Ein Staat für Erdogan
Der neue Präsident der Türkei hebelt die Gewaltenteilung aus von Yavuz Baydar
Die alte Türkei ist nicht mehr, es kommt die neue Türkei. Eine Ära ist zu Ende, jetzt beginnt eine neue.“ Mit diesen Worten übergab Recep Tayyip Erdogan, der scheinbar unbezwingbare Führer der Türkei, vor dem Parteikongress seiner AKP das Amt des Vorsitzenden an seinen Nachfolger. Erdogans Gefolgsleute und die AKP-hörigen Medien feierten die neue Ära mit lärmenden und begeisterten Kommentaren, die sich noch steigerten, als ihr Heros am 28. August als neuer, erstmals direkt gewählter Präsident der Türkei vereidigt wurde.
Aber was ist mit dem unscharfen Begriff „neue Ära“ gemeint? Zunächst bezeichnet er ein halbpräsidentielles Regierungssystem, das erklärtermaßen „eine hundert Jahre zurückliegende Mission“ fortführen soll. Das klingt nach einem modernisierten „Sultanat“, also der Rückkehr zu einem Herrschaftssystem, das vor dem Ersten Weltkrieg durch die Rebellion der Jungtürken aus den Angeln gehoben wurde.
Jenseits dieser historischen Referenz stellt sich die höchst aktuelle Frage, ob die Türkei mit der Wahl Erdogans auf ein Regime nach dem Muster Aserbaidschans, der Golfmonarchien oder der Staaten Zentralasiens zusteuert. Das würde zugleich das Ende des jahrzehntelangen Strebens nach voller EU-Mitgliedschaft sowie aller Träume von einer tatsächlichen Demokratisierung bedeuten.
Nun könnte man einwenden, dass die türkische Verfassung – eine Hinterlassenschaft der Militärjunta, die das Land nach dem Putsch von 1980 mit harter Hand regiert hat – dem Präsidenten nur begrenzte Machtbefugnisse verleiht. So gesehen könnte der Aufstieg des AKP-Führers ins Präsidentenamt gerade diejenigen (auch innerhalb seiner Partei) beruhigen, die Erdogans zunehmend autoritäres Gehabe besonders nervös macht: die akribische Kontrolle aller staatlichen Organe, die Obstruktion jeder machtbegrenzenden Gewaltenteilung, sein unstillbarer Drang, den Türken ihre Lebensweise vorzuschreiben und die ganze Gesellschaft wieder der alten patriarchalischen Kultur zu unterwerfen.
Nach dieser Lesart wird es Erdogan als Präsident ergehen wie seinen Vorgängern Özal (1989–1993) und Demirel (1993–2000): Er werde einen Teil seiner exekutiven Machtbefugnisse und mit der Zeit auch die Kontrolle über seine eigene Partei verlieren.
Doch diese Theorie ist nicht schlüssig. Auf dem Papier erscheinen die Befugnisse des Präsidenten in der Tat begrenzt; zudem ist er qua Amt zu einer „unparteiischen“ Haltung verpflichtet. Alle Vorgänger Erdogans – mit Ausnahme von General Kenan Evren, der den Militärputsch von 1981 anführte – haben niemals versucht, diese verfassungsmäßigen Schranken zu verschieben. Das lag allerdings auch daran, dass die hinter verschlossenen Türen ausgeübte Macht der Militärs bis 2007 ein politisches Gegengewicht darstellte.
Aber heute ist das anders. Nachdem Erdogan mit Unterstützung allzu naiver „Reformer“ die meisten Hürden auf dem Weg zu einer Ein-Mann-Herrschaft beiseitegeräumt hat, kann er die einschlägigen Paragrafen nach Belieben auslegen und bei ihrer Umsetzung die präsidentiellen Befugnisse bis zum Äußersten strapazieren. Das hat Erdogan einen Tag vor den Präsidentenwahlen vom 10. August in einem Fernsehinterview ganz offen angekündigt: „Ich weiß, dass frühere Präsidenten nicht alle Machtmittel, über die sie verfügten, eingesetzt haben. Ich werde es nicht so halten. Ich will kein Präsident sein, der nur im Cankaya-Palast1 herumsitzt.“
Laut Verfassung hat der Präsident folgende Kompetenzen: Er unterzeichnet die Gesetze oder überweist sie, wenn er es für geboten hält, ans Parlament zurück. Schickt das Parlament das Gesetz unverändert zurück, muss er unterzeichnen, kann es aber zur Überprüfung dem Verfassungsgericht zuleiten. Der Präsident kann den Vorsitz im Kabinett übernehmen, wann immer er dies für „nötig“ erklärt, etwa um in einzelnen Regionen den Ausnahmezustand ausrufen zu lassen.
Der Präsident hat starken Einfluss auf die Besetzung der obersten Gerichtsorgane: Er ernennt 14 von 17 Mitgliedern des Verfassungsgerichts, ein Viertel der Mitglieder des höchsten Berufungsgerichts, die meisten anderen höchsten Richter sowie vier Mitglieder der Obersten Kommission von Richtern und Staatsanwälten (HSYK), die über die höchsten Justizposten befindet. Zudem kann er Gerichtsurteile gegen einzelne Straftäter ganz oder teilweise aufheben. Diese Befugnis könnte Erdogan nutzen, wenn Mitglieder seiner Familie oder Mitarbeiter erneut angeklagt werden sollten.2
In Bezug auf die Legislative kann der Präsident jederzeit eine Sitzung des Parlaments anberaumen und sogar Neuwahlen anordnen. Dank seiner Befugnis, den Generalstabschef und die Mitglieder des obersten Militärgerichts zu ernennen, ist er auch Herr über das Militär. Und er besetzt die Führungspositionen der wichtigsten Institutionen: etwa beim Geheimdienst MIT, der nationalen Polizei, der Telekommunikationsbehörde TIB und beim staatlichen Rechnungshof. Er beaufsichtigt und kontrolliert auch den Bildungssektor, indem er die Rektoren der Universitäten sowie die Mitglieder der Kommission für höhere Bildung (YÖK) ernennt.
Seit Erdogan gemerkt hat, welch ungeheure Popularität er bei weiten Teilen der (unteren) Mittelklasse genießt, treten seine vormals verdeckte Selbstgewissheit und seine Hybris voll zu Tage. Nach seinem Sieg bei den Parlamentswahlen vom Juni 2011 verfolgte er einen detaillierten Plan zur Konsolidierung seiner Macht, wobei er auch die AKP für seine Zwecke einspannte. Erleichtert wurde die Umsetzung des Plans durch die Zurückhaltung der militärischen Führung und die chronische Schwäche der Oppositionsparteien.
Erdogan hat seine Ziele in genau geplanten Einzelschritten umgesetzt und seinen Handlungsspielraum ständig erweitert. Dabei prüfte er bei jedem Schritt die Widerstandskraft des „Systems“ und der zivilgesellschaftlichen Opposition. Wenn sich die Opposition als zu schwach erwies, machte er weiter und erfand neue – rechtlich sehr zweifelhafte – Präzedenzfälle, um seinen Kompetenzbereich auszuweiten.
Wann immer sich Widerstand regte, ging er zum Gegenangriff über. Und zwar mit Methoden, die uns aus anderen autoritären Systemen bekannt sind: Verschwörungstheorien, Ausgrenzung gesellschaftlicher Gruppen, die als „Volksfeinde“ abgestempelt werden, Verteufelung missliebiger Medien und Justizorgane, Kriminalisierung friedlicher Proteste, Zensureingriffe gegen kritische Internetforen und Blogs.
Die Angriffe auf Dissidenten liefen auch über die regierungsnahen Medien, die seit 2010 – teils dank intransparenter und dubioser Finanzoperationen – immer mehr an Boden gewonnen hatten. Die offenen Drohungen und der finanzielle Druck richteten sich etwa gegen religiöse Gruppen wie die „Hizmet“ des Predigers Fethullah Gülen3 , gegen große Unternehmerverbände wie Tüsiad und Tuskon oder gegen einflussreiche unabhängige Journalisten.
Präsident der schweigenden frommen Mehrheit
Erdogan hat seit 2002 neun nationale Wahlen in Folge mit unterschiedlich großem Vorsprung gewonnen. Diese Erfolge haben ein stabiles Fundament: Für große Teile der „schweigenden frommen Mehrheit“ verkörpert Erdogan die finanzielle Stabilität, auf die insbesondere die kleinbürgerlichen Schichten fixiert sind. Als wirksamste Propaganda bei den letzten drei Wahlen (zwischen 2011 und 2014) erwies sich eine „massenhafte Flüsterpropaganda“, die den Wählern weismachte: „Dunkle Kräfte wollen Erdogan loswerden. Wenn er verliert, verliert auch ihr eure Jobs und eure Zukunft. Selbst ein Putsch ist denkbar, und dann beginnen für euch alle finstere Zeiten.“ Viele Wähler glaubten solchen Gerüchten.
Erdogans eindrucksvolle Erfolgsbilanz beruht aber auch auf seiner Wirtschaftspolitik. Das stetige ökonomische Wachstum der letzten Jahre wird maßgeblich von der Baubranche getragen, die mit Infrastruktur- und Wohnungsbau ausgelastet ist. Allerdings gibt es erste Anzeichen, dass das sogenannte Fast-track-Wachstum zu Ende gehen könnte. Die Gefahr liegt vor allem im massiven Zahlungsbilanzdefizit. Neuerdings zählt Morgan Stanley die Türkei ( mit Südafrika, Indonesien, Brasilien und Indien) zu den „Fragile Five“. Das sind Volkswirtschaften, die durch den Rückzug ausländischer Investoren am stärksten bedroht sind.
Deshalb regen sich auch die ersten Zweifel, ob die gigantischen Bauprojekte in Istanbul (wie der neue Großflughafen und ein zweiter „künstlicher Bosporus“ zwischen Schwarzem Meer und Marmarameer) weiterhin finanzierbar sind. Je zügiger der neue Präsident auf eine absolute Herrschaft zusteuert, desto eher wird seine forcierte Wachstumspolitik dem Land, das er sich gefügig machen will, Schaden zufügen.
Erdogans Gefolgsleute sprechen jetzt vom „Ende einer Ära“. Wie sieht die Bilanz dieser Ära aus? Man kann die zwölf Jahre währende Periode der AKP-Regierung historisch durchaus als den entschlossenen Versuch sehen, alle Deformationen und Totgewichte einer auf Unterdrückung angelegten Republik loszuwerden; als ein von der internationalen Gemeinschaft begrüßtes Experiment, die Gesellschaft von ihrer autoritären Zwangsjacke zu befreien. Wobei Erdogans Erfolg genau darin besteht, den Prozess des Übergangs zur Demokratie für seine eigenen Zwecke genutzt zu haben. Am Ende allerdings hat er alle Erfolge, die seine Partei zwischen 2002 und 2010 durch rechtliche, gesellschaftliche und wirtschaftliche Reformen erzielt hat, wieder zunichte gemacht.
Tatsächlich ist es Erdogan in den letzten zwölf Monaten gelungen, die Uhr mit atemberaubender Entschlossenheit zurückzudrehen: Er hat Gesetze durchgedrückt, die eine Rückkehr zur „alten Türkei“ bedeuten; er hat die staatliche Kontrolle über abweichende Meinungen verstärkt und die Meinungsfreiheit enorm eingeengt; er hat die Unabhängigkeit der Justiz auf allen Ebenen beschränkt und die rechtlichen Voraussetzungen dafür geschaffen, dass eklatante Fälle von Korruption und Machtmissbrauch ungeahndet bleiben.
Der Kolumnist Hasan Cemal, der letztes Jahr von der Tageszeitung Milliyet gefeuert wurde, weil er die Integrität des Journalismus gegen Erdogan verteidigt hatte, hat vor Kurzem ein „Sündenregister“ des neuen Präsidenten erstellt, in dem er auch offene Verstöße gegen die Verfassung aufzählt. Zu den 50 Sünden gehören (erwiesene) Interventionen bei nichtöffentlichen Medien, erzwungene Entlassungen von Journalisten, Zensurmaßnahmen, (erwiesene) Einflussnahme auf Gerichtsentscheidungen und öffentliche Ausschreibungen, wiederholte Äußerungen, die den Rechtsstaat verteufeln und hohe Richter diffamieren, und eine von Hass geprägte Rhetorik, die gesellschaftliche Gruppen herabwürdigt, um sie gegen andere auszuspielen.
Eine Bemerkung, die Erdogan einen Tag nach seinem Wahlsieg gemacht hat, mag verdeutlichen, was wir in der „neuen Ära“ zu erwarten haben. Die türkische Verfassung besagt eindeutig, dass ein Abgeordneter, der zum Präsidenten gewählt wurde, seinen Sitz im Parlament und die Mitgliedschaft in einer Partei aufzugeben hat. Im Fall von Erdogan bedeutet dies, dass er natürlich auch das Amt des Ministerpräsidenten an seinen Stellvertreter abgeben muss. Als ein Journalist fragte, wann er das tun werde, antwortete er patzig: „Kümmern Sie sich um ihre eigenen Angelegenheiten.“
Was Erdogan seit seiner Wahl gesagt und getan hat, bestärkt die meisten Beobachter in dem Eindruck, dass er überhaupt nicht vorhat, auf den Normalisierungskurs zurückzusteuern, den die Türkei so bitter nötig hat. Und mit der Berufung von Ahmet Davutoglu zum neuen Regierungschef hat er ein neues Regierungsmodell kreiert, in dem das gesamte Kabinett praktisch dem „Palast“ untersteht, wo Erdogan alle wichtigen Entscheidungen trifft. Und wo er sich mit einem kleinen Beraterkreis umgibt, den die türkischen Medien als „Schattenregierung“ bezeichnen.
Und was kommt als Nächstes? Trotz der zwei jüngsten Wahlsiege kann sich Erdogan nicht zurücklehnen. Er weiß, dass er die Polarisierung der Gesellschaft ausgereizt hat, dass er der sunnitischen Mehrheitsbevölkerung nicht mehr viel zu bieten hat außer der Umwandlung der Hagia Sophia in eine Moschee und der Gründung von noch mehr religiösen Schulen. Er weiß, dass ihm nach wie vor zwei große Korruptionsskandale im Nacken sitzen und dass er mit der Brüskierung seines Vorgängers Abdullah Gül den Unmut in der AKP verstärkt hat. Er weiß, dass es ihm angesichts der wachsenden Ungeduld der Kurden schwerer fallen wird, den Friedensprozess durch taktische Manöver noch weiter hinauszuzögern. Und er weiß, dass er, wenn er bei den Parlamentswahlen im Sommer 2015 weniger als 45 Prozent bekommt, am Ende vielleicht die Kontrolle über die AKP verlieren und einsam in seinem Präsidentenpalast sitzen wird, weil es dann eine Koalitionsregierung geben könnte.
Deshalb ist es Erdogans Ziel, dass die AKP in den nächsten Parlamentswahlen mehr als 50 Prozent der Stimmen gewinnt, damit er seinen aktuellen Status als De-facto-Chef der Exekutive – der ganz sicher verfassungswidrig ist – legitimieren und sich eine Machtposition sichern kann, die ihn vor jeder Strafverfolgung schützt. Jenseits seiner sunnitischen Wählerbasis gibt es nur ein gesellschaftliches Segment, das er für dieses Ziel mobilisieren kann. Das sind die Kurden, die großenteils die der PKK nahestehende „Demokratische Partei der Völker“ (HDP) wählen. Sie müssen freilich befürchten, die nächsten „Opfer“ zu werden, die der Machiavellist Erdogan benutzt und missbraucht. Sobald der Präsident erreicht hat, was er will, könnte er die HDP wieder abservieren. Dann wären die Kurden mehr denn je von der Gnade eines allmächtigen Herrschers abhängig.
Da Erdogans Überlebensinstinkte voll intakt sind, überlässt er nichts dem Zufall. Er setzt auf die unbedingte Loyalität von Ministerpräsident Davutoglu (die nicht garantiert ist) und will zunächst die politische Kontrolle der Justiz erreichen. Sein Hauptangriffsziel sind dabei zwei der wenigen Institutionen, die sich noch eine gewisse Unabhängigkeit bewahrt haben: der HSYK, der die höchsten Richterstellen besetzt, und das Verfassungsgericht.
Wenn die regierungstreue Fraktion der Richter und Staatsanwälte die im Oktober anstehenden Wahlen zur Besetzung des HSYK gewinnt, wird er seinem Ziel sehr nahegekommen sein. Und wenn der liberale Präsident des Verfassungsgerichts, Hasim Kilic, im März 2015 in Pension geht, wird Erdogan mit Sicherheit einen Nachfolger ernennen, auf dessen Loyalität er sich verlassen kann. Sobald sich der Präsident die Kontrolle über die Judikative gesichert hat, wird der Eintritt der Türkei in eine neue Ära endgültig vollzogen sein.
Die Epoche des säkularen Kemalismus ist jedenfalls vorbei. Welcher Begriff für die „Neue Türkei“ sich durchsetzen wird, bleibt abzuwarten. Der einleuchtendste Vorschlag stammt von dem türkisch-amerikanischen Soziologen Mücahit Bilici. Er spricht angesichts der Strategie und der Ziele Erdogans von einem „grünen Kemalismus“.