Unfair Trade
Die neuen Wirtschaftsabkommen mit der EU übervorteilen die westafrikanischen Länder von Jacques Berthelot
Unlängst hatte die EU Grund zum Feiern: Nach zehn Jahren zähen Ringens hatte sie den Widerstand vieler Länder Afrikas gegen neue Freihandelsverträge überwunden.1 Am 10. Juli unterzeichneten die Staatschefs der Wirtschaftsgemeinschaft der Westafrikanischen Staaten (Ecowas) ein Wirtschaftspartnerschaftsabkommen (EPA) mit der EU2. Am 22. Juli folgte die Paraphrasierung des Abkommens mit den Ländern des südlichen Afrikas,3 am 25. Juli ratifizierte Kamerun ein eigenes EPA.
Einziger Wermutstropfen für die EU: Die Länder Ostafrikas machten nicht mit. Sie weigerten sich, auf die bislang unentbehrlichen Einfuhrzölle zu verzichten, ohne eine echte Gegenleistungen zu erhalten. Mit gutem Grund, denn die jetzt abgeschlossenen EPA sehen vor, dass die afrikanische Seite die Zölle auf drei Viertel der EU-Exportprodukte abschafft, während die Europäer lediglich zusagen, dass die Importe aus Westafrika unverändert abgabenfrei bleiben. Eine Mogelpackung, die gegenüber der alten Regelung eine Verschlechterung bedeutet. Wie konnte es zu diesem Desaster kommen?
Seit 2008 widersetzten sich die Staaten Westafrikas dem zollpolitischen Druck aus Brüssel. Unterstützt wurden sie von starken, in diversen Netzwerken organisierten sozialen Bewegungen wie dem Third World Network Africa in Accra (Ghana), der Plattform der zivilgesellschaftlichen Organisationen Westafrikas gegen das Cotonou-Abkommen (Poscao) in Dakar (Senegal) oder dem Netzwerk westafrikanischer Bauernorganisationen und Agrarproduzenten (Roppa) in Ouagadougou (Burkina Faso). Wie hat es die EU geschafft, die bislang renitenten afrikanischen Regierungen quasi umzudrehen?
Ein Blick zurück: 1995 legten lateinamerikanische Bananenproduzenten eine Beschwerde bei der Welthandelsorganisation (WTO) ein, die auch von den USA unterstützt wurden (daher der Name „Dollar-Bananen“). Die US-Regierung störte sich stets an den Handelspräferenzen, die Brüssel den Ländern Afrikas, der Karibik und des Pazifiks (AKP) einräumte, seitdem diese nach dem Lomé-Abkommen, das noch aus den 1970er Jahren stammt, zollfreien Zugang zum europäischen Gemeinsamen Markt genossen.4 Das WTO-Schiedsgericht verurteilte die EU dazu, bis spätestens 2007 das bisherige System der einseitigen Präferenzen durch Vereinbarungen auf Gegenseitigkeit zu ersetzen. Die im Cotonou-Abkommen vorgesehenen EPA sollten diese Vorgaben umsetzen.
Innerhalb der von der WTO gesetzten Frist hatten jedoch erst die Karibikstaaten ein regionales Partnerschaftsabkommen unterzeichnet. 43 AKP-Länder hatten sich dagegen gar nicht bewegt, weitere 20 hatten nur separate „Übergangsabkommen“ mit der EU abgeschlossen. Den neuen Wirtschaftspartnerschaften verweigerten sich vor allem sehr arme Länder, die zu der Gruppe der am wenigsten entwickelten Länder (LDC) gehören. Denen kommt bislang das 2011 von der EU beschlossenen Programms „Alle Waren außer Waffen“ zugute, das ihnen gestattet, ihre Produkte zollfrei auf den europäischen Markt zu bringen.
Zu den Verweigerern gehören aber auch die westafrikanischen Länder Elfenbeinküste, Ghana, Kap Verde und Nigeria. Um diese zur Aufgabe ihres Widerstands gegen eine Neuregelung zu zwingen, stellte die EU ein Ultimatum: Sollten bis 1. Oktober 2014 keine weiteren regionalen Partnerschaftsabkommen unterzeichnet sein, werde man die Exporte aus Nicht-LDC-Ländern mit Zöllen belegen.
In der Brüsseler Kommission ist heute die „Generaldirektion Handel“ für die Wirtschaftspartnerschaftsabkommen zuständig, während es beim Lomé-Abkommen noch die „Direktion Entwicklung und Zusammenarbeit“ gewesen war. Einige Regierungen haben immerhin versucht, den drohenden Schaden zu begrenzen. „Die EU sollte keine merkantilistische Politik5 betreiben und ihre Handelsinteressen nicht offensiv verfolgen“, schrieben im März 2005 die britischen Minister für Handel und für internationale Entwicklung in einer gemeinsamen Erklärung. „Die EU sollte sich in der WTO dafür einsetzen, auf die volle Umsetzung der geforderten Reziprozität zu verzichten, und sich stattdessen auf entwicklungspolitische Ziele konzentrieren.“ In Großbritannien wird die öffentliche Meinung von großen Entwicklungsorganisationen wie Oxfam oder Friends of the Earth beeinflusst, während die Regierung die Interessen der Industrie vertritt, die auf das Wachstum der afrikanischen Volkswirtschaften setzt.
Im Mai 2006 verabschiedete der EU-Ausschuss der französischen Nationalversammlung einstimmig einen Report, in dem es hieß: „In Afrika werden in wenigen Jahren mehr Menschen mit weniger als einem Dollar pro Tag leben als irgendwo sonst auf der Welt. Können wir wirklich die Verantwortung dafür übernehmen, unter Berufung auf die WTO-Regeln Afrika noch mehr ins soziale Chaos zu führen?“
Die Schlüsselrolle der Elfenbeinküste
Auch das Europäische Parlament formulierte viele Einwände gegen die EPA, schlug sich aber letztlich auf die Seite der Kommission. Nur auf Druck der Handels- und Entwicklungsministerien von Dänemark, den Niederlanden, Frankreich, Großbritannien und Irland fand sich die Kommission zu kleinen Zugeständnissen bereit.6
Auf der afrikanischen Seite ebnete 2011 Alassane Ouattara, der frisch gewählte Präsident der Elfenbeinküste, den Weg für das Beitrittsgesuch der Ecowas-Länder zum Abkommen mit der EU. „Als überzeugter Liberaler macht Ouattara aus seinem Engagement für das Freihandelsabkommen kein Geheimnis“, erklärt Cheikh Tidiane Dieye, Direktor des Netzwerks Poscao. Schließlich gehe es darum, die Zollfreiheit für ivorische Exportgüter wie Thunfisch, Bananen und Kakao zu bewahren. Nach zunächst heftigem Widerstand schwenkte auch Senegal auf das EPA-Projekt ein, weil es hofft, zum bevorzugten Partner der EU in Westafrika zu werden. Auch Nigeria zeigt sich gesprächsbereit, da es auf westliche Unterstützung im Kampf gegen die Terrorgruppe Boko Haram hofft.
Gleichwohl hat Westafrika viel zu verlieren, wie das Beispiel des Bananenmarkts zeigt. Nach dem erwähnten Urteil des WTO-Schiedsgerichts beschloss die EU, die Einfuhrzölle auf Bananen von lateinamerikanischen Plantagen von 176 Euro pro Tonne im Jahr 2009 bis 2017 schrittweise auf 114 Euro abzusenken. Parallel dazu unterzeichnete sie im Dezember 2012 bilaterale Freihandelsabkommen mit Kolumbien, Peru, Costa Rica, El Salvador, Honduras, Guatemala, Nicaragua und Panama.
Diese Länder profitieren von einem Abbau der Zölle auf nur noch 75 Euro pro Tonne im Jahr 2019. Auch Ecuador, dank seiner niedrigen Preise der Hauptlieferant Europas, profitiert nach dem am 17. Juli unterzeichneten Assoziierungsabkommen mit der EU von den ermäßigten Zolltarifen. Zwar wurden der Elfenbeinküste und Ghana 2009 (unzureichende) Kompensationen gewährt, so dass sie ihre Bananen weiter zollfrei und ohne Mengenbegrenzung in die EU liefern können. Im EPA von 2014 ist aber nichts dergleichen mehr vorgesehen.
Die Handelspräferenzen für die vor allem aus Afrika importierten AKP-Bananen werden fast bedeutungslos, wenn die EU ihre Freihandelsabkommen mit dem Mercosur, Indien und den Philippinen, dem zweitgrößten Bananenexporteur der Welt, vereinbart haben wird. Das Mercosur-Mitglied Brasilien fordert von der EU bereits ein zollfreies Importkontingent von jährlich 200 000 Tonnen. Auch Indien, mit 30 Millionen Tonnen weltgrößter Bananenproduzent, plant eine Exportoffensive.
Die Wettbewerbsfähigkeit der Länder Mittelamerikas und der Andenregion gegenüber den AKP-Staaten dürfte ganz allgemein deutlich zunehmen, was wiederum mit der Brüsseler Doppelzüngigkeit zu tun hat. Denn alle Länder, die ein EPA mit der EU abschließen, können praktisch alle Waren zollfrei in die Union exportieren, mit Ausnahme weniger Produkte wie Fleisch, Milchprodukte, Zucker und manche Textilien, für die gewisse Quoten gelten. Zudem profitieren die lateinamerikanischen Länder, deren Währungen informell oder offiziell an den Dollar gebunden sind, von der US-Politik eines schwachen Wechselkurses. Dagegen werden die Ausfuhren Westafrikas durch die Koppelung der gemeinsamen westafrikanischen Währung, des CFA-Franc, an den stärkeren Euro entsprechend verteuert.
Entgegen allen Versprechen dürften selbst die im Finanzierungsplan des EPA vorgesehenen 6,5 Milliarden Euro über fünf Jahre nichts bringen, weil die Mittel für den Europäischen Entwicklungsfonds (EEF) eingefroren bleiben (bei einem jährlichen Betrag von nur 4 Euro pro Person). Die Brüsseler Entwicklungshilfe tut also nichts anderes, als an anderer Stelle eingeplante Mittel einfach umzuwidmen. Und natürlich ist keinerlei Ausgleich für die verlorenen Zolleinnahmen vorgesehen, die den afrikanischen Ländern nach der Öffnung ihrer Märkte entstehen. Das gilt vor allem für die Zölle auf EU-Importwaren im Wert von 11 Milliarden Euro, die die am wenigsten entwickelten Länder (LDC) weiterhin erheben werden, wenn sie nicht einem regionalen EPA angehören würden. Die Verluste werden vermutlich noch höher ausfallen, weil die Wirtschaftsgemeinschaft der Afrikanischen Staaten (Ecowas) auf Drängen Brüssels einen Importzolltarif eingeführt hat, der mit 5 Prozent auf Milchpulver und Getreide (und 10 Prozent auf Reis) zu den niedrigsten in der Welt gehört. Das diesen Ländern faktisch aufgezwungene Freihandelsabkommen mit der EU könnte die Löcher in den Staatshaushalten auf bis zu 2,3 Milliarden Euro anwachsen lassen.
Um ihre afrikanischen Verhandlungspartner zu „überzeugen“, argumentieren europäische Politiker, ohne den Abschluss des Partnerschaftsabkommens würden die Exporte von Nicht-LDC-Ländern wie Nigeria, Elfenbeinküste und Ghana, statt Zollfreiheit zu genießen, den ungünstigeren Zollsätzen des Allgemeinen Präferenzsystems der EU unterliegen (siehe Kasten). Zum Beispiel müssten die afrikanischen Staaten pro Tonne Bananen einen Zoll von 136 Euro entrichten. Für Ananas würde der Zollsatz 5,8 Prozent betragen, für Thunfisch 18 und für Thunfischkonserven 24 Prozent, für Röstkaffee 9 Prozent, für Kakaoprodukte 2,8 bis 6 Prozent, für Palmöl und Kopra 8,9 Prozent. Dagegen zahlen die lateinamerikanischen Staaten, die meist von Freihandelsabkommen wie auch vom europäischen APS+-System profitieren, für die Tonne Bananen derzeit 117 Euro und 2019 nur noch 75 Euro. Ananas, Fisch, Kaffee, Kakao, Palmölprodukte und Kokosöl dürfen sie sogar zollfrei in die EU exportieren.
Mit diesem absurden System werden die Unterschiede zwischen den jeweiligen Volkswirtschaften total ignoriert: 2012 lag das Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Kopf für die vier „weniger armen“, nicht zu den LDC zählenden Länder Westafrikas bei 1 530 Dollar – dagegen für die sechs Nicht-LDC-Länder Mittelamerikas bei 4 828 Dollar und für die drei Andenländer bei 7 165 Dollar. Und die Aussichten für Westafrika trüben sich weiter ein: Das Nahrungsmitteldefizit ist von 2000 bis 2011 von 11 Millionen auf 2,9 Milliarden Dollar angewachsen, und die Bevölkerung dürfte bis 2030 von derzeit 340 Millionen auf 510 Millionen Menschen anwachsen.
Die geschwächte Verhandlungsposition, die Afrika dazu zwingt, für eine riskante Öffnung der eigenen Märkte viele Arbeitsplätze in den eigenen Exportbranchen zu opfern, hat auch mit Abhängigkeiten zu tun. So finanzieren die Europäer nicht nur die regionale Integration – etwa über den Haushalt der Westafrikanischen Wirtschafts- und Währungsunion (UEMOA) –, sondern auch die Treffen der Paritätischen Parlamentarischen Versammlung der EU- und der AKP-Staaten und die Fortbildung von Experten.
Die afrikanischen Regierungen schwächen aber ihre Position auch selber, indem sie sich an Expertenratschlägen statt am praktischen, lebensnahen Engagement ihrer Bürger orientieren. So regen die zivilgesellschaftlichen Organisationen Westafrikas an, die Region als ein einziges großes „Least Developed Country“ zu deklarieren, für das Sonderregeln in der WTO gelten sollen. Sie fordern ferner eine Finanztransaktionssteuer von 1,5 Prozent auf die Geschäfte an den Börsen der Ecowas-Länder, um die Zollabgaben zu finanzieren, die bei einer Aufkündigung des EPA für die Elfenbeinküste und Ghana anfallen.
Mamadou Cissokho, Ehrenpräsident des Bauernnetzwerks Roppa, klagte im Oktober 2013: „Die Staatschefs sind schlecht beraten. Wir verstehen nicht, was sie davon abhält, die sozialen Bewegungen zu konsultieren. Aber sie vertrauen nur den Bürokraten.“ Bevor man über das Leben von Millionen Menschen entscheide, müssten diese selbst befragt werden.7
Inzwischen hört man aus der EU-Kommission, die Frist für die Ratifizierung des Wirtschaftspartnerschaftsabkommens könne womöglich bis Oktober 2016 verlängert werden. Der Kampf ist noch nicht entschieden.
Die Zollpolitik der EU
In der Europäischen Union werden die Einfuhrzölle nach zwei verschiedenen Prinzipien geregelt: Das Standardsystem, zugleich Grundlage der Abkommen der Welthandelsorganisation (WTO), wird als Meistbegünstigungsprinzip bezeichnet. Es regelt insbesondere die Zölle im Handel mit anderen Industrieländern. Nach diesem Prinzip muss ein Land, das einem Partnerland Handelsvorteile einräumt, dieselben Vorteile auch allen anderen Partnern einräumen. Auch die Entwicklungsländer wenden das Prinzip auf ihre Einfuhren an, sofern keine bilateralen Präferenzen vereinbart wurden. Das zweite ist das Reziprozitätsprinzip: Wenn Land A dem Land B Handelsvorteile einräumt, muss umgekehrt B die gleichen Vorteile auch A gewähren.
Darüber hinaus gibt es präferenzielle Einfuhrzölle, die im Rahmen von Freihandelsabkommen gewährt werden, sowie das Allgemeine Präferenzsystem (APS), das die EU unilateral als entwicklungspolitisches Instrument anwendet. Das Standard-APS sieht eine Ermäßigung von 3,5 Prozent gegenüber dem normalen Zollsystem vor. Es gilt für 90 Länder und für bestimmte, auf einer eigenen Liste aufgeführte Waren. Das APS+ gewährt dagegen vollständige Zollbefreiung. Um in ihren Genuss zu kommen, müssen die Länder drei Kriterien erfüllen: Sie müssen eine „verwundbare“ Wirtschaft sein, deren Exporttätigkeit auf nur wenigen Produkten beruht; sie müssen 27 Abkommen über Menschenrechte, soziale Rechte, Umwelt und gute Regierungsführung ratifiziert und umgesetzt haben; sie dürfen drei Jahre in Folge von der Weltbank nicht als Länder mit mittlerem bis höherem Durchschnittseinkommen eingestuft worden sein.
Beide APS-Instrumente erlauben der EU den Schutz bestimmter sensibler Warengruppen (Agrarprodukte und Textilien), zum Beispiel mittels Einfuhrquoten, die das Volumen der zollbegünstigten Importe begrenzen. Was über diese Quoten hinaus in die EU geliefert wird, unterliegt dem Meistbegünstigungsprinzip.