Justiz oder Frieden
In Uganda schafft der Internationale Strafgerichtshof ein neues Problem von André-Michel Essoungou
Der Norweger Jan Egeland, bis zum Jahresende oberster Hilfskoordinator der UN, traute seinen Ohren nicht, als er sich Mitte September 2006 mit Flüchtlingen aus Norduganda unterhielt: „Wir wollen keinen internationalen Gerichtshof. Wir wollen Frieden“, verkündete ihm der Organisator eines Lagers, in dem 25 000 Flüchtlinge ihr Dasein fristen. „Aber ihr habt doch einen Anspruch auf Gerechtigkeit“, wagte Egeland einzuwenden. „Ja, schon“, entgegnete ihm sein Gesprächspartner, „aber kann uns der Gerichtshof Frieden bringen oder hilft er am Ende bloß, den Krieg zu verlängern?“
Der Bürgerkrieg der Lord’s Resistance Army (LRA) im Norden Ugandas ist der älteste Konfliktherd auf dem afrikanischen Kontinent (siehe Kasten). An die vierzig Vermittlungsversuche sind bisher gescheitert. Der seit Juli 2006 laufenden Gesprächsrunde zwischen Ugandas Regierung und der LRA in Juba, bei der die italienische katholische Gemeinschaft Sant’Egidio als Vermittler fungiert, werden gute Chancen auf einen Verhandlungserfolg zugesprochen – unter einer Bedingung: Ende 2003 hatte sich die ugandische Regierung mit der Bitte an den Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) gewandt, die von der LRA im Norden des Landes verübten Verbrechen zu untersuchen. Gegen LRA-Chef Joseph Kony und vier wichtige Rebellenführer erhob der Strafgerichtshof am 8. Juli 2005 Anklage wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit.1 Doch Kony und seine Vertrauten wollen nur dann einem Friedensschluss zustimmen, wenn der IStGH die Anklagen fallen lässt. Deshalb wird die Intervention des Gerichtshofs in Uganda kontrovers diskutiert, obgleich seit 1986 zehntausende Menschen gewaltsam ums Leben kamen.
Für den Internationalen Strafgerichtshof, der am 1. Juli 2002 seine Arbeit aufnahm, ist Uganda ein Testfall. Er muss hier seine Glaubwürdigkeit unter Beweis stellen. Im Januar wurde in Den Haag zum ersten Mal ein Fall verhandelt. Angeklagt ist ein Kongolese, Thomas Lubanga, der sich wegen der Zwangsrekrutierung von Kindersoldaten verantworten muss.
Der Fall Uganda wird zwar schon länger verhandelt, doch die Beweisaufnahme kommt nur zäh voran, nicht zuletzt wegen der Verständigungsprobleme vor Ort.2 Beteiligte gaben zu Bedenken, dass die Opfer sicher mehr zur Aufklärungsarbeit beitragen könnten, wenn man die IStGH-Informationen in die Regionalsprache Madi übersetzen würde.3
In aller Stille hatte der IStGH im Zentrum der Hauptstadt Kampala sein Büro eröffnet. Die Räume, in denen ein kleines Team arbeitet, muten an wie ein Versteck. Nichts verrät dem Passanten, was hier geschieht; die Journalisten werden gebeten, ihre Fragen per E-Mail zu stellen, man verspricht eine Antwort innerhalb weniger Tage. In mühsamer Überzeugungsarbeit versucht der IStGH den im Norden des Landes tätigen lokalen und internationalen Institutionen seine Arbeit zu erklären, doch er begegnet überall denselben Einwänden.
Seit Monaten wächst die Kritik nicht nur in Kampala, sondern auch im benachbarten Sudan, der bei den ersten Friedensgesprächen während des Sommers 2006 die Schirmherrschaft innehatte.4 Im Herbst verkündete dann die Nummer zwei der LRA, Vincent Otti, dass es trotz der bei den Gesprächen in Juba (Südsudan)5 erzielten Fortschritte keinen umfassenden Friedensvertrag geben werde, solange der IStGH seine gerichtliche Verfolgung nicht einstellt.6 Wenn schon Prozesse, so ließ er wissen, dann in Uganda – wo sie vielleicht nie zustande kommen.
In der Umgebung von Präsident Yoweri Museveni gibt es schon einige Stimmen, die den Abzug der IStGH-Ermittler fordern. Diese Auffassung vertreten auch etliche Organisationen, die sich in Norduganda engagieren, wie die interreligiöse „Acholi Religious Leaders’ Peace Initiative“ (ARLPI), die zwischen Christen und Muslimen vermittelt oder das internationale Kinderhilfswerk „Save the Children in Uganda“ (SCIU). Sie sprechen für den Teil der Bevölkerung, der sich nichts sehnlicher wünscht als Frieden. Außerdem fürchten die Menschen in Norduganda, dass ihre Kinder angeklagt und verurteilt werden könnten. Denn viele Täter sind entführte Kinder.
Trotz alledem will der IStGH die Rebellen zur Verantwortung ziehen und verpflichtet Kampala dazu, öffentlich Stellung zu beziehen. So beteuerte Anfang Oktober 2006 die ugandische Regierung in einem Schreiben an den argentinischen Chefankläger Luis Moreno Ocampo ihre Absicht, die laufenden Verfahren zu Ende zu führen.
