolitische, außenpolitische und ideologische Landschaft einer ganzen Region. Nur die brutale Unterdrückung in Libyen drohte zeitweilig den Dominoeffekt in Richtung Demokratie umzukehren. Mit dem vom UN-Sicherheitsrat sanktionierten Krieg des Westens gegen Gaddafi ist das vorbei. Welche Folgen dieser Eingriff in die Verhältnisse vor Ort hat, lässt sich heute noch nicht absehen.
Auch eine stehengebliebene Uhr zeigt zweimal am Tag die richtige Zeit. Dass die USA, Frankreich und Großbritannien eine Resolution des Sicherheitsrats durchgebracht und die Genehmigung für ihre Militäraktionen gegen das libysche Regime erwirkt haben, ist allein noch kein ausreichender Grund, diese gewaltsame Einmischung abzulehnen.
Wenn eine praktisch unbewaffnete Volksbewegung einem übermächtigen Schreckensherrscher gegenübersteht, muss sie mitunter eine internationale Schutztruppe um Hilfe bitten, und sei deren Ruf noch so zweifelhaft. Als Wehrloser kann man eine solche Hilfe nicht ablehnen, nur weil andere Opfer – etwa in Palästina oder in Bahrain – sie nicht ebenso bekommen. Man wird sogar darüber hinwegsehen müssen, dass diese Truppe eher als Instrument der Repression denn als humanitäre Hilfsorganisation bekannt ist.
Dass sich die libyschen Aufständischen im Moment äußerster Bedrohung verständlicherweise an diese Hoffnung klammern, rechtfertigt aber keinesfalls einen neuen Krieg der westlichen Mächte auf arabischem Boden. Die Intervention der Nato ist ein unzulässiges Mittel zu einem wünschenswerten Zweck, nämlich dem Sturz von Muammar al-Gaddafi. Diese Intervention erscheint aber nur deshalb als unvermeidlich, weil von Anfang an alle anderen Optionen ausgeschlossen wurden, weshalb alle Zweifler nur noch vor der Wahl standen, die westlichen Bombenangriffe zu befürworten oder ein Massaker an den libyschen Aufständischen zuzulassen. Dabei hätte sich ein Eingreifen einer UN-Friedenstruppe, der ägyptischen Armee oder einer panarabischen Streitmacht durchaus angeboten.
Aus der bisherigen Bilanz westlicher Eingreiftruppen lässt sich jedenfalls ein moralischer Kredit, den diese für sich beanspruchen, ganz gewiss nicht ableiten. Oder glaubt irgendjemand im Ernst, dass irgendein Staat dieser Welt seine Ressourcen und Armeen einsetzt, um irgendwo demokratische Ziele durchzusetzen? Wir haben in jüngster Zeit zur Genüge erfahren, dass unter einschlägigen Vorwänden geführte Kriege zunächst spektakuläre Erfolge bringen, die publizistisch entsprechend ausgeschlachtet werden, in der Folge dann aber sehr viel chaotischer verlaufen und von den Medien vergessen werden. In Somalia, Afghanistan und im Irak wird weiter gekämpft, obwohl Mogadischu, Kabul und Bagdad schon vor Jahren „eingenommen“ wurden.
Die libyschen Aufständischen wollten nur einen despotischen Machthaber stürzen, wie ihre tunesischen und ägyptischen Nachbarn auch. Nach der Militärintervention Frankreichs, Großbritanniens und der USA werden sie aber in der Schuld von Mächten stehen, die sich zuvor nie für ihre Freiheit interessiert haben. Dass es zu dieser besonderen Situation kommen konnte, ist allerdings in erster Linie die Schuld Gaddafis. Ohne die blindwütige Repression eines Herrschers, der sich in 40 Jahren vom antiimperialistischen Diktator zum pro-westlichen Despoten gewandelt hat, und ohne Gaddafis Tiraden von angeblichen „Al-Qaida-Agenten“, von „diesen Ratten, die gegen Geld ausländischen Geheimdiensten dienen“, wäre der Verlauf des Aufstands allein vom libyschen Volk bestimmt worden.
