Gescheiterter Staat mit intaktem Kaiser
Im Katastrophenfall hält sich Japan an seinem Monarchen fest von Harry Harootunian
Katastrophale Naturereignisse wie Dürren, Epidemien, Vulkanausbrüche, Kometen, Erdbeben, aber auch das Auftauchen ausländischer Mächte wertete man in Japan in vergangenen Zeiten als untrügliche Anzeichen für das moralische Versagen der eigenen Staatsführung. Weil die gesellschaftliche Ordnung auf einer engen Verbundenheit mit der Natur beruhte, sich dieser also anverwandeln musste, wurde jede Abweichung vom normalen Gang der Dinge, zumal in Gestalt einer Naturkatastrophe, als mahnender Hinweis auf ein moralisches Versagen interpretiert. Und als Vorbote eines noch größeren Unheils, das zum Zusammenbruch des politischen Regimes führen würde.
Auf diese traditionelle politische Weisheit bezog sich jene ältere Dame aus Tokio, die in der New York Times vom 20. März mit dem Satz zitiert wurde: „Wenn die Führung eines Landes schlecht ist, gibt es eben Naturkatastrophen.“1 Der Gouverneur von Tokio ließ sich durch das Beben vom 11. März und seine Folgen zu einem verbalen Ausbruch inspirieren: Dies alles, sagte Ishihara Shintaro, sei „die Rache des Himmels“ (tenbatsu) für die verbreitete Selbstsucht, den herrschenden „Materialismus“ und den „Kult des Geldes“. Deshalb solle man das Beben und den Tsunami dazu „nutzen“, den hedonistischen Lebensstil „hinwegzuspülen“ und die Japaner wieder auf den rechten Weg zu bringen.
Es sei daran erinnert, dass Kaiser Hirohito 1946 seinen Kopf zu retten versuchte, indem er den Krieg auf die moralische Verlotterung des Volkes zurückführte, das sich von Materialismus und Konsumdenken habe verführen lassen. Die Kritik des Gouverneurs von Tokio war der nicht minder opportunistische Versuch, vor den Wahlen politische Verantwortung abzuwälzen. Denn wenn der Tsunami etwas „hinweggespült“ hat, dann nicht die moralische Verwahrlosung der Japaner, sondern die Lebensgrundlage zahlloser Menschen, die ihr Zuhause verloren haben.
Zugleich hat die Katastrophe ein ungeheures kollektives Trauma hinterlassen – was das instinktlose Gerede des Gouverneurs nur noch obszöner macht. Unmittelbar nach dem Erdbeben wurde rasch klar, dass es jenseits der sichtbaren und noch gar nicht genau erfassten Zerstörungen, der noch ungezählten Toten und der über 400 000 Obdachlosen die noch viel schlimmere Bedrohung durch die Nuklearanlage in Fukushima gibt. Niemand weiß, was die Ereignisse dort für die fernere Zukunft genau bedeuten werden.
Das Volk ist selbst schuld
Der Chef der Tokyo Electric Power Company (Tepco) brach in einer Fernsehsendung vor der ganzen Nation in Tränen aus, als er sich tausendmal für die „Unannehmlichkeiten“ entschuldigte, die das Unglück für die Menschen gebracht hatte. Zugleich räumte er ungewollt ein, dass er und seine Kollegen nicht genau wussten, was zu tun sei. Schon 2007 war bei einem Erdbeben von geringerer Stärke (6,8) im Westen Japans ein großer Atomreaktor des Unternehmens beschädigt worden und nur mit Glück einer Katastrophe entgangen, wobei die Sicherheitsstandards nicht für ein Erdbeben dieser Stärke ausgelegt waren.
Seitdem sind noch sehr viel mehr Fehler und Versäumnisse ans Licht gekommen. Vor allem konnte die Regierung die Bevölkerung nie genau informieren, weil sie selber nicht wusste, was in dem Reaktor vorgeht. Und die Unternehmensspitze brauchte viel zu lange, bis sie sich dazu durchrang, Maßnahmen zur Kühlung der Reaktorblöcke einzuleiten, weil sie die Anlagen nicht unbrauchbar machen wollte. Inzwischen musste Tepco längst eingestehen, dass der ganze Komplex Fukushima nicht mehr zu retten ist.
Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass der Reaktorbetreiber auch für die gefächerten Stromabschaltungen zuständig war. Das verweist auf die nie offengelegte Beziehung zwischen dem Staat und dem Unternehmen. Verbraucherschutzorganisationen hatte diese allzu enge Partnerschaft schon lange kritisiert. Beide Seiten haben nachweislich immer wieder auf fast kriminelle Weise nukleare Störfälle vertuscht und deren Gefährlichkeit heruntergespielt. Deshalb wächst jetzt auch das Misstrauen gegenüber offiziellen Beteuerungen, was die Sicherheit von Nahrungsmitteln betrifft. Zumal noch niemand die Tatsache angesprochen hat, dass die betroffene Region ein wichtiger Reislieferant ist.
Die Unternehmensleitung von Tepco ist seit langem für Inkompetenz und Vernachlässigung der arbeitsrechtlichen Vorschriften bekannt. Für Wartungsarbeiten wurden ungelernte Arbeiter angeheuert, die mit unzureichender Schutzkleidung ausgerüstet sind. Diese Arbeitskräfte sind inzwischen buchstäblich „aufgebraucht“, sodass für die aktuellen Einsätze in den verseuchten Reaktoren mittels hoher Prämien Freiwillige rekrutiert werden. Heute ist das Unternehmen praktisch bankrott, und es ist klar, dass es vom Staat gerettet und wahrscheinlich übernommen werden muss.
Die aktuelle Krise macht auf dramatische Weise deutlich, was es bedeutet, eine ganze Kette von Atomkraftwerken entlang einer erdbebengefährdeten Küste zu bauen, die auch noch besonders häufig von Tsunamis heimgesucht wird, wie es insbesondere für die Küste der Provinz Sanriku gilt. Das Beben und der Tsunami bedeuten einen vernichtenden Schlag für die Wirtschaft des Nordostens der Insel Honshu, die schon seit langem gegenüber den meisten anderen Landesteilen in Rückstand geraten war. Die Region war aus historischen Gründen bereits seit dem 19. Jahrhundert weniger entwickelt als andere; und das Konzept, die nukleare Energiegewinnung gerade in dieser Küstenregion zu konzentrieren, sollte gerade regionale Wachstumsimpulse setzen und die Abwanderung der Bevölkerung in die reicheren Ballungszentren des Südens verhindern.
Die betroffenen Bewohner des Krisengebiets vergleichen die zögerliche und unregelmäßige Hilfstätigkeit der Regierung mit der Situation nach dem Erdbeben von Kobe. 1995 dauerte es mehrere Tage, bis die staatlichen Stellen den Ernst der Lage auch nur eingestanden, und fast eine Woche, bis die ersten Hilfslieferungen eintrafen. Damals hatte die Regierung sogar Hilfe aus dem Ausland abgelehnt, die sie 16 Jahre später, wenn auch mit einiger Verzögerung, notgedrungen akzeptiert hat.
Seit den 1950er Jahren wurde den Japanern eine politische Ordnung aufgezwungen, die Werte wie harte Arbeit und klaglose Aufopferung sowie konformistische Verhaltensweisen wie Standhaftigkeit, Loyalität und Unterordnung propagiert, was einerseits die passive Hinnahme einer autistischen Einparteiendemokratie begünstigt hat, andererseits aber auch ein gründliches Misstrauen gegenüber der politischen Führung.
In seiner Fernsehansprache rief Kaiser Akihito seine Landsleute dazu auf, Ruhe zu bewahren, und drückte die Hoffnung aus, dass sie zusammenstehen und sich gegenseitig helfen mögen. Und er erinnerte an die berühmte Rede seines Vaters, des Kaisers Hirohito, der am Tag der Kapitulation, am 15. August 1945, im Radio die Nation aufgefordert hatte, „das Unerträgliche zu ertragen“. Dieser Hinweis ist auch deshalb bemerkenswert, weil die Regierung bislang jeden Bezug auf Hiroshima und Nagasaki vermieden und nie an die Opfer radioaktiver Strahlung seit 1945 erinnert hat.
