Mission Mali
Ein Desaster hinter der Fassade des Erfolgs von Charlotte Wiedemann
Mali ist aus den Schlagzeilen verschwunden; Schauplätze von größerer Dramatik nehmen die Aufmerksamkeit gefangen. Rückblickend, mit dem Wissen, was inzwischen in Syrien und im Irak geschah, stellt sich die Frage: Wieso hatte Mali für den Westen überhaupt zeitweilig den Rang eines Top-Krisenherds der Welt? Dass von den Dschihadisten, die den Norden des Landes 2012/2013 neun Monate lang kontrollierten, eine Gefahr für Europa ausginge, blieb eine Behauptung ohne Beleg. Und die Menschenrechtsverletzungen, die in der besetzten Zone begangen wurden, waren weitaus begrenzter, als eine erregte Berichterstattung hatte glauben machen wollen. Die plakativsten Verbrechen waren zwölf Handamputationen.1
Um nicht missverstanden zu werden: Was in den vergangenen zwei Jahren geschah, hat in Mali unendlich viel Leid hervorgerufen, die ohnehin schwache Wirtschaft zu Boden gedrückt, den Tourismus vernichtet. Aber wie sich die Krise auf der Weltbühne abbildete, in den westlichen Medien, den Thinktanks und den internationalen Institutionen, das hatte nur begrenzt etwas mit den tatsächlichen Vorgängen vor Ort zu tun. Das ist eine erste Lehre aus dem Fall Mali.
Als Frankreich im Januar 2013 in Nordmali militärisch intervenierte, war die Rede von einem Einsatz, der nur wenige Wochen dauern würde. Tatsächlich währte diese Mission anderthalb Jahre, und sie wurde zur Plattform für eine drastisch ausgebaute und dauerhafte französische Militärpräsenz in der Region. Seit 1. August sind im Rahmen der Operation „Barkhane“2 3 000 Soldaten in fünf Sahelstaaten3 stationiert, davon 1 000 in der nordmalischen Stadt Gao. Ausgestattet mit Kampfjets, Drohnen, Hubschraubern, Aufklärungsflugzeugen und 200 Panzerfahrzeugen, sollen die Einsatzkräfte schnell und grenzüberschreitend agieren, kommandiert von einem General mit Afghanistan-Erfahrung. Neben dem Hauptquartier im Tschad – dort stehen bereits seit 1986 französische Soldaten, um das Regime zu stützen – unterhält Paris in der Region jetzt offiziell sechs weitere Stützpunkte und übernahm auch die verwaiste malische Basis Tessalit, in direkter Nähe zur algerischen Grenze. In der Vergangenheit hatten sich die US-Streitkräfte vergeblich darum bemüht, diesen strategisch gelegenen Flugplatz zu pachten; Algerien wiederum hatte Mali sogar Geld dafür geboten, Tessalit nicht in fremde Hände zu geben.
So ist dies eine zweite Lehre aus dem Fall Mali: Weitgehend unbeachtet baut Frankreich seinen Einfluss in der Sahelzone aus, auch in Konkurrenz zu den USA, die seit Längerem mit elf Ländern der Region eine eher stolpernde „Trans-Sahara Counterterrorism Initiative“ unterhalten. Der französische Verteidigungsminister hat Bamako in jüngerer Zeit achtmal besucht; das war wirkungsvoller als die Proteste aus der Zivilgesellschaft gegen die Unterzeichnung eines neuen bilateralen Militärabkommens, die zunächst um ein halbes Jahr verschoben wurde.
Schon rein äußerlich ist die Struktur der Operation Barkhane neokolonial: Hier die Metropole, das Mutterland, dort eine ganze Region. Aber da ist noch etwas anderes: Soweit die Stationierung tatsächlich dem erklärten Ziel, nämlich der Jagd auf Terroristen dient (und nicht der militärischen Absicherung anderweitiger Interessen), bedeutet diese Operation: Wir, die Franzosen, töten lieber selbst, als uns auf die örtlichen Kräfte zu verlassen. Dem entgegen sprach Paris zu Beginn der Intervention in Nordmali noch von einer raschen „Afrikanisierung“ des Einsatzes und erfand sogar afrikanische Truppenteile, die sich angeblich vor Ort befanden.
Ist die neue französische Sahel-Präsenz nun ein Ausdruck des Erfolgs oder des Misserfolgs der Mali-Intervention? Beides trifft zu. Ein bemerkenswertes Propagandavideo der Streitkräfte4 präsentiert die 19-monatige „Serval“-Mission als ein gewaltiges Aufgebot von Personal, Material und überlegener technischer Effizienz. Da wurde ein richtiger Krieg geführt, legt der Film nahe, und die Franzosen haben dabei nur neun Mann verloren. (Bei der malischen Armee, obwohl nur Gehilfe, starben zehnmal so viele, und bei den Dschihadisten wurden angeblich 800 „unschädlich gemacht“.) Für einen asymmetrischen Krieg ist das nach herrschender Militärlogik ein Erfolg. Allerdings sind bis heute im Norden Malis weder Frieden noch Sicherheit eingekehrt. Die dort entstandene Niederlassung al-Qaida-naher Kräfte wurde geschwächt, doch nicht beseitigt. Vertriebene Dschihadisten tauchten in Niger und Libyen auf, Rückkehrer operieren wieder in Nordmali, in kleineren Einheiten. Nach dem offenen Krieg nun ein Schattenkrieg. Malier, die den Franzosen Informationen zutragen, werden umgebracht.
Die Stationierung von UN-Blauhelmen, von Paris gegen den Widerstand Malis betrieben, hat dem Land bisher wenig genützt. Statt der 12 000 UN-Soldaten wie geplant kamen knapp 8 000, meist unzureichend ausgebildet und ausgestattet. Ihre Anwesenheit hat bislang nicht einmal dafür ausgereicht, die Masse der Flüchtlinge, die noch in Lagern in den Nachbarländern ausharren, zur Rückkehr in die Heimat zu bewegen – zumal die Blauhelme selbst das Ziel von Angriffen sind. Kürzlich fielen erneut UN-Soldaten einem jener Selbstmordattentate zum Opfer, die seit dem Auftauchen der Franzosen die Region heimsuchen.
Fünf Militärbasen für die Franzosen
Von der „Wiedererrichtung staatlicher Hoheit“, einem erklärten Ziel der Serval-Mission, kann gleichfalls keine Rede sein. Als der malische Premierminister Moussa Mara im Mai – also 15 Monate nach Beginn der Intervention – versuchte, die nördliche Tuareg-Stadt Kidal zu besuchen, löste er einen Aufstand aus. Eine Riege hoher Staatsfunktionäre wurde von Tuareg-Rebellen entführt, ein Teil von ihnen ermordet, unter den Augen der Franzosen und der UN.
Beim Versuch, die Stadt zu erobern, erlitt die malische Armee eine blutige Niederlage – obwohl vorzugsweise jene Bataillone eingesetzt wurden, die bereits das europäische EUTM-Trainingsprogramm5 absolviert haben, an dem sich Deutschland führend beteiligt. Unter den Maliern entstand der niederschmetternde Eindruck, das Land sei auf den Ausgangspunkt der Krise im Jahr 2012 zurückgeworfen: Damals eroberte die Tuareg-Miliz MNLA (Nationale Bewegung zur Befreiung des Azawad6 ) mithilfe dschihadistischer Waffenbrüder den Norden, und die Hilflosigkeit der Armee mündete in einen Putsch frustrierter Offiziere. Dies ist die dritte Lehre im Fall Mali: Hinter der Fassade eines angeblichen Erfolgs entwickelt sich ein Desaster, doch da darüber hierzulande nicht berichtet wird, ist es so, als existiere es nicht.7
Für das westliche Publikum hatte die Malikrise den Stempel „internationaler Dschihadismus“ bekommen, doch die Realität vor Ort war viel komplexer: eine Verschränkung von organisierter Kriminalität (vor allem Drogenschmuggel), Armutsfolgen, Separatismus, religiös verbrämter Gewalt und staatlicher Korruption. Durch den 19-monatigen Militäreinsatz wurden all diese Komponenten quasi durchgeschüttelt, sie sind nun anders zusammengesetzt – doch keines der Krisenelemente ist verschwunden. Wie auch?
Malis Regierung hat bisher wenig getan, um für den Norden eine Strategie der Verhandlungen und der Versöhnung zu entwickeln. Allerdings trug die französische Politik viel dazu bei, diese Aufgabe so schwer wie möglich zu machen. Für Paris war Antiterrorismus – die Befreiung französischer Geiseln inbegriffen – stets vorrangig gegenüber Malis Wunsch nach Stabilität und territorialer Integrität. Aus taktischem Kalkül machten die Serval-Streitkräfte die Tuareg-Miliz MNLA in der Kidal-Region zum militärischen Juniorpartner und zum lokalen Machthaber. Die Miliz, der zahlreiche Verbrechen angelastet werden, wurde so gegenüber der Zentralregierung immens aufgewertet, bald ließ sie sich auch von ihrem französischen Paten kaum mehr kontrollieren. Bei vielen Maliern schürte Frankreichs Politik in Kidal einen Zorn, dessen Wurzeln lange zurückreichen: In der ausgehenden Kolonialzeit liebäugelte Paris mit der Errichtung eines separaten Saharastaats, um sich dessen Ressourcen zu sichern.
Die Dankbarkeit gegenüber Frankreich, die viele Malier zu Beginn der Intervention empfanden, ist heute dem Misstrauen gewichen. Einer Umfrage zufolge bewertet nur eine Minderheit die Rolle der Franzosen als neutral oder gar hilfreich. Sit-ins und Demonstrationen vor französischen Einrichtungen zeugen allerdings nur bedingt von einem geschärften politischen Bewusstsein. So wie das frühere Schwenken von Trikolorefähnchen durch die Hilflosigkeit motiviert war, die dschihadistische Besetzung des Nordens nicht mit eigenen, einheimischen Mitteln beenden zu können, hat nun die Enttäuschung einen in Mali ohnehin virulenten Nationalismus verstärkt. Auch dies eine Lehre: Die französische Tuareg-Politik war nicht nur ungeschickt; sie goss Öl ins Feuer und hat die Chance auf inneren Frieden für Mali eindeutig gemindert.
Friedensgespräche und geschäftliches Kalkül
Auf Frankreich zu zeigen, das hat in Mali allerdings auch den Charakter einer Ersatzhandlung. Es fehlt an Opposition gegen die eigene Regierung, an qualifizierter Kritik. Der Werdegang jenes Premierministers, der mit seinem Kidal-Besuch ein Blutbad heraufbeschwor, unterstreicht die bedrückende Alternativlosigkeit in der malischen Politik. Moussa Mara ist mit 39 Jahren für einen afrikanischen Regierungschef sensationell jung. Im vergangenen Jahr war er noch Bürgermeister einer Gemeinde in Bamako, galt als hoffnungsvoller Reformer, als Vorreiter einer nicht korrupten, besseren politischen Klasse der Zukunft. Doch dann stieg der Ehrgeizige rasant auf, zu rasant für seine Ideale. Den Kontakt zur Straße wahrt er nun bloß noch, indem er den Nationalismus bedient.
Insgesamt fällt auf, wie altmodisch und rückwärtsgewandt die derzeit eingesetzten Instrumente der Malipolitik sind, auf einheimischer wie auf internationaler Ebene. Dabei hat das patriarchale Politikmodell, verkörpert in Ibrahim Boubacar Keïta, dem neuen Präsidenten der sogenannten harten Hand, selbst bescheidenste Erwartungen enttäuscht. Aus der Krise heraus fix einen Staatschef wählen, und der wird alles richten – das war Mali vonseiten der EU aufgedrängt worden: Schnelle Wahlen, damit es einen legitimen Partner im Kampf gegen den Terrorismus gibt. Auch viele Malier wünschten sich eine autoritäre Vaterfigur im höchsten Amt.
IBK, wie der Präsident genannt wird, wäre nach seinem Wahlsieg 2013 stark genug gewesen, um Entscheidungen durchzusetzen, die im Süden unpopulär sind: Zugeständnisse im Hinblick auf berechtigte soziale und politische Forderungen aus dem Norden, nicht nur für die Tuareg, aber eben auch für sie. Stattdessen erregte er Aufsehen durch die Anschaffung eines kostspieligen neuen Präsidentenflugzeugs und durch die Platzierung diverser Familienmitglieder auf wichtigen Posten. Muss die Lehre daraus überhaupt eigens erwähnt werden? Dass aus einer Fassadendemokratie nicht über Nacht eine echte Demokratie wird, und schon gar nicht mit den alten Krokodilen?
Was die malischen Tuareg betrifft: Sie haben immer noch keine Charta vorgelegt, einen Katalog konkreter Forderungen, auf die sich Kräfte der Zivilgesellschaft beziehen könnten. Die Tuareg, eine Minderheit von landesweit etwa 3 Prozent, sind in mehrfacher Hinsicht gespalten: nicht nur (und seit Langem) zwischen Staatstreuen und Separatisten, sondern auch in verschiedene Fraktionen unter den Rebellen. Bedauerlicherweise haben sich die bewaffneten Tuareg entschieden, lieber das Bündnis mit anderen bewaffneten Formationen zu suchen als mit den gesprächsbereiten Teilen der malischen Mehrheitsgesellschaft. Und so verhandelt nun eine illustre Runde von sechs Milizen mit der malischen Regierung.
Ort der Friedensgespräche ist Algier – ein Déjà-vu: In Algier wurden schon mehrfach Friedenspakte geschlossen, die später scheiterten. Neben der unvermeidlichen MNLA sitzt am Tisch der „Hohe Rat für die Einheit von Azawad“. Der Name ist relativ neu, nicht neu jedoch waren die Gesichter der Beteiligten. Es handelt sich um ehemalige Mitglieder der islamistischen Gruppe Ansar Dine, deren schneller Vormarsch Richtung Südmali im Januar 2013 die französische Intervention ausgelöst hatte. Voilà – nun sind die Exdschihadisten respektable Verhandlungspartner. Ferner sitzen am Tisch arabische Milizionäre aus Nordmali, die sich mit den Tuareg-Milizionären sonst häufiger Schusswechsel liefern, meist aus geschäftlichen Gründen. Und dann sitzt da noch eine Loyalistenmiliz, die einst die Schmutzarbeit für die malische Armee erledigte und Massaker an Tuareg begangen haben soll.
Was vereint all diese Kämpfer? Bestenfalls könnten sie gegenüber der malischen Regierung gemeinsamen sozialen Anliegen der Nord-Communitys Nachdruck verleihen. Doch vermutlich schlagen sie schlicht Kapital aus ihrem Kämpferstatus und lassen sich das Schweigen ihrer Waffen bezahlen. Gegenwärtig werden im Norden vermehrt arbeitslose junge Männer rekrutiert: Jede Miliz will durch beeindruckende Mitgliederzahlen ihre Verhandlungsposition verbessern. Die MNLA behauptete jüngst, sie habe „zwischen 12 000 und 15 000 Kämpfer“. Und vermutlich werden die Milizen für ihre Leute Posten in der Armee und in der Verwaltung verlangen: Chefposten für Chefrebellen, Soldatensold für das Fußvolk. Auch dies ein Déjà-vu: Die Integration von Tuareg-Rebellen in die Armee ist schon einmal böse gescheitert.
Wie soll man diese letzte Lehre formulieren? In einem Land, das überwiegend immer noch sehr friedfertig ist, hat das Hineinregieren durch die sogenannte internationale Gemeinschaft dazu geführt, dass nur die Bewaffneten belohnt werden. Für die Masse der Malier hat sich nichts zum Besseren bewegt.