Die Resolution 1973 des Sicherheitsrats genehmigt Bombenangriffe auf Libyen. Damit hat sie womöglich die blutige Niederschlagung einer Revolte verhindert, die ansonsten wegen ihrer unzureichenden Bewaffnung zum Scheitern verurteilt gewesen wäre. Dennoch steckt in dieser Resolution eine Menge Heuchelei. Dass Gaddafis Truppen angegriffen werden, liegt gewiss nicht daran, dass er einer der schlimmsten oder grausamsten Diktatoren wäre. Es liegt vielmehr daran, dass er schwächer als andere ist, dass er weder über Atomwaffen noch über mächtige Freunde verfügt, die ihn vor militärischen Angriffen schützen oder auf der Ebene der internationalen Organisationen unterstützen könnten. Die Intervention in Libyen macht erneut deutlich, dass das Völkerrecht keine eindeutigen Prinzipien festlegt, deren Verletzung konsequent und überall geahndet wird.
In der internationalen Politik funktioniert die Weißwäsche nicht anders als die Geldwäsche: Ein kurzer Moment der Tugend tilgt Jahrzehnte der Schande. Der französische Präsident ließ einen ehemaligen Geschäftsfreund bombardieren, den er noch 2007 mit allen Ehren empfangen hat – obwohl auch damals jeder wusste, um welches Regime es sich handelt. Im Rückblick müssen wir Nicolas Sarkozy fast schon dankbar sein, dass er Gaddafi nicht auch noch die Lieferung von „Fachkenntnissen unserer Sicherheitskräfte“ angeboten hat, die Tunesiens Staatschef Ben Ali noch im Januar 2011 andient wurden. Auch Silvio Berlusconi, der sich wahrlich als „enger Freund“ Gaddafis bezeichnen darf, nachdem er den libyschen Führer elfmal in Rom empfangen hat, fand nach anfänglichem Zögern noch Anschluss an die Koalition der Tugend.
Was die Arabische Liga betrifft, so besteht sie zur Mehrheit aus politischen Greisen, die sich vom demokratischen Aufbruch in ihren Ländern bedroht sehen. Sie trugen die UNO-Initiative zwar mit, gaben sich dann aber konsterniert, als die ersten Raketen einschlugen. Russland und China hätten durchaus die Macht gehabt, ein Veto gegen die Resolution 1973 des Sicherheitsrats einzulegen oder den Text zu ändern, um den Umfang der Operationen zu begrenzen und eine drohende Eskalation zu verhindern. Dann hätten sie auch nicht im Nachhinein ihr „Bedauern“ über den Einsatz von Gewalt äußern müssen. Der Grad der „Aufrichtigkeit“, den die internationale Gemeinschaft in dieser Sache an den Tag legt, wird in den Formulierungen deutlich, die Libyen „willkürliche Verhaftungen, gewaltsame Entführungen, Folterungen und Hinrichtungen ohne Gerichtsverfahren“ vorwerfen – allesamt Vergehen, die offenbar weder in Guantánamo noch in Tschetschenien und schon gar nicht in China vorkommen.
Der „Schutz von Zivilisten“ ist nicht nur ein unabweisbares Erfordernis. Im Kontext einer bewaffneten Auseinandersetzung folgt daraus zwangsläufig die Bombardierung von militärischen Zielen, also auch von Soldaten – oft zwangsrekrutierten Zivilisten –, die sich häufig unter unbewaffneten Menschen bewegen. Die Kontrolle einer „Flugverbotszone“ beinhaltet das Risiko, dass patrouillierende Flugzeuge abgeschossen und ihre Piloten gefangen genommen werden, was in der Folge Befreiungsaktionen rechtfertigt, also den Einsatz von Kommandotrupps auf feindlichem Boden.1 Die verbale Legitimierung lässt sich nach Belieben verfeinern, aber das Schönreden des Kriegs hat irgendwo seine Grenze.
Letzten Endes „gehört“ jeder Krieg nämlich denjenigen, die ihn beschließen und führen, und nicht den anderen, die ihn befürworten und davon träumen, dass er ein kurzes und fröhliches Unternehmen sein möge. Man kann sich noch so viele unfehlbare Pläne für einen Krieg ohne Hass und „Kollateralschäden“ oder andere Pannen ausdenken – mit der Umsetzung sind immer Streitkräfte betraut, die sich je nach ihren eigenen Neigungen, Methoden und Erfordernisse verhalten. Resultat der UN-Resolution 1973 sind mithin nicht nur die jubelnden Massen in Bengasi, sondern auch die Leichen der libyschen Soldaten, die bei ihrem Rückzug aus der Luft niedergemäht wurden.