Die Kontrahenten des ugandischen Konflikts versuchen, die internationale Justiz für ihre Zwecke zu instrumentalisieren. Die Regierung fing damit schon vor den Friedensgesprächen an. Nachdem sie im Dezember 2003 den IStGH angerufen hatte, veröffentlichte sie im Jahr darauf die Anklage gegen die fünf genannten Rebellenführer. Obwohl mit dem IStGH vereinbart worden war, dass die Strafverfolgungen geheim bleiben sollten, gelangten die Informationen an die örtliche Presse. Durch diese Indiskretion konnte die Anklageerhebung des IStGH als Druckmittel gegen die Aufständischen verwendet werden.
Auf einer Pressekonferenz in London im Dezember 2004 warteten der IStGH-Ankläger und der ugandische Präsident mit Einzelheiten über die Verfahren auf. In Ermangelung eines militärischen Siegs wollte sich Kampala mit einem neuen Verbündeten profilieren. Bei Verhandlungen mit der LRA, so das Kalkül der ugandischen Staatsvertreter, soll das Bündnis mit der Justiz als Druckmittel dienen. Nach vielversprechenden ersten Kontakten mit den Rebellen erklärte denn auch 2005 die Unterhändlerin der Regierung, die frühere Museveni-Ministerin Betty Bigombe, die Regierung werde sich beim IStGH für eine Einstellung der Verfahren einsetzen, falls die LRA die Waffen niederlege.7
Je nach Laune droht der Staatschef seither entweder mit Strafverfolgung oder lockt mit der Einstellung des Verfahrens durch den Internationalen Strafgerichtshof. In Kampala bestätigt ein Vertrauter des Präsidenten dessen Taktik: „Wenn die LRA in einen umfassenden Friedensvertrag einwilligt, werden wir das mit dem IStGH richten. Wir werden dann gute Gründe haben, um ihn zu bitten, die Verfahren einzustellen, und wir werden damit auch durchkommen.“
Der Internationale Gerichtshof scheint sich mit der ugandischen Haltung abzufinden. Nach außen sieht es so aus, als hätte er sich in den Dienst der ugandischen Regierung gestellt, und die Rebellen machen ihn dafür verantwortlich, dass die Friedensverhandlungen festgefahren sind. Zwar versucht der IStGH seine Unabhängigkeit zu demonstrieren, indem er verkündet, er wolle seine Arbeit wie geplant fortführen, doch tatsächlich wird er sowohl von der ugandischen Regierung als auch von den Rebellen instrumentalisiert.
Es wäre wenig erstaunlich, wenn es in den nächsten Wochen zu einem Friedensvertrag käme und der Preis dafür ein offizielles Ersuchen um Einstellung der Strafverfahren wäre. Der IStGH könnte sich dem Wunsch schwerlich verschließen, denn er muss auch die politische Situation vor Ort berücksichtigen. Ein Beharren auf der rein strafjuristischen Position könnte zur Fortsetzung der Kämpfe ermuntern. Kampala, das sich durch die Ratifizierung des Gründungsvertrags am 1. Juli 2002 zur Zusammenarbeit mit dem IStGH verpflichtet hat, geriete mit der Forderung nach einer Einstellung der Verfahren zwar in Widerspruch zur internationalen Rechtsprechung, doch angesichts der politischen und humanitären Notlage würden die Vereinten Nationen und die Großmächte wohl ein Auge zudrücken.
Im Übrigen könnte man in den Statuten des IStGH für Uganda eine juristische Rechtfertigung finden. Im Gegensatz zu den anderen internationalen Strafgerichten – Internationales Strafgericht für das ehemalige Jugoslawien (ICTY) und Internationales Strafgericht für Ruanda (ICTR) – räumt der IStGH der Justiz der betroffenen Staaten den Vorrang ein.8 Wenn diese sich dazu verpflichten, gegen die Verbrecher eine gerichtliche Verfolgung einzuleiten, ist eine internationale Strafverfolgung nicht mehr möglich. Der IStGH kann nur eingreifen, wenn die Staaten willentlich oder unwillentlich untätig bleiben, wobei die 104 Unterzeichnerländer seine Arbeit unterstützen und ihm Verdächtige überstellen müssen.
Der Fall Uganda wird bestimmend sein für das Image der noch jungen internationalen Strafgerichtsbarkeit und könnte prägend sein für deren zukünftige Aktivitäten. Der IStGH war eigentlich dazu gedacht, sie zu überwinden, doch er scheint ganz ähnlichen Schwierigkeiten gegenüberzustehen wie seine Vorläufer: Bei allem Bestreben, Verbrechen zu ahnden, kann er sich nicht gegen die vor Ort herrschenden diplomatischen und politischen Bedingungen sperren.
In den Flüchtlingslagern von Norduganda wird jedenfalls kaum einer begreifen, warum man die Flüchtlinge nicht endlich aus ihrer Notlage befreit.
Fußnoten:
Aus dem Französischen von Josef Winiger
André-Michel Essoungou ist Journalist (Kampala) und Autor von „Justice à Arusha, un tribunal international politiquement encadré face au génocide rwandais“, Paris (L’Harmattan) 2006.