Obwohl Kaiser Akihito, anders als sein Vater, keinen göttlichen Status mehr beansprucht, hatte die Entscheidung, ihn im Fernsehen um Ruhe und Geduld bitten zu lassen, eine präzise Bedeutung. Sie sollte der Bevölkerung klarmachen, dass sie ruhig bleiben und weitere Opfer bringen müsse. Insofern unterstreicht der Rückgriff auf die kaiserliche Autorität das Motiv der „Rache des Himmels“, das der Gouverneur von Tokio angesprochen hatte.
Kontinuität seit 1945
Dass Akihito derart instrumentalisiert werden konnte, belegt auf dramatische Weise, welch herausragende Bedeutung das Kaisertum für die japanische Gesellschaft hat – und wie unglückselig die Entscheidung der USA war, diese Institution nach 1945 am Leben zu halten –, auch wenn die meisten Japaner das anders sehen.
Hier zeigt sich eine höchst widersprüchliche Einstellung: Einerseits wird das Kaisertum und dessen Anspruch auf nationale Repräsentation für unerheblich erklärt, andererseits aber werden der Status des Kaisers und seine Herrscherfunktion selbst zu Beginn des 21. Jahrhundert in keiner Weise angezweifelt. Genau diesen Widerspruch nutzt die Regierung heute aus, um eine politische Zerreißprobe abzuwenden. Selbst Japaner, für die der Monarch im täglichen Leben keinerlei Relevanz hat, verhalten sich noch immer, als verkörpere er das gemeinschaftliche Ganze.
Als Symbol und Titularoberhaupt ist er nach wie vor in der Lage, die Hinnahme der gegebenen politischen Konstellation zu erreichen. Was sich hier vollzieht, ist die Übertragung der Loyalitätsgefühle gegenüber der (ethnisch definierten) Gemeinschaft auf den Staat. So gesehen ermöglicht – und verkörpert – der Kaiser die Verschmelzung beider Bereiche im Bewusstsein der Bürger. Die sollen den Bereich des Sozialen, den eine ethnische Gruppe konstituiert, mit der politischen Form der Führung verwechseln, die man ihnen vorgesetzt hat. Diese falsche Identifizierung wird noch verstärkt durch das patriarchalische Prinzip – die Idee vom Kaiser als Vater seines Volkes.
Das offenkundige Versäumnis der Regierung, die Bevölkerung durch genaue Informationen und ausreichende Hilfe zu beruhigen, droht die bedachtsam aufgebaute Identifikation von souveränem Volk und politischer Führung aufzusprengen. Und noch ein Faktor arbeitet gegen die politische Klasse: Die historische Tatsache, dass das Versagen in der aktuellen Krise nur das jüngste Beispiel für eine lange Geschichte politischer Unfähigkeit ist, lässt Zweifel wachsen, dass die noch viel schwierigere Aufgabe des Wiederaufbaus bewältigt werden wird. Die Hoffnung auf einen erfolgreichen Neubeginn, der an die Erfolge der Vergangenheit – wie den Wiederaufbau Tokios vor dem Zweiten Weltkrieg und die Neubegründung der Nation nach 1945 – anknüpfen könnte, ist allerdings hoffnungslos nostalgisch und verstellt nur die Sicht auf die Realität. Die alte Ideologie bietet für die Gesellschaft und ihre Regierung keinerlei Hoffnung, die jetzige Krise bewältigen und verhindern zu können, dass Japan zum gescheiterten Staat wird.
Aus dem Englischen von Niels Kadritzke Harry Harootunian ist Professor an der Duke University, North Carolina, und an der Columbia University, New York. Autor (zusammen mit Tomiko Yoda) von „Japan After Japan: Social and Cultural Life from the Recessionary 1990s to the Present (Asia-Pacific)“, Durham (Duke University Press) 2006.