Das fortschrittliche Lager – nicht nur in Europa – ist gespalten in der Frage, was im Fall Libyens zu tun sei. Bei manchen überwog die Solidarität mit einem unterdrückten Volk, bei anderen die Vorbehalte gegenüber einem Krieg des Westens. Beide Beurteilungskriterien sind zwingend, aber es ist nicht immer möglich, dass beide gleichzeitig erfüllt werden. In diesem Fall muss man sich entscheiden: Verleiht das Etikett des „Antiimperialisten“, das sich eine Diktatur auf internationaler Ebene verschafft hat, ihr das Recht, das eigene Volk zu unterdrücken?
Was Gaddafi betrifft, ist das Schweigen mehrerer linker Regierungen in Lateinamerika (Venezuela, Kuba, Nicaragua, Bolivien) zur Unterdrückung in Libyen höchst verstörend. Zumal die Opposition des libyschen Führers gegen „den Westen“ eine reine Fassade ist: In demselben Interview, in dem Gaddafi sich als Opfer einer „kolonialistischen Verschwörung“ stilisierte, versicherte er in einer Pariser Zeitung an die Adresse der ehemaligen Kolonialmächte, dass „wir uns alle im selben Kampf gegen den Terrorismus befinden“. Und erklärte mit Verweis auf die Kooperation der Nachrichtendienste: „Wir haben euch in den vergangenen Jahren sehr unterstützt.“2
Heute behauptet der libysche Diktator – bestärkt von Hugo Chávez, Daniel Ortega und Fidel Castro –, der Angriff auf sein Regime diene in Wirklichkeit dem Zweck, „sich des Öls zu bemächtigen“. Aber dieses Öl wird bereits jetzt vom US-Unternehmen Occidental, dem britischen Giganten BP und dem italienischen Staatskonzern Eni gefördert (siehe den Artikel auf Seite 5). Im Übrigen hat der Internationale Währungsfonds (IWF) erst vor Wochen „die robuste volkswirtschaftliche Entwicklung Libyens und die Fortschritte bei der Stärkung der Privatwirtschaft“ gelobt.3
Von der edlen Patina des Revolutionärs und Antiimperialisten, die man in Caracas und Havanna aufpolieren will, hat ganz sicher auch Anthony Giddens nichts bemerkt. Der Vordenker des von Tony Blair propagierten „Dritten Wegs“ prophezeite 2007 nach zwei Libyen-Reisen, das Land werde sich in absehbarer Zeit zu einem „Norwegen Nordafrikas“ entwickeln: „wohlhabend, egalitär und zukunftsorientiert“.4
Wenn man sieht, wie gezielt der libysche Führer ganz unterschiedliche Leute an der Nase herumgeführt hat, kann er jedenfalls nicht so verrückt sein, wie jetzt gerne behauptet wird.
Dass linke lateinamerikanische Regierungen in ihrer Einschätzung Gaddafis so danebenliegen, hat verschiedene Gründe. Erstens wollten sie in ihm wohl den Feind ihres Feindes, also der USA sehen; aber dass sie ihn gleich zu ihrem Freund erklärten, lässt sich nur auf ihre mangelnden Kenntnisse Nordafrikas zurückführen: So wenn Chávez erzählt, er habe Gaddafi angerufen, um sich über die Lage in Tunesien informieren zu lassen. Oder wenn Castro glaubt, einer „kolossalen Lügenkampagne der Medien“ entgegentreten zu müssen. Auch persönliche Erinnerungen spielen mit, die freilich zu schiefen Vergleichen verführen. So meinte Chávez zum Thema Libyen: „Ich weiß nicht, wieso, aber was dort geschieht, erinnert mich an Hugo Chávez am 11. April.“ Er meinte damit die Krise von 2002, als die konservativen Medien mit gezielten Falschinformationen den Putschversuch gegen seine Regierung unterstützt hatten.
Zur falschen Analyse der libyschen Realität tragen noch weitere Faktoren bei: etwa die Wahrnehmungsmuster, die geprägt sind durch Jahrzehnte bewaffneter Interventionen der USA in Lateinamerika; oder die Tatsache, dass Libyen Venezuela geholfen hat, in Afrika Fuß zu fassen; oder die Zusammenarbeit zwischen Caracas und Tripolis innerhalb der Organisation erdölexportierender Staaten (Opec) und des Afrika-Südamerika-Gipfels (ASA), der die Außenpolitik Venezuelas stärker auf eine Süd-Süd-Achse ausrichten soll.
Gaddafis letzter Trumpf – die Rhetorik des Kreuzzugs
Im Fall Chávez kommt noch die Überzeugung hinzu, dass politische Bündnisse seines Landes auch enge persönliche Beziehungen mit den jeweiligen Staatschefs bedeuten: „Ich war ein Freund von König Fahd von Saudi-Arabien, ich bin ein Freund von König Abdallah, der Caracas besucht hat, wir sind uns mehrmals begegnet und verstehen uns bestens. Ich bin mit dem Emir von Katar und dem Präsidenten von Syrien befreundet, der auch schon hier war. Und ich bin ein Freund von Bouteflika.“
Als das Regime Gaddafis mit Gewalt gegen das eigene Volk vorging, bekam diese Auffassung von Freundschaft ein fatales Gewicht. „Ich wäre doch ein Feigling, wenn ich jemanden verurteile, mit dem ich seit so langer Zeit befreundet bin, bevor ich sicher weiß, was in Libyen überhaupt vor sich geht.“5 Letztendlich hat Chávez damit die Gelegenheit verpasst, die Volksaufstände auf dem afrikanischen Kontinent als die kleinen Geschwister der lateinamerikanischen linken Bewegungen wahrzunehmen, die er ja zur Genüge kennt.
Jenseits der genannten Irrtümer ist die Außenpolitik ohnehin der Bereich, in dem sich die Machtausübung einer einzelnen Figur am klarsten als Fehler erweist, weil die Entscheidungen mangels jeglicher parlamentarischer Kontrolle und öffentlicher Debatten völlig undurchsichtig bleiben. Das gilt für jedes Land. Und wenn Außenpolitik, wie jetzt im Sicherheitsrat geschehen, so weit geht, die Verteidigung der Demokratie durch den Krieg zu propagieren, tritt der Widerspruch zwischen Tragweite der Entscheidung und mangelnder Kontrolle noch krasser zutage.
Nachdem Gaddafi anfangs auf den Fundus der antiwestlichen Geopolitik zurückgegriffen und das progressive Motiv der Verteidigung libyscher Ressourcen betont hatte, gab er ziemlich schnell der Versuchung nach, seinen letzten Trumpf auszuspielen: den Kampf der Religionen. Am 20. März verkündete er: „Die großen christlichen Mächte haben einen zweiten Kreuzzug gegen die muslimischen Völker begonnen – und vorweg gegen das libysche Volk –, mit dem Ziel, den Islam auszulöschen.“ Kaum zwei Wochen zuvor hatte Gaddafi noch seine Unterdrückungsmaßnahmen mit denen verglichen, die 140 000 Palästinenser erdulden müssen: „Sogar die Israelis brauchten Panzer, um in Gaza mit den Extremisten fertigzuwerden. Bei uns ist das genauso.“ Deshalb müssten Einheiten der libyschen Armee „kleine Al-Qaida-Zellen“ bekämpfen.6 Diese Sätze dürften die Beliebtheit des Führers in der arabischen Welt allerdings kaum gesteigert haben.
Diese letzte argumentative Volte Gaddafis vermittelt uns immerhin eine interessante Erkenntnis. Sie offenbart die Gefährlichkeit einer Politik, die sozusagen spiegelverkehrt auf Schlagworte wie Kampf der Kulturen und Kreuzzug setzt – also das große Thema der Neokonservativen im Westen. Bei der arabischen Aufstandsbewegung standen religiöse und nichtreligiöse Menschen Seite an Seite, genauso wie im Lager ihre Gegner.
Fundamentalisten auf dem Rückzug vor der Revolution
Dies lässt hoffen, dass in absehbarer Zeit Parolen keine Chance mehr haben, die antiimperialistisch klingen, tatsächlich aber nur antiwestlich sind. Und die in ihrer Verachtung für den Westen keinen Unterschied macht zwischen dessen größten Verbrechen – der Kanonenbootpolitik, der Verachtung für „eingeborene“ Völker, den Religionskriegen – und dessen größten Errungenschaften, von der Aufklärung bis zur Sozialversicherung.
Knapp zwei Jahre nach der iranischen Revolution von 1979 entwarf der radikale syrische Denker Sadik Jalal al-Azm die Grundzüge eines „umgekehrten Orientalismus“. Er lehnte den säkularen Nationalismus ebenso ab wie den revolutionären Kommunismus. Er propagiert stattdessen den Kampf gegen den Westen mittels Rückkehr zum wahrhaftigen Glauben: „Der Grad der Befreiung im Orient kann und darf nicht an ‚westlichen‘ Wertmaßstäben und Kriterien wie Demokratie, Säkularisierung und Frauenbefreiung gemessen werden; der muslimische Orient ist nicht mit dem erkenntnistheoretischen Instrumentarium der westlichen Wissenschaften zu erfassen; keine Analogie zu westlichen Phänomenen trifft den Kern der Sache; was die muslimischen Massen bewegt, ist kultureller, mithin religiöser Natur, und die Bedeutung dieses Faktors wiegt schwerer als ökonomische und gesellschaftliche Faktoren, die im Westen die Politik determinieren; der einzige Weg muslimischer Länder zurück zu ihrer alten Größe führt über den Islam; schließlich sind die Bewegungen, die sich die ‚Rückkehr‘ zum Islam auf die Fahnen geschrieben haben, entgegen der westlichen Wahrnehmung nicht reaktionär oder regressiv, sie sind im Gegenteil gerade deshalb fortschrittlich, weil sie der kulturellen Vorherrschaft des Westens trotzen.“7
Eine solche fundamentalistische Auffassung von Politik ist keineswegs schon am Ende. Aber seit dem von Tunesien ausgehenden Aufbruch kann man spüren, dass ihre Wirkungskraft gebrochen ist. Die „arabische Straße“ orientiert sich heute an der Formel „weder mit dem Westen noch gegen ihn“.8 . In Ägypten war ihr Gegner ein amerikatreues, in Syrien ist es ein antiwestliches Regime. Man lässt sich also nicht mehr von der Befürchtung verunsichern, dass individuelle Freiheitsrechte, Rede- und Gedankenfreiheit, politische Demokratie, gewerkschaftliche Rechte und der Feminismus demokratische Politik oder Gewerkschaften womöglich nur eine „westliche“ Agenda darstellen, die sich als emanzipatorischer Universalismus tarnt. Die arabischen Gesellschaften machen sich die demokratische Agenda vielmehr zu eigen, um gegen soziale Ungerechtigkeit und autoritäre, polizeistaatliche Regime zu opponieren, die ihre Untertanen umso mehr infantilisieren, je vergreister die Führungsriege ist.
Was wir erleben, ist ein gewaltiger revolutionärer Schub, der fast täglich neue soziale und demokratische Errungenschaften erzwingt (siehe Kasten). Und das genau in dem Moment, da der „Westen“ zutiefst gespalten scheint zwischen der Angst vor dem eigenen Niedergang und müder Resignation angesichts eines moribunden politischen Systems, in dem ein Wechsel nur noch zwischen austauschbaren Kräften im Dienste ewig gleicher Ziele stattfindet.
Dass diese Dynamik in der arabischen Welt anhält, ist alles andere als sicher. Aber schon jetzt eröffnet der mutige Aufbruch auch für uns neue Möglichkeiten des politischen Handelns, die wir bislang nicht genutzt haben. Im Artikel 20 der Resolution 1973 des Sicherheitsrats heißt es etwa, die eingefrorenen libyschen Bankguthaben im Westen sollten „in einer späteren Phase und so bald wie möglich dem Volk der arabischen Dschamahirija Libyens zur Verfügung gestellt und zu dessen Vorteil genutzt werden“. Es gibt also durchaus die Möglichkeit, das Geld einiger weniger zu konfiszieren, um es den Bürgern ihres Landes zurückzugeben. Ein Staat hat offenbar die Macht, den Bedürfnissen des Volkes zu dienen. Und noch eine Einsicht von universeller Gültigkeit kann uns die arabische Welt in Erinnerung rufen: Die Menschen haben die Macht über ihren Staat, wenn sie es wollen.
Fußnoten:
Vom Maghreb bis Oman: die Maßnahmen der Regime
Marokko
Wirtschaft & Soziales
– Die staatliche Subventionierung von Konsumgütern (vor allem Benzin und Gas) wurde um 15 Milliarden Dirham (1,5 Milliarden Euro) aufgestockt und damit verdoppelt.
Politik
– Am 9. März kündigte König Mohammed VI. eine Verfassungsreform an. Künftig soll der Ministerpräsident von der stärksten Fraktion des Parlaments bestimmt werden. Der König versprach auch, den Rechtsstaat zu stärken, die Unabhängigkeit der Justiz zu sichern und die Gleichstellung der Berber und ihrer Sprache Tamazight in der neuen Verfassung zu verankern.
Algerien
Wirtschaft & Soziales
– Für neue Sozialprogramme wurden Haushaltsgelder in Höhe von 20 Milliarden Euro bewilligt, unter anderem für zinslose Kredite für junge Leute.
– Die Bekämpfung des Schwarzhandels wurde vollständig eingestellt.
– Die Gehälter der Universitätsprofessoren wurden auf das Vierfache angehoben, von umgerechnet 500 auf 2 000 Euro, junge Arbeitslose sollen Beihilfen erhalten; 120 000 Hausfrauen mit Hochschulabschluss sollen mit Hilfe staatlicher Kleinkredite ein eigenes Geschäft eröffnen können.
– Das Justizpersonal, das im Februar gestreikt hat, erhält eine Gehaltserhöhung um 110 Prozent.
– Innenminister Daho Ould Kablia hat verkündet, dass den Dorfwächtern (einer Hilfstruppe der Gendarmerie) acht ihrer vierzehn Forderungen erfüllt wurden, unter anderem wurden Lohnerhöhungen, höhere Zulagen, Urlaubsgeld und die Bezahlung von Überstunden bewilligt.
– Die Zuckersteuer wurde gesenkt.
– Die Regierung hat Infrastrukturmaßnahmen in Höhe von 112 Milliarden Euro angekündigt.
Politik
– Am 24. Februar wurde der seit neunzehn Jahren geltende Ausnahmezustand aufgehoben.
– Am 19. März kündigte Präsident Bouteflika „umfassende politische Reformen“ an, ohne Details zu nennen.
Libyen
– In einigen Bereichen der staatlichen Bürokratie wurden die Gehälter um 150 Prozent erhöht; die Staatsführung bewilligt jeder Familie eine Sonderzahlung von 324 Euro.
– Für wichtige Lebensmittel wurden Zollabgaben und Steuern abgeschafft.
Jordanien
Wirtschaft & Soziales
– Die Gehälter der Staatsdiener und des Militärs wurden erhöht.
– Im Staatsdienst wurden 21 000 neue Stellen ausgeschrieben – 6 000 davon bei Polizei und Gendarmerie.
– Steuern auf Benzin und Grundnahrungsmittel wurden gesenkt.
– Entwicklungsprojekte in den ärmsten Regionen des Landes erhalten zusätzliche Kredite.
Politik
– Am 1. Februar erfüllte König Abdallah die Forderung der Demonstranten entließ Ministerpräsident Samir al-Rifai . Zum Nachfolger wurde Marouf al-Bakhit berufen.
– Nach weiteren Protesten versprach der König „echte politische Reformen“, einen „Dialog zwischen allen Kräften“ und verstärkten Kampf gegen die Korruption.
Syrien
Wirtschaft & Soziales
– Die Regierung bewilligte 187 Millionen Euro zur Unterstützung der Armen und eine Erhöhung des monatlichen Heizkostenzuschusses von 14,70 auf 23,50 Euro pro Familie (der Zuschuss war trotz steigender Ölpreise seit 2001 nicht erhöht worden).
– Die Steuern auf Kaffee und Zucker wurden gesenkt, andere Grundnahrungsmittel dadurch verbilligt, dass die Einfuhrzölle reduziert wurden.
Politik
– Der Staat erlaubt offiziell den Zugang zu den sozialen Netzwerken im Internet, YouTube und Facebook.
– Mit Dekret vom 18. März wurde der Wehrdienst um drei Monate auf achtzehn Monate verkürzt.
– Am 3. April betraute Staatspräsident Assad den früherenLandwirtschaftsminister Adel Safar mit der Bildung einer neuen Regierung.
Saudi-Arabien
Wirtschaft & Soziales
– Im Februar wurde ein Sozialplan in Höhe von 25,6 Milliarden Euro angekündigt. Am 18. März stellte der König weitere zig Milliarden in Aussicht, unter anderem für eine Sonderzulage für alle Staatsdiener in zweifacher Höhe des Monatsgehalts, eine Sonderzahlung in Höhe von 375 Euro an alle Arbeitslosen, die Anhebung des Mindestlohns für alle saudischen Bürger auf 560 Euro, ein Kreditprogramm für den Bau von 500 000 neuen Wohnungen sowie zusätzliche 3 Milliarden Euro für das Gesundheitswesen.
– Eine Kommission zur Bekämpfung der Korruption wurde eingerichtet, deren Leiter Ministerrang haben soll.
– Beim Innenministerium wurden 60 000 neue Stellen für „Sicherheitspersonal“ geschaffen.
Politik
– Beim Innenministerium wurden 60 000 neue Stellen für „Sicherheitspersonal“ geschaffen.
– Seit dem 18. März gilt ein königliches Dekret, das die Medien unter Androhung von Strafen zum „Respekt vor dem Klerus“ verpflichtet.
– Ende März wurde eine Fatwa, die Demonstrationen und Proteste als „unislamisch“ verurteilt, in 1,5 Million Exemplaren gedruckt und verteilt.
Kuwait
– Jeder Staatsbürger erhielt eine einmalige Sonderzahlung von 2 647 Euro.
– Die Staatsführung verteilte kostenlos Lebensmittel im Wert von 600 Millionen Euro.
Bahrain
Wirtschaft & Soziales
– 35 800 Familien werden 25 Prozent der Kreditsumme erlassen, die sie im Rahmen des staatlichen Wohnungsbauprogramms aufgenommen haben.
– Der Innenminister kündigte an, 20 000 neue Arbeitsplätze zu schaffen; der König sagte jeder Familie eine Sonderzahlung von 1 790 Euro zu. Für die ärmsten Familien sind weitere 120 Millionen Euro vorgesehen.
Politik
– Mehr als 300 politische Gefangene kamen frei.
– Hassan Muschaima, dem bekanntesten Exilpolitiker, wurde die Rückkehr gestattet.
– Fünf Minister wurden wegen Machtmissbrauchs entlassen.
– Nachdem Kronprinz Salman Bin Hamad al-Kalifa zunächst erklärt hatte, der Dialog mit der Opposition habe ein „Parlament mit realen Machtbefugnissen“ und eine „das Volk repräsentierende Regierung“ zum Ziel, wurden diese Versprechen am 15. März wieder zurückgenommen: Das Königreich erklärte den Ausnahmezustand und forderte Truppen aus Saudi-Arabien und den Staaten des Golf-Kooperationsrats an.
Jemen
– Am 2. Februar hat Präsident Ali Abdullah Saleh zugesagt, dass weder er noch sein Sohn bei den Präsidentschaftswahlen 2013 kandidieren werde.
– Am 19. März entließ der Präsident die Regierung, die aber vorerst weiter amtiert.
– Ende 2011 soll eine Volksabstimmung über eine neue Verfassung stattfinden, die eine parlamentarische Demokratie vorsehen kann. Der Präsident will zu diesem Zeitpunkt aber nur dann zurücktreten, wenn er die Macht „in sichere Hände“ übergeben kann.
Oman
Wirtschaft & Soziales
– Sultan Qabus versprach 50 000 neue Arbeitsplätze und 350 Euro Arbeitslosengeld pro Monat.
– Der Mindestlohn wurde von 261 auf 373 Euro erhöht.
Politik
– Zehn Minister wurden entlassen, vier der der neuen Minister gehören dem Konsultativrat an, dessen Mitglieder demokratisch gewählt werden.
– Sultan Qabus versprach erweiterte Kompetenzen für das Parlament. Eine vom Sultan berufene Kommission soll befinden, welche Verfassungsänderungen dazu nötig sind. Das Gremium soll aus zwei Kammern bestehen, bei der einen werden die Mitglieder von dem Herrscher bestimmt.
Die laufenden Ereignisse in der arabischen Welt dokumentiert eine interaktive Grafik im Guardian: www.guardian.co.uk/world/interactive/2011/mar/22/middle-east-protest-interactive-timeline.