Aufstand im Sinai
Der Terror des ägyptischen Militärs treibt viele Beduinen in die Arme der Dschihadisten von Ismaïl Alexandrani
Mein Freund Mohammed war 31 Jahre alt, als er vor der kleinen Stadt Scheich Suwaid bei al-Arisch von einem ägyptischen Soldaten erschossen wurde – wenige Tage bevor sein erstes Kind zur Welt kam.
Mohammed Youssef Tabl war Mitglied einer offiziellen Mission, die Informationen über die Situation auf dem Sinai sammelt. Sein Tod erregte erhebliches Aufsehen, weil er ein bekannter Mann war. Öffentliche Sympathiebekundungen halfen seiner Familie und seinen Freunden, ihre Wut zu verarbeiten. Bei den Tausenden anonymen Opfern ist das anders. Tabl gehörte zu den gebildeten Kreisen von al-Arisch. Dagegen sind die meisten Bewohner im israelisch-ägyptischen Grenzgebiet Beduinen, die von Staats wegen ausgegrenzt und stigmatisiert werden. Angesichts der Politik der verbrannten Erde, die gegen sie geführt wird, sahen sie keine andere Wahl, als zu den Waffen zu greifen.
Als im Januar 2011 fast überall in Ägypten die „Revolution“ ausbrach, blieb auch al-Arisch, die Hauptstadt des Nordsinai, davon nicht unberührt. Nachdem ein erster Demonstrant auf dem Hauptplatz der nahen Beduinenstadt Scheich Suwaid getötet worden war, nahmen die Proteste so gewaltsame Formen an, dass sich die politischen Aktivisten nach und nach zurückzogen. Nun sah man auf den Straßen sogar Frauen, die für ihre Kinder Steine zu Wurfgeschossen zerhackten, und die Väter schossen mit Kalaschnikows und Granatwerfern. Dreißig Jahre lang hatte die Obrigkeit die Bevölkerung auf dem Sinai drangsaliert, gedemütigt und belogen. Doch nie zuvor waren die Wut und die Rachegefühle so groß wie in der letzten Phase des Mubarak-Regimes.
In Reaktion auf die erste große Welle terroristischer Attentate im Südsinai (2004/2005) wurde die Bevölkerung brutal verfolgt. In Rafah und Scheich Suwaid gab es weit mehr Übergriffe der Polizei gegen Frauen als je zuvor.1 Das brachte die bewaffneten Gruppen nur noch mehr auf – vor allem die salafistischen und dschihadistischen Milizen wie Ansar Beit al-Maqdis („Unterstützer Jerusalems“, ABM) schienen nun zu allem entschlossen.
Der religiös motivierte Widerstand gegen Israel geht bis in das Jahr 1948 zurück. Damals gründeten die Muslimbrüder in al-Arisch und Sad El-Rawafaa militärische Ausbildungslager. Nachdem Gamal Abdel Nasser und seine Freien Offiziere 1952 die Macht übernommen hatten, zogen sich die Muslimbrüder vom Sinai immer mehr zurück, bis sie nach dem Verbot von 1954 schließlich ganz von der Bühne verschwanden. Viele Brüder gingen ins Exil, vor allem nach Jordanien.
In dieser Zeit gründete der in Gaza geborene Scheich Eid Abu Jerir, der an die Spitze der Bruderschaft („tariqa“) von Scheich Abu Ahmad al-Ghazawy getreten war, die erste Sufi-Gruppe.2
Während und nach der Suezkrise von 1956 wurde auf dem Sinai eine Strömung des Sufi-Dschihadismus aktiv. Sie verbündete sich mit der ägyptischen Armee und dem Militärgeheimdienst im Kampf gegen Israel, das im Oktober 1956 den Gazastreifen3 und den größten Teil der Sinai-Halbinsel eroberte und bis März 1957 besetzt hielt.
Einige der heutigen Führer der ABM-Miliz wurden im Kampf gegen Israel sogar einst vom ägyptischen Staat mit den höchsten Militärorden ausgezeichnet, wie zum Beispiel Scheich Hassan Khal aus dem Dorf al-Jura, das knapp südlich von Scheich Suwaid liegt.
Trotz der unauflösbaren historischen Verbindungen zwischen dem Sufismus und der regulären Armee empfand die Bevölkerung des Sinai den 1979 von Anwar as-Sadat und Menachem Begin unterschriebenen ägyptisch-israelischen Friedensvertrag als Verrat. Israel blieb der Feind. Und von diesem Feind fühlten sie sich umso mehr bedroht, als ihre religiöse Lehre keinen Unterschied zwischen Judentum und Zionismus machte.
Zwischen 2001 und 2010 schafften es Osama bin Laden, der saudische Terrorist aus reichem Hause, und seine Leute zwar nicht, in Ägypten richtig Fuß zu fassen, und doch wurde al-Qaida 2006 im Land Kenana (womit Ägypten gemeint ist) gegründet. Auch Aiman al-Sawahiri, der heutige Al-Qaida-Anführer, stammt ursprünglich aus Kairo.
Im Juni 2010 erfolgte der erste anonyme Bombenanschlag gegen eine Pipeline auf dem Sinai, die ägyptisches Erdgas nach Israel transportiert. Nach dem Sturz Mubaraks folgten dreizehn weitere Anschläge auf diese Gasleitung auf der gesamten Halbinsel. Im April 2012 beschloss die Mursi-Regierung, die Pipeline zu sperren, nachdem ein Gericht entschieden hatte, dass der Liefervertrag die nationale Souveränität und die Interessen Ägyptens verletze.
Noch im selben Jahr veröffentlichte die ABM-Miliz erstmals eine Videobotschaft. Unter dem Titel „If you are back, we are back“ wurde verkündete: „Wenn ihr den Gasexport nach Israel wieder aufnehmt, kommen wir wieder.“ Hier erklärten die ABM außerdem ausdrücklich, dass sie al-Qaida unterstützten und von deren Führung anerkannt würden.
Die nächste Etappe für die ABM und andere salafistische Gruppierungen wie den Mujahideen Shura Council begann mit Aktionen gegen die israelische Armee in Israel selbst. Dschihadisten aus Ägypten (unter ihnen auch Beduinen) und anderen arabischen Ländern verübten mehrere handstreichartige Angriffe.
Am 9. August 2013 wurde einer dieser Beduinen-Dschihadisten von einer israelischen Drohne getötet. Zwar dokumentierte die feierliche Beisetzung nach den Riten seines Stamms, dass die ABM einige Sympathien genießen. Aber wenn sich ihre Anschläge gegen die reguläre ägyptische Armee richten, verspielen die islamistischen Gruppen einen Teil ihrer Popularität.
Auf dem Sinai wurden die Angriffe gegen israelische Ziele stets begrüßt, auch wenn damit die Regierung in Kairo provoziert wurde. Hier galten Mubaraks Abmachungen mit den Israelis als größter Hemmschuh für die regionale Entwicklung. Bis heute sitzen Dutzende Angehörige der im Grenzgebiet lebenden Stämme in israelischen Gefängnissen und werden immer noch als „Kriegsgefangene“ behandelt. Aber man befürchtete zugleich, dass der Widerstand gegen Israel in einen bewaffneten Aufstand gegen den ägyptischen Staat umschlagen würde.
Diese feine Linie wurde am 6. August 2012 überschritten, als ABM-Kämpfer ein ägyptisches Militärlager in der Nähe der Grenze überfielen, was Israel den Vorwand zum Eingreifen lieferte: Ein israelisches Kommando drang fünfzehn Kilometer westlich der Grenze in ägyptisches Territorium ein und ermordete in dem Beduinendorf Khereza den ABM-Führer Ibrahim Eweida.
Im Mai 2013 wurde der ABM-Kämpfer Mahdu Abu Deraa in der Nähe von Rafah im Nordsinai von lokalen Kräften getötet, die mit den Israelis kooperierten. Und drei Monate darauf verkündete die israelische Regierung, eine ihrer Drohnen habe in al-Ajraa eine größere Gruppe von Dschihadisten getötet, als diese sich anschickten, Boden-Boden-Raketen über die Grenze abzufeuern.
Raketen auf Israel als Antwort auf den Gazakrieg
Damit war auch die ägyptische Armee blamiert, die dafür am 10. August 2013 zwei Dörfer angriff, in denen ABM-Kämpfer lebten. Erstmals seit 1967 drang dabei ein ägyptischer Kampfhubschrauber in die Zone C ein, um al-Tuma und al-Mokataa zu beschießen.4 Dieses Ereignis kann man als Beginn eines echten Krieges bezeichnen.
Die Muslimbrüder hatten östlich von al-Arisch keinerlei Strukturen aufgebaut und konnten auch während der Präsidentschaft von Mohammed Mursi (von Juni 2012 bis Juli 2013) keine Verbindung zu den bewaffneten Gruppen des Sinai herstellen. Obwohl sich die ABM als ideologische Gegner der Muslimbrüder ansehen, fühlten sie sich angesichts der brutalen Unterdrückung der Brüder nach dem Staatsstreich vom 3. Juli 2013 dazu verpflichtet, sich mit ihnen zu solidarisieren.
Die ABM-Kommuniqués bestehen großenteils aus religiösen Rechtfertigungen, wobei der ägyptischen Armee vorgeworfen wird, ihre Pflicht gegenüber der Nation nicht zu erfüllen. Obendrein werden die Militärs, vom einfachen Soldaten bis zum Offizier, als Ungläubige beschimpft. Nach der Machtübernahme durch das Militär vergrößerten die ABM ihren Aktionsradius über den Sinai hinaus und griffen auch in anderen Regionen von Ägypten an.
Infolge der Gewalttaten und Kriegsverbrechen während der Militäroperationen5 , die am 7. September 2013 begannen und bis heute andauern, gelang es den ABM, zahlreiche neue Kämpfer zu rekrutieren. Dabei ist das schlimmste Szenario nicht einmal die Ausweitung der Gewalt innerhalb Ägyptens. Viel gefährlicher wäre die Intensivierung der bislang begrenzten ABM-Kontakte zu den Dschihadisten in Syrien.
Die beispiellose Repression, die nach der Absetzung Mursis einsetzte, stellt in den Augen der ABM-Kämpfer eine permanente Provokation dar. Die Angriffe auf die Muslimbrüder und andere islamistische Demonstranten während des Ramadan 2013 (gezielt zur Gebetsstunde in den Moscheen) und die zahllosen Verdächtigungen gegenüber frommen Muslimen bestätigen ihre Wahrnehmung, dass es sich um einen Krieg gegen den Islam handelt.
Der misslungene Bombenanschlag auf den ägyptischen Innenminister Mohammed Ibrahim am 5. September 2013 stellte eine entscheidende Wende dar. Zuvor hatten die ABM nur die Armee und Polizeikräfte angegriffen; seither verlegen sie sich auf „terroristische Aktionen“ – ohne Rücksichtnahme auf zivile Opfer. Im Oktober 2013 steuerte ein ABM-Kämpfer einen mit Sprengstoff beladenen Lkw in das Hauptquartier der Sicherheitskräfte für den Südsinai. Im November wurde im Gouvernement Ismailia ein Gebäude des Militärgeheimdienstes in die Luft gejagt. Als einen Monat später eine gewaltige Explosion das Hauptquartier der Sicherheitskräfte von al-Mansura zerstörte, erklärte die Übergangsregierung die ABM zu einer terroristischen Organisation.
Seitdem gilt für die Ausschreitungen der Offiziere und Soldaten gegenüber der Zivilbevölkerung das Prinzip der Straflosigkeit. Im Sinai ist alles erlaubt, auch die Zerstörung von Häusern ohne Gerichtsbeschluss, das Abbrennen von Hütten, in denen die Ärmsten und häufig auch alte Menschen wohnen, das Abholzen von Olivenhainen, Schüsse ohne Vorwarnung auf Privathäuser, Ermordung von Frauen und Kindern, die willkürliche Verhaftung Hunderter Verdächtiger, die Schließung von Läden und Verkaufsständen, Zwangsumsiedlungen und systematische Verschleppung von Personen (und auch die Behinderung von Journalisten und Wissenschaftlern, einschließlich dieses Autors).
Nach vier Monaten offener Kampfhandlungen demonstrierten die ABM im Januar 2014 mit drei spektakulären Operationen ihre Potenz. Die erste war der Abschuss einer Grad-Rakete auf die israelische Stadt Eilat am 21. Januar, die zweite das Attentat auf das Polizeihauptquartier im Zentrum von Kairo, einen Tag nach der Drohung des Innenministers gegen jeden, der den Jahrestag der „Revolution des 25. Januar“ vor einer Polizeistation feiern wolle. Die dritte und aufsehenerregendste Aktion war der Abschuss eines ägyptischen Militärhubschraubers am 25. Januar, bei dem die gesamte Crew ums Leben kam. Aus Rache legten wutentbrannte Soldaten das Dorf al-Lifitat in Schutt und Asche und griffen die kleine Stadt al-Barth mehrmals nachts an.
Über viele Monate ist es der ägyptischen Armee gelungen, alles, was sich im Nordsinai abspielt, im Dunkeln zu halten. Die Journalisten und Aktivisten der Region werden schikaniert, verhaftet und gefoltert; ihre ausländischen Kollegen werden erst bedroht und dann ausgewiesen. Die Behörden stören täglich das Kommunikationsnetz und verhängen Ausgangsverbote, die eine Stunde vor Sonnenuntergang in Kraft treten. Doch weder diese Maßnahmen noch die willkürlichen Kollektivstrafen gegen die Bevölkerung haben die ABM daran gehindert, während des Gazakriegs im Juli/August 2014 weitere Raketen auf Israel abzuschießen. Und zwar genau aus dem Gebiet, in dem die israelische Drohne ein Jahr zuvor vier Dschihadisten getötet hatte.
Als die ägyptische Armee am 13. Juli 2014 einen zweiten Abschuss verhindern konnte, nahmen die ABM eine Kaserne im Osten von al-Arisch unter Beschuss. Eine der beiden Raketen traf, aber die zweite schlug in einer nahegelegenen Wohnsiedlung ein, wobei sieben Menschen, darunter ein zehnjähriges Mädchen, getötet und neun weitere verletzt wurden.
Inzwischen haben sich die ABM von al-Qaida abgewandt und sich mit dem Islamischen Staat (IS) verbündet. Als Folge der brutalen Politik seitens Ägyptens und Israels ist eine neue Generation von Kämpfern herangewachsen, deren Motivation eher Rachegefühlen als ideologischen Überzeugungen entspringt.