Umdenken statt neu bauen
Ein Plädoyer gegen den Beton von Bernd Sommer und Harald Welzer
Das Thema des deutschen Pavillons auf der Architekturbiennale in Venedig 2012 lautete „Reduce, Reuse, Recycle“. Muck Petzet, dem Generalkommissar für den deutschen Beitrag, ging es um den Umgang mit dem Bestehenden, das durch „Revitalisierung, Umnutzung, Verdichtung, Ergänzungen sowohl in bestehenden Gebäuden als im Gewebe der Städte“ den veränderten Bedingungen – Schrumpfen von Bevölkerungen, energetische Anforderungen etc. – weit besser anzupassen sei als per Abriss und Neubau.1 Gerade angesichts der Energie- und CO2-Problematik müsse sowohl die ursprüngliche Herstellungsenergie als auch die für den Abriss, die Entsorgung und den Neubau erforderliche Energie, Materialmenge und Mobilität in Rechnung gestellt werden, woraus sich ergibt, dass die Sanierung von Bestandsgebäuden die gegenüber dem Neubau erheblich sparsamere und ökologischere Lösung ist.
Aber es geht nicht nur um Material und Energie, sondern auch darum, dass Gebäude, Quartiere, Städte kulturelle und soziale Ressourcen sind – sie sind Gedächtnisse einer Gesellschaft und ihrer Mitglieder, in sie sind Wissens- und Erfahrungsbestände ebenso eingegangen wie ästhetische Vorstellungen und Menschenbilder, von denen keineswegs sicher ist, dass sie sich schon überlebt haben. Strategisch ist bei dem eindeutigen Votum für die Arbeit mit dem Bestehenden die sogenannte Abfallhierarchie entscheidend – reduce meint die Vermeidung von (künftigem) Abfall, reuse die Weiterverwendung, recycle die materielle Umformung. Und Petzet formuliert auch einen kategorischen Imperativ: „Jeder für eine Änderung nötige Aufwand muss durch eine Verbesserung gerechtfertigt werden.“
Das kardinale Beispiel für eine so orientierte architektonische Haltung lieferten die französischen Architekten Anne Lacaton und Jean-Philippe Vassal, die im Rahmen eines Wettbewerbs zur Neugestaltung eines Platzes in Bordeaux vorschlugen, den Platz zu belassen, wie er war, und die verfügbare Bausumme in die regelmäßige Pflege zu investieren. Sie gewannen den Wettbewerb. „In unserer Auffassung von Architektur“, sagt Vassal, „bedeutet bauen […] vor allem: nachdenken.“2
Alastair Parvin, der Erfinder des Open-Source-Projekts WikiHouse, das jedermann selbst bauen kann, hat in einem TED-Talk das Beispiel einer Schule erwähnt, die noch aus viktorianischer Zeit stammt, aber für heutige Schülerzahlen zu schmale Korridore aufweist. Ein Umbau der Schule, wie er von konventionellen Architekten geplant wurde, hätte etwa 20 Millionen Pfund gekostet. Die schließlich umgesetzte Lösung war erheblich günstiger: Man schaffte lediglich die Schulglocke ab, die dafür gesorgt hatte, dass alle Schülerinnen und Schüler gleichzeitig aus den Klassenräumen in die Korridore strömten. Stattdessen wurden die Schülerinnen und Schüler intelligenter verteilt: Man installierte in jedem Klassenraum eine Glocke und ließ sie zeitversetzt klingeln, sodass zu große Gruppen in den Gängen gar nicht erst entstanden. Diese Lösung kostete nur ein paar hundert Pfund und sparte natürlich eine Unmenge an Aufwand und Material. Stattdessen wurde soziale Intelligenz investiert.3
Von sozialer Intelligenz kann keine Rede sein, wenn man all die Universitäten, Krankenhäuser, Verwaltungsbauten und Standardeinfamilienhäuser anschaut, die neben finanziellem Ertrag für die Baufirmen vor allem persönliches Unglück und Flächenversiegelung erzeugen.4 Form follows finance, was erst recht für den Siedlungswohnungsbau und den Neubau von „Lofts“ und „Townhouses“ gilt. Allerdings knüpft man schon seit Längerem wieder an ältere Traditionen des advocacy planning5 an, die schon mehrfach Konjunkturen in der Stadtplanung hatten – als Reaktion auf schlechte Erfahrungen mit Top-down-Planungsstrategien.
So setzten in den 1930er Jahren Sozialreformer in Chicago und anderen US-Städten ein Programm durch, das den wuchernden Slums mit sogenannten housing projects ein Ende machen sollte – mit der Errichtung von komfort- und hygienemäßig anständigen Quartieren, die sowohl die Kriminalitätsstatistik als auch die Lebensqualität der Bewohner erheblich verbessern sollten. Beides ging schief. Warum? Weil die verordneten housings die gewachsenen Sozialstrukturen und von außen unsichtbaren Hilfenetze und Gemeinschaftsformen zerstörten, weshalb die neuen Viertel rasant verwahrlosten und noch mehr zu No-go-Areas wurden als die alten. Die Sozialingenieure hatten übersehen, dass sich in den chaotisch scheinenden Slums höchst funktionale Strukturen ausgebildet hatten, die den Leuten halfen, ihr schwieriges Leben einigermaßen zu meistern. Duschbad und Innentoilette waren kein Ersatz für Schutz vor prügelnden Ehemännern oder für gemeinsames Kochen.
Ein paar Jahrzehnte später erhoben Bewohner von armen Stadtvierteln in den USA den Anspruch, in die Planungen für die Umgestaltung ihrer Viertel miteinbezogen zu werden. Berühmt ist der Fall der Bewohner von Woodlawn, einem desolaten Stadtteil von Chicago. 1962 standen hier fünf Experten einer Gruppe von 1 500 Bürgerinnen und Bürgern gegenüber, die darauf bestanden, dass ihre Erfahrungen und Bedürfnisse in die Umbaupläne einzubeziehen seien – und tatsächlich wurde der folgende Umbau unter aktiver Beteiligung der Bevölkerung geplant und durchgeführt.
Dies war der Beginn des advocacy planning, das die Hegemonie der Experten zurücknahm und – wie etwa 1968 beim East Harlem Triangle Project – nicht selten dazu führte, dass sich die Architekten in den Planungsgruppen in der Minderheit befanden. Hier waren von 15 Mitgliedern der Planungsgruppe lediglich drei Architekten; die übrigen Personen waren Anwälte, Journalisten, Zeichner usw. Am Ende hat New Orleans sogar ein Gefängnis unter Einbezug der Insassen umgeplant und umgestaltet.
Das alles scheint heute weitgehend vergessen, weshalb man von „Implementierungsproblemen“ spricht, wenn man Projekte wie Windparks und Stromtrassen, neue Bahnhöfe oder Flughäfen umsetzen will und sich darüber wundert, wenn die Leute so etwas manchmal gar nicht wünschen. Die modernste Version sozialtechnokratischen Denkens heißt „die Menschen mitnehmen“. Bei einer solchen Form der „Top-down-Partizipation“ kommt die Frage gar nicht erst auf, warum Menschen von irgendwem mitgenommen werden wollen. Stattdessen sprechen die unerbetenen Mitnehmer von „Wutbürgern“ oder „Nimbys“ („Not in my back yard“), wenn ihre so rational ausgedachten Beglückungen abgelehnt werden.
Architekten lernen von Laien
Dabei wären Stadtsanierungsvorhaben genauso wie Infrastrukturprojekte im Rahmen der Energiewende viel leichter zu realisieren, wenn man davon ausginge, dass die, die irgendwo wohnen, die Experten für die Strukturen ihrer Lebenswelt sind und die Planer fremde Besucher, die erst mal keine Ahnung von den Kompetenzen und Sozialformen vor Ort haben.
Diese umgekehrte Definition von Experten und Laien liegt zum Beispiel dem Projekt „Stadt (Er)finden“ zugrunde, das die Architektin Saskia Hebert zusammen mit ihren Studierenden von der Universität der Künste in Berlin durchführt.6 Da geht es in Zusammenarbeit mit dem Bezirksamt Lichtenberg darum, sich einem Stadtumbaugebiet ganz anders zu nähern als gewöhnlich. In Heberts Ansatz sind die „Experten“ die Kinder, Rentner, Familien und Kioskbesitzer aus Lichtenberg, und die Architekten, Planer und Studierenden gelten als „Externe“. In Teams wird erstmal die unsichtbare Topografie des Viertels erschlossen, bevor man über die Umgestaltung der gebauten Orte nachdenkt. Dabei geht es zunächst nicht um Orte im konventionellen Verständnis, sondern um die biografischen und damit immer auch utopischen Orte, die Stadtviertel für diejenigen darstellen, die in ihnen leben oder groß geworden sind. In gemeinsamen Spaziergängen, Gesprächen über Fotoalben oder Stadtplänen erfahren die „Externen“ zunächst, was die Geschichte von Häusern und Straßen ist, weil sich erst daraus ihre Bedeutung jenseits funktionaler oder ästhetischer Mängel erschließt.
Der Kiosk ist die Zentralstelle für die Verteilung von Informationen, die alte Schule der uneinnehmbare Spielplatz, das alte Kino ein Sehnsuchtsort. Von den Leuten lernt man, wo eine Bar hinmuss und wo die Zentrale des Fahrdienstes, und man erfährt, was nicht umgebaut und saniert werden darf, weil es über alle sozialen Veränderungen hinweg funktioniert und Stellenwert behalten hat – ein Ansatz, der weit über „Partizipation“ und „runde Tische“ hinausgeht.
Der Berliner Architekt Arno Brandlhuber entwickelt seine Häuser mit den Bewohnern zusammen. „Der Mehrwert“, sagt er, „entsteht nicht durch das Neuschaffen, sondern dadurch, dass man weniger tut.“ Bei einem projektierten Gebäude mit Wohn- und Gewerbenutzung hatte Brandlhuber zusammen mit den künftigen Mietern festgelegt, wie hoch die Miete sein durfte, und daraus abgeleitet, wie viel das gesamte Haus kosten könnte. Diese Umkehrung des normalen ökonomischen Modells – der Bauherr legt fest, die Käufer oder Mieter selektieren sich nach ihren finanziellen Möglichkeiten – führt zu einer Fülle konsensueller und oft auch sehr kreativer Entscheidungen: „Wie viel Fläche wollt ihr? Wie viel kostet das mit geglättetem Rohbeton? Wie viel mit Parkett? Mit niedrigeren Raumhöhen könnten wir noch eine Mietpartei dazunehmen, wie viel könnten wir dadurch sparen?“7
Man könnte von architektonischen Metamorphosen sprechen: Statt Bauten abzureißen, baut man sie um, weiter, anders. Die Ergebnisse sind vielfach erstaunlich, schon vergleichsweise unaufwendige Eingriffe führen zu tiefen Nutzungsveränderungen. Ein Produkt, das nicht ersetzt wird, erfordert keinen Herstellungsaufwand, je mehr sein Lebenszyklus verlängert wird, desto nachhaltiger werden die Ressourcen genutzt, die zu seiner Herstellung verbraucht wurden. Im Übrigen wird die Bedeutung des Bauens und Umbauens im Bestand auch darin klar, dass der oft toxische Bauabfall, der durch Abriss entsteht, heute die Hälfte des gesamten Abfalls in Deutschland ausmacht.8
Die reduktive Moderne bedeutet nicht das Austauschen einer altmodisch gewordenen Technologie gegen eine andere, sondern ein anderes Leben. Deshalb würde sich ein transformatives Design nicht auf das Anfüllen, sondern auf das Wiederentleeren der Welt richten. Eine notwendige und reizvolle Aufgabe, vor allem wenn man daran denkt, dass gerade die aufstrebenden Schwellenländer fantasielos XXL-Versionen von allem kopieren, was die expansive Moderne hervorgebracht hat: noch höhere Hochhäuser, noch mehr Straßen mit noch mehr Spuren für noch größere Autos. Dagegen wäre eine ästhetische Haltung zu stellen, die ihr Ziel im Weglassen und nicht im Hinzufügen sieht und zugleich die Schauseite einer reduktiven Moderne entwirft.