13.04.2007

Dem freien Wort Raum geben

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Dem freien Wort Raum geben

Die Meinungsfreiheit ist in vielen Ländern gesetzlich eingeschränkt. Doch die Demokratie könnte mehr an Unsinn und Widersprüchen aushalten von Agnès Callamard

In letzter Zeit haben mehrere Kontroversen die internationale Öffentlichkeit beschäftigt, die mit der Interpretation des Rechts auf freie Meinungsäußerung zu tun haben: die Aufregung um die in Dänemark publizierten Mohammed-Karikaturen, die Verurteilung des Holocaust-Leugners David Irving, das französische Gesetz, das die Leugnung des Völkermords an den Armeniern unter Strafandrohung stellt, und die Debatte um die „Verherrlichung“ des Terrorismus.

Kontroversen über das Thema sind keineswegs neu, denn die Unterdrückung kontroverser Ansichten und abweichender Meinungen, die als unmoralisch, ketzerisch oder beleidigend qualifiziert werden, hat es immer wieder gegeben. Neu ist aber, dass diese „alten“ Themen heute in Politik und Gesellschaft eine so wichtige Rolle spielen. Das hängt zum einen mit der Revolution der Kommunikationsmittel zusammen, zum anderen mit den Attentaten vom 11. September 2001, die das internationale Klima stark verändert haben.

Nachrichten, mitsamt ihren spezifischen kulturellen und politischen Bezügen, werden heute rasch in alle Welt verbreitet. Auch deshalb wird der Kampf um die Medien und ihre Kontrolle mit so harten Bandagen ausgetragen. Doch bedeutet dies, dass die Meinungsfreiheit stärker eingeschränkt werden sollte?

Die Meinungsfreiheit, die das Recht auf Zugang zu Informationen einschließt, ist ein grundlegendes Menschenrecht, ohne das weder die Freiheit des Individuums noch ein auf freien Wahlen basierendes demokratisches System denkbar ist. Die Meinungsfreiheit garantiert eine breite Wissensbasis und damit die Möglichkeit informierter Teilhabe am gesellschaftlichen Leben wie auch die Kontrolle der staatlichen Organe.

Das Recht auf Meinungsfreiheit und freie Meinungsäußerung ist im Artikel 19 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte garantiert: „Jeder hat das Recht auf Meinungsfreiheit und freie Meinungsäußerung; dieses Recht schließt die Freiheit ein, Meinungen ungehindert anzuhängen sowie über Medien jeder Art und ohne Rücksicht auf Grenzen Informationen und Gedankengut zu suchen, zu empfangen und zu verbreiten.“1

Die zentrale Bedeutung des Rechts auf freie Meinungsäußerung wurde von internationalen Gerichtshöfen und Organisationen in aller Welt anerkannt. Schon in ihrer allerersten Sitzung 1946 erklärte die UN-Vollversammlung dieses Recht in ihrer Resolution 59 zum „Prüfstein aller Freiheiten“, denen sich die Vereinten Nationen verpflichtet fühlen. Die Garantie der freien Meinungsäußerung gilt verstärkt noch für die Medien. So hat der Europäische Gerichtshof mehrfach die „herausragende Rolle der Presse“ für den Rechtsstaat herausgestellt, insofern sie für die Meinungsbildung über die politische Führung und ihre Absichten unentbehrlich sei. Sie befähige also jeden Bürger zur Teilnahme an der freien politischen Diskussion, „die das Kernstück des Konzepts einer demokratischen Gesellschaft darstellt“.2

Das Recht auf freie Meinungsäußerung gilt aber nicht absolut. Die Frage, in welchem Maße die Meinungsäußerung geschützt oder eingeschränkt werden sollte, ist Gegenstand umfassender Kontroversen. Nur wenige Staatsrechtler argumentieren, diese Freiheit dulde keinerlei Begrenzung. Die genau Grenze zwischen dem, was erlaubt und was verboten ist, war jedoch immer umstritten. Wie weit das Recht auf freie Meinungsäußerung gehen soll, bleibt letztlich in hohem Maße dem „Ermessen“ der einzelnen Staaten überlassen und ist damit vom jeweiligen Umfeld abhängig.

Nach dem internationalen Kodex für Menschenrechte darf das Recht auf freie Meinungsäußerung in zweierlei Hinsicht eingeschränkt werden: Erstens soweit es „für die Achtung der Rechte und des Rufs anderer“ erforderlich ist (Art. 19, Abs. 3a); zweitens „für den Schutz der nationalen Sicherheit, der öffentlichen Ordnung, der Volksgesundheit oder der öffentlichen Sittlichkeit“ (Art. 19, Abs. 3b). Voraussetzung ist jedoch, dass die Einschränkungen „durch Gesetz zugelassen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sind“, wie es in Artikel 10 der Europäischen Menschenrechtskonvention formuliert ist.

Dies ist die internationale Rechtsbasis für Beschränkungen des Rechts auf freie Meinungsäußerung auf nationaler Ebene, etwa in Form von Gesetzen gegen Verleumdung oder Blasphemie sowie nationale Sicherheitsbelange betreffend. Die Formulierung ist dabei so vage, dass sie den Staaten einen großen Ermessensspielraum lässt. Im Lauf der Zeit haben sich aber einige Kriterien herausgebildet. Am wichtigsten sind dabei die drei Anforderungen, die der Europäische Gerichtshof (EuGH) für die Beschränkung der Meinungsfreiheit aufgestellt hat:

– eine Beschränkung muss tatsächlich das legitime Ziel verfolgen, das sie zu erreichen behauptet;

– die Einschränkung muss nach einem demokratischen Verfahren erfolgen, also entweder durch das Parlament oder aufgrund einer Ermächtigung durch das Parlament;

– die Einschränkung muss „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig“ sein.

Der letzte Punkt ist sehr wichtig, und das Wort „notwendig“ ist dabei sehr wörtlich zu nehmen. Es reicht also nicht aus, dass die Einschränkung lediglich „nützlich“ oder „vernünftig begründbar“ ist.

Meinungsfreiheit und Hasspropaganda

Das Völkerrecht erlegt den Staaten eine ganz klare Pflicht auf, die in Artikel 20 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte formuliert ist. Hier heißt es im Absatz 1: „Jede Kriegspropaganda wird durch Gesetz verboten.“ Und im Absatz 2: „Jedes Eintreten für nationalen, rassischen oder religiösen Hass, durch das zu Diskriminierung, Feindseligkeit oder Gewalt aufgestachelt wird, wird durch Gesetz verboten.“

Dies ist die einzige Vorgabe, die Staaten bei der Einschränkung der Meinungsfreiheit erfüllen müssen. Es gibt jedoch noch keine verbindliche völkerrechtliche Norm in Bezug auf Propaganda oder sogenannte „hate speech“ (rassistische, sexistische, antisemitische und fremdenfeindliche Hetze). Und was etwa Kriegspropaganda betrifft, so wird sie in der Regel von den Staaten und Regierungen selbst betrieben.

In der juristischen Bekämpfung von Hate Speech zeigen sich deutliche Unterschiede. Das eine Extrem findet sich in den USA, wo sie wie andere Meinungsäußerungen geschützt ist, es sei denn, sie ist tatsächlich ein Aufruf zu Gewalt oder führt mit einiger Wahrscheinlichkeit zu „unmittelbarer Gewaltanwendung“. Das Kriterium ist sehr streng: Selbst eine Rede, die Gewalt rechtfertigt oder rassistische Beleidigungen enthält, ist noch geschützt, wenn nicht beweisbar ist, dass es zu „unmittelbarer“ Gewaltausübung kommen wird.

Das andere Extrem ist die konsequente Einschränkung von Hate Speech und die Entwicklung einer spezifischen Regelung für die Leugnung des Holocaust oder anderer Genozide. Besonders tiefe Unterschiede gibt es innerhalb der Europäischen Union, wo Frankreich und Deutschland sehr hohe Hindernisse gegen Hate Speech errichtet haben, während in Großbritannien und Ungarn etliche Formen von Hate Speech stark geschützt sind.

Der dänische „Karikaturenstreit“ war nicht überraschend, wenn man an die Reaktion auf die Publikation von Salman Rushdies „Satanischen Versen“ denkt oder an die Ermordung des niederländischen Filmemachers Theo van Gogh.

Das letzte Kapitel schrieb die französische Justiz erst vergangenen Monat. Die französische Satirezeitschrift Charlie Hebdo war von muslimischen Gruppen wegen „öffentlicher Beleidigung einer Gruppe aufgrund deren religiöser Zugehörigkeit“ angeklagt worden. Am 22. März wurde der Herausgeber Philippe Val von einem Pariser Gericht freigesprochen.

Der dänische Konflikt ist exemplarisch für den Zustand und das Schicksal der Beziehungen zwischen der arabisch-islamischen Welt und dem Westen. Dabei spielt sich die Konfrontation in Form öffentlichen Demonstrationen und Ausschreitungen ab, aber auch und noch intensiver auf der virtuellen Ebene: im Internet und in den Programmen der TV-Satellitensender.

Viele Regierungen im Westen appellierten an ihre Medien, sich „verantwortungsvoll“ zu verhalten, andere wiederum betonten, die Meinungsfreiheit sei eines der fundamentalen Freiheitsrechte. In dieser Neuauflage der Diskussionen über Blasphemie und Hate Speech bestanden die einen darauf, dass Attacken gegen eine Religion legitim seien, während die anderen argumentierten, dass die Gläubigen gegen solche Angriffe geschützt werden müssten. Zu neuen Blasphemie-Gesetzen ist es im Gefolge des Karikaturenstreits nicht gekommen, aber in vielen Fällen versuchten die Staaten gewaltsamen Demonstrationen entgegenzuwirken, wobei es zu Zensurmaßnahmen oder auch Festnahmen kam.

In der islamischen Welt wurden Journalisten und Redakteure, die die Karikaturen abgedruckt hatten, verhaftet und ihre Publikationen vorübergehend oder ganz verboten. Im Jemen wurden drei unabhängigen Zeitungen (Yemen Observer, Rai al-A’am und al-Hurriya) die Lizenzen entzogen und ihre Herausgeber inhaftiert. In Jordanien wurden die Herausgeber der Zeitungen Shihan und al-Mihwar wegen der Publikation der dänischen Karikaturen festgenommen, dann aber gegen Kaution wieder freigelassen. Aus demselben Grund wurde die Zeitung Shams in Saudi-Arabien vorübergehend eingestellt. In Malaysia verfügten die Behörden die Schließung der Sarawak Tribune und erklärten die Publikation und Produktion wie auch den Import und die Verbreitung, ja sogar den Besitz der Karikaturen für eine strafbare Handlung.

Andere Staaten setzten sich erfolgreich dafür ein, dass in die Präambel der Resolution der UN-Vollversammlung, die den neuen Menschenrechtsrat der UN konstituiert, ein Absatz aufgenommen wurde, in dem es heißt: „… Nichtregierungsorganisationen, religiöse Organe und die Medien haben einen wichtigen Beitrag zu leisten zur Förderung von Toleranz und Respekt vor Religion und Glauben wie auch der Religions- und Glaubensfreiheit.“

In den meisten Staaten ist Blasphemie nach wie vor ein Straftatbestand3 , obwohl die einschlägigen Paragrafen in vielen bewährten Demokratien nur selten angewandt werden. In Großbritannien etwa wurde seit 1923 nur zweimal ein entsprechendes Strafverfahren eingeleitet; in Norwegen reicht der letzte Fall bis 1936, in Dänemark bis 1938 zurück. Andere Staaten wie Schweden und Spanien haben ihre Blasphemie-Gesetze aufgehoben. In den USA weist das Oberste Bundesgericht jedes Gesetz, das Blasphemie verbieten will, immer wieder entschieden zurück. Der Supreme Court argumentiert, es gehöre nicht zu den Aufgaben der Regierung, „tatsächliche oder eingebildete Angriffe auf eine bestimmte religiöse Doktrin zu verhindern“4 .

Anders der Europäische Gerichtshof: Er befand, dass es bei Blasphemie auf nationaler Ebene einen Spielraum geben müsse, zu interpretieren, was „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig“ ist. Das entspricht der allgemeinen Auffassung des EuGH, der davon ausgeht, dass die staatlichen Behörden besser als internationale Richter in der Lage seien, über die „Notwendigkeit“ einer „Einschränkung“ zu befinden, die gerade die Menschen schützen soll, deren tiefste Gefühle und Überzeugungen am stärksten verletzt würden.

Dieser Argumentationslinie des EuGH widersprechen allerdings viele Organisationen, die für Menschenrechte und das Recht auf freie Meinungsäußerung eintreten. Blasphemie-Gesetze werden in der ganzen Welt immer wieder missbraucht, um Religionsfreiheit und Rechte religiöser Minderheiten einzuschränken. Zudem gibt es keinerlei Belege dafür, dass das Recht auf freie Religionsausübung, wie es nach internationalem Recht definiert ist, mit oder durch Blasphemie-Gesetze besser gewahrt oder geschützt wird. Denn dabei geht es nicht darum, eine Religion zu respektieren, sondern um den Respekt vor dem Recht der Menschen, die Religion ihrer eigenen Wahl zu praktizieren. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat zum Beispiel eindeutig entschieden, dass das Recht auf freie Religionsausübung dem Staat keinesfalls die Pflicht auferlegt, Gesetze zu verabschieden, die Gläubige vor Beleidigung oder Kränkung schützen.5

Wie in Entscheidungen von mehreren internationalen Gerichten herausgearbeitet wurde, bezieht sich das Recht auf freie Meinungsäußerung nicht nur auf „Informationen“ oder „Ideen“, die allgemein gutgeheißen werden, sondern auch auf solche, „die beleidigen, schockieren oder Anstoß erregen“. Solange den dänischen Karikaturen keine gezielte Absicht zugrunde lag, Hass zu propagieren, waren Zensurmaßnahmen gegen diverse Zeitungen, die sie abdruckten, nicht gerechtfertigt. Die Karikaturen waren zwar für viele Menschen anstößig, aber Beleidigung und Blasphemie sollten nicht der Schwellenwert sein, an dem die Freiheit der Meinungsäußerung endet.

Die Debatte um die Frage, wann eine Äußerung geschützt und wann sie strafbar ist, wurde noch konfuser und kontroverser, als in Österreich der Holocaust-Leugner David Irving verhaftet wurde. Die Gesetzgeber haben in vielen europäischen Ländern, darunter Österreich, Frankreich und Deutschland, das Leugnen des Holocaust unter Strafe gestellt. Im Oktober 2006 verabschiedete die französische Nationalversammlung einen Gesetzentwurf, der die Leugnung des Völkermords an den Armeniern im Jahre 1915 strafbar macht.6 Im Januar verurteilte die UN-Vollversammlung die Leugnung des Holocaust. Anfang 2007 erklärte Deutschland sogar die Absicht, ein Verbot der Leugnung des Holocaust auf EU-Ebene durchzusetzen.

Ob solche Gesetze die reale Gefahr einer erneuten Aufhetzung zum Genozid bekämpfen sollen, kann füglich bezweifelt werden. Es handelt sich wohl weit eher um eine politische Botschaft, die sich in erster Linie gegen Antisemitismus richtet. Für diesen Zweck sollten jedoch die bestehenden Rechtsvorschriften gegen Hate Speech ausreichen, die auch Grenzen für antisemitische Hasspropaganda setzen. Dagegen wirft ein pauschales Verbot, den Holocaust respektive jeden anderen Völkermord oder ein historisches Ereignis zu leugnen, viele Fragen auf und führt zu einer Reihe äußerst problematischer Konsequenzen.

Erstens geht diese Art Verbot über die anerkannten internationalen Rechtsgrundsätze in Sachen Hasspropaganda hinaus, denn hier wird ein historisches Ereignis zum Dogma erhoben und eine ganz spezifische Äußerung illegalisiert, unabhängig vom konkreten Kontext und den erzielten Wirkungen. Dieser Einwand gilt insbesondere für den französischen Gesetzentwurf zum Völkermord an den Armeniern. Der würde potenziell abweichende oder umstrittene Forschungsarbeiten und Publikationen verbieten, Frageverbote begründen und jede kontroverse wissenschaftliche Fragestellung abwürgen.

Zweitens verstärkt eine strafrechtliche Verfolgung von Holocaust-Leugnern die Aufmerksamkeit für „revisionistische Historiker“, indem sie ihnen öffentlichkeitswirksame Auftritte als Dissidenten gegen die etablierte Ordnung gestattet. Damit verliert aber der demokratische Staat die moralische Überlegenheit, die er eigentlich beanspruchen sollte. Zum Beispiel hat David Irving durch seine Verhaftung und Verurteilung in Österreich eine internationale Aufmerksamkeit erlangt, die er vorher nie genossen hatte. Und in den Augen seiner Anhänger wurde er zum Märtyrer gemacht.7 Zum dritten sollte man bedenken, dass Regierungen solche Gesetze benutzen können, um ihre Kritiker zum Schweigen zu bringen. In Ruanda richtet sich die Anschuldigