Geldspeicher China
von Martine Bulard
Schon vor dem Tsunami am 11. März hatte China Japan überholt und ist zur zweitgrößten Wirtschaftsmacht der Welt aufgestiegen. Verkündet wurde diese Nachricht Anfang Februar 2011 in Tokio – und nicht in Peking. Die chinesischen Machthaber, sonst nicht für ihre Bescheidenheit bekannt, verzichten auf lautstarken Triumph, weil das Reich der Mitte sich seinen Doppelstatus als Entwicklungsland und aufsteigende Supermacht erhalten will. So kann es vor allem in den internationalen Institutionen je nach Situation mal die eine und mal die andere Karte ausspielen.
Mit einem Bruttoinlandsprodukt (BIP) von 5 880 Milliarden Dollar liegt China immer noch weit hinter den Vereinigten Staaten, die zweieinhalbmal so viel Waren und Dienstleistungen produzieren (14 600 Milliarden Dollar). Das chinesische BIP pro Kopf beträgt allerdings nur 7 400 Dollar1 , ein Fünftel des japanischen, und liegt damit sogar noch deutlich unter dem von Tunesien. Dennoch verfügt China mit seinen 2 800 Milliarden Dollar Devisenreserven, seinem Anteil von knapp 14 Prozent an der weltweiten Produktion – 1990 waren es gerade einmal 3 Prozent – und seinem Anteil von 10 Prozent am gesamten Welthandel über ein erhebliches finanzielles und industrielles Potenzial.2 Bei den Militärausgaben nimmt China den dritten Platz ein.
Lange Zeit sahen die USA im Reich der Mitte nur die „Werkbank der Welt“ – nützlich, um die amerikanischen Löhne zu senken und die Profite zu steigern. Heute stehen sie einem politischen und wirtschaftlichen Konkurrenten gegenüber. Der Honeymoon, der am 21. Februar 1972 mit dem Pekingbesuch von Richard Nixon begonnen hatte, geht zu Ende. Nach vierzigjähriger „Freundschaft“ lässt sich China nichts mehr vormachen. „Das Risiko ist groß, dass sich die USA in Asien wieder weniger chinafreundlich engagieren“, hieß es im November letzten Jahres in der Financial Times. Man müsse „kein paranoider Verschwörungstheoretiker sein, um zu vermuten, dass die USA versuchen, Asien gegen China aufzuhetzen.“
Die Zeitung verweist auf eine Erklärung von Hillary Clinton in Phnom Penh, wo die US-Außenministerin Kambodscha empfahl, „darauf zu achten, dass die Abhängigkeit von China nicht zu groß wird“. Daraufhin fragte der chinesische Außenminister: „Können Sie sich vorstellen, dass China Mexiko rät, darauf zu achten, dass die Abhängigkeit von den USA nicht zu groß wird?“3
Weit entfernt von Chinamerica
Im November 2010 unternahm US-Präsident Obama eine Asienreise. Er besuchte Japan, dessen Beziehungen zu China gespannt sind, Südkorea, das im Konflikt mit dem chinesischen Verbündeten Nordkorea liegt, Indonesien, das die für den Welthandel wichtige Straße von Malakka kontrolliert, und Indien, wo es ebenfalls starke Spannungen mit China gibt. Zuvor war Hillary Clinton in Kambodscha, Malaysia, Vietnam und Australien gewesen, wo Militärabkommen unterzeichnet (oder ergänzt) wurden. Und schließlich fanden im November und Dezember 2010 amerikanisch-südkoreanische Militärmanöver vor der chinesischen Küste statt.
Washington will in der Region, in der China an Einfluss gewonnen hat, wieder stärker zum Zuge kommen. Das allein reicht, um die chinesische Paranoia zu nähren und den asiatischen Riesen dazu zu bringen, seine Muskeln spielen zu lassen. Wir sind weit entfernt von einem Chinamerica, das angeblich den Beginn des 21. Jahrhunderts kennzeichnen sollte. Es herrscht weder herzliches Einverständnis noch offene Konfrontation. Jeder besteht darauf, seinen Weg zu gehen. Trotz unterschiedlicher Interessen entwickelt sich dabei die wirtschaftliche Zusammenarbeit weiter.
Während Obama gegenüber Präsident Hu Jintao den chinesischen Handelsbilanzüberschuss kritisierte, kündigte General Electric am 18. Januar 2011 ein Abkommen mit China über gemeinsame Produktion und Technologietransfer an. Es soll dazu beitragen, den innerchinesischen Bedarf zu decken, aber auch dem Reexport dienen.
Die Hälfte der chinesischen Exporte werden von Firmen abgewickelt, die nicht in chinesischem Besitz sind. Diesen Unternehmen käme eine Aufwertung des Yuan vermutlich nicht gelegen, weil sie ihre Exporte verteuern würde. Aber die US-Geschäftswelt weiß ihre Interessen zu wahren – im Januar hat der bisherige Chef von General Electric, Jeffrey Immelt, den Vorsitz des wirtschaftlichen Beratungsgremiums des US-Präsidenten übernommen. Die chinesischen Geschäftsleute können also ruhig schlafen.
Hu Jintao erlaubt sich sogar, die USA zu mehr Exporten in sein Land aufzufordern. Zur Bekräftigung erklärte der chinesische Außenminister: „Die Hauptursache für das US-Defizit besteht weniger im starken Yuan als vielmehr in den Exportbeschränkungen für China.“4 Nur 7 Prozent der chinesischen Importe von Spitzenprodukten kommen aus den USA. Seit der Niederschlagung der Proteste auf dem Tiananmenplatz 1989 haben die USA und Europa nämlich ein Embargo für duale (zivil und militärisch nutzbare) Technologien verhängt. Dieses Embargo möchte China beenden. Der Handel ist nur ein vorgeschobenes Argument, in Wirklichkeit will man Zugang zu diesen Spitzentechnologien erhalten.
Die Forderung von Amerikanern und Europäern, den Yuan aufzuwerten und die Handelsbeschränkungen aufzuheben, stoßen in Peking jedoch auf taube Ohren. Am 18. und 19. Februar fand in Paris die Sitzung der Finanzminister der G 20 statt. Am Vorabend erklärte Tang Jiaowei, Ökonom an der Universität von Schanghai: „Das Treffen in Paris wird nicht wie das Treffen im Plaza in New York enden.“ Dort hatten die USA im September 1985 durchgesetzt, dass Japan seine Währung aufwertete und seine Exporte freiwillig beschränkte. In den darauffolgenden drei Jahren war der Yen gegenüber dem Dollar um 100 Prozent gestiegen. Die japanischen Exporte sackten in den Keller, die Produktionsverlagerung ins Ausland (vor allem nach China) nahm zu – und die japanische Wirtschaft hat sich nie wieder davon erholt.
Ein solches Szenario fürchten auch die Chinesen. Deshalb haben sie Frankreich, die USA und den Internationalen Währungsfonds (IWF) abblitzen lassen, als die in Paris ihre Good-Governance-Kriterien durchsetzen wollten. Unterstützung bekam China aus Deutschland, dessen Erfolg vor allem auf dem Export beruht. Auch Deutschland widersetzte sich einer Deckelung der Exportüberschüsse. Der deutsche Handelsüberschuss liegt bei 6,7 Prozent des BIPs,5 der chinesische lediglich bei 4,7.
Grundsätzlich lehnt Peking jede Einmischung in seine Wirtschaftspolitik ab. Aus Angst vor rückläufigen Exporten und steigender Arbeitslosigkeit widersetzt es sich allen währungspolitischen Restriktionen. Bei seinem Besuch in Washington im Januar schob Hu Jintao den Schwarzen Peter an Präsident Obama zurück: „Die Geldpolitik der USA hat großen Einfluss auf die weltweite Liquidität und die Kapitalbewegungen. Die Dollarliquidität sollte also auf einem stabilen und vernünftigen Niveau bleiben.“6
Gemeint war die US-Zentralbank Fed, die die Notenpresse angeworfen und 600 Milliarden Dollar in die Wirtschaft gepumpt hatte, ohne beziehungsweise fast ohne dabei auch den sozialen Bereich zu berücksichtigen. Das waren die Ursachen der Krise von 2008: ungenügende Lohn- und Sozialeinkommen bei gleichzeitiger Anhäufung riesiger Kapitalmengen. Kaum ist die Krise vorbei, setzt Washington wieder die Geldpumpe in Gang. Die Folge ist noch mehr Ungleichheit.
Die Dollarflut heizt in Hochzinsländern tatsächlich die Spekulation mit Staatsschulden an. Um den Schuldendienst zu gewährleisten, setzen Regierungen und IWF überall einen harten Sparkurs durch. Solange das Wachstum nicht in Gang kommt, fließt das Kapital außerdem in Rohstoffe (Gold, Erdöl, Kupfer und so weiter) sowie in landwirtschaftliche Produkte, deren Preise in die Höhe schießen. Das beunruhigt inzwischen sogar die Weltbank, die weitere Hungerrevolten fürchtet.
Renminbi heißt Volkswährung
Darüber hinaus wandert das Kapital auch in Devisen und Börsenwerte. Die Staaten müssen intervenieren, um eine Aufwertung ihrer Währung zu verhindern, die den Export schwächt. Für Chinas Kampf gegen dieses „gefährliche Ungleichgewicht“ gibt es viel Sympathie sowohl in Asien – Japan, Malaysia, Südkorea und Taiwan haben schon unglaubliche Summen ausgegeben, um Dollar zu kaufen – als auch in Lateinamerika, wo Brasilien den Kapitalimport besteuert hat.
Konsequenterweise haben am Rande des Pariser G-20-Gipfels die Bric-Länder (Brasilien, Russland, Indien, China) gemeinsam gegen die Normen protestiert, die man ihnen auferlegen wollte.7 Bisher konnten die USA und ihre Verbündeten den Süden noch nicht gegen China auf ihre Seite ziehen. Trotzdem wissen die Chinesen, dass sie nicht auf ihren Positionen beharren können und einen Kurswechsel vornehmen müssen. Nach außen und nach innen.
Während China und Brasilien in Paris einen gemeinsamen Standpunkt gegenüber den reichen Ländern einnahmen, stritten sie sich in Brasília über die Flut chinesischer Waren – es war sogar vom „Bikini-Krieg“ die Rede. Um in Währungsangelegenheiten mitbestimmen zu können, braucht Peking eine international anerkannte, konvertierbare Währung. Anders als die großen Geldgeber der Welt behaupten, muss deshalb nicht zwangsläufig Schluss sein mit der Kontrolle über die Wechselkurse.
Die Chinesen haben mit der Internationalisierung des Renminbis, wie der Yuan auch genannt wird, begonnen und einige Beschränkungen aufgehoben. Am 11. Januar 2011 haben sie die Möglichkeiten für Transaktionen in Yuan, die zuvor schon für Brasilien, Russland und einige ostasiatische Länder bestanden, auf die zentralasiatische Staaten ausgeweitet.
Erstmalig erlaubte die chinesische Führung großen internationalen Konzernen wie McDonald’s oder Caterpillar, Aktien direkt in Yuan an der Börse in Hongkong auszugeben. Gleichzeitig wurde allerdings die Möglichkeit für Ausländer eingeschränkt, Gewerbeflächen oder private Wohnungen zu kaufen. Damit will China die spekulative Geldströme eindämmen. „Wenn wir die Immobilienblase nicht kontrollieren und zulassen, dass eine Blase auf dem Aktienmarkt entsteht, während wir den Yuan einer freien Bewertung aussetzen, droht China ein massiver Zustrom von ausländischem Kapital“,8 erklärte Deng Xianhong, der stellvertretende Chef der Devisenaufsichtsbehörde.
Der Gouverneur der Zentralbank, Zhou Xiaochuan, wies darauf hin, dass der Yuan gegenüber dem Dollar seit Sommer 2010 um fast 4 Prozent gestiegen sei, was einem jährlichen Wachstum von 8 bis 10 Prozent entspreche. „Wir werden den Wechselkurs weiter anpassen“9 – allerdings im chinesischen Tempo, das heißt in einem Tempo, das den chinesischen Aufschwung nicht gefährdet. Das Land muss jedes Jahr 9 Millionen Arbeitsplätze schaffen, um seine hinzukommenden Arbeitskräfte aufnehmen zu können. Andererseits darf das rasante Wachstum nicht zu einer Überhitzung führen.
Die Regierung hat unverzüglich Maßnahmen ergriffen, um die Preisexplosion zu bekämpfen, von der insbesondere Lebensmittel betroffen sind, aber auch importierte Rohstoffe, deren Teuerung durch eine Aufwertung des Yuans teilweise ausgeglichen werden könnte. Die gegenwärtige Kurssteigerung kommt also zum richtigen Zeitpunkt, auch wenn sie die Exporte verteuert. Zum ersten Mal seit zehn Jahren ist der Handelsüberschuss 2010 um fast 7 Prozent gesunken, was auf eine gewisse Belebung des Binnenkonsums hinweist.
Die Entdeckung des Binnenmarkts
Dennoch droht eine Kreditinflation. Um die Überhitzung der Investitionen und die Immobilienblase zu begrenzen, versucht die chinesische Führung, den Kredithahn zuzudrehen. Zum dritten Mal innerhalb von vier Monaten wurden die Zinsen und das vorgeschriebene Eigenkapital der Banken erhöht. Außerdem wurde eine Steuer für den Wiederverkauf von Wohnung erhoben, die nicht für die Eigennutzung vorgesehen sind.
Die Kehrtwende zu einem sparsameren und auf die Bedürfnisse des chinesischen Binnenmarkts gerichteten Modell erweist sich jedoch als schwierig. Die Veränderung wird laut Zhou „viel Zeit brauchen. Sie erfordert eine radikale Veränderung der Produktionsweise und eine entsprechende Ausbildung der Arbeiter. […] So ein Zyklus dauert zehn Jahre.“10
Wer weiß, ob die Chinesen so lange warten wollen. Die Unzufriedenheit wächst, die Lohnkämpfe werden härter.11 Die Empörung über die ungerechte Verteilung des Wohlstands erreicht Teile der Mittelschicht, die bisher mit ihrer eigenen Bereicherung beschäftigt war. Liu Junshen, Wissenschaftler an einem Institut, das dem Ministerium für Arbeit und soziale Sicherung untersteht, sorgte mit einem Artikel in der hochoffiziellen China Daily für großes Aufsehen. Unter der Überschrift „Höhere Löhne sind lebenswichtig für das Land“ kritisiert er die – trotz der produzierten Reichtümer – sinkenden Einkommen und die wachsende Ungleichheit. Er kommt zu der Schlussfolgerung: „Dieses Ergebnis passt nicht zum Ziel Chinas, eine harmonische Gesellschaft aufzubauen.“12
Einen offiziellen Kommentar gab es zu diesem Artikel natürlich nicht. Immerhin ließ Präsident Hu in eine Rede vor den Kadern der Kommunistischen Parteischule in Peking über den „Weg zu Harmonie und Stabilität“13 auch eine Warnung einfließen: „Wir stehen an einem Punkt, wo zahlreiche Konflikte ausbrechen können.“ Auch der zwölfte Fünfjahrplan (2011–2015) zeugt von dieser Sorge. Seine Schwerpunkte sind Konsumsteigerung, Wohnungsbau, soziale Absicherung, Inflationsbekämpfung und Innovationen. Der Plan wurde dem Nationalen Volkskongress vorgelegt, der wie jedes Jahr im März getagt und ihn am 14. März erwartungsgemäß mit großer Mehrheit angenommen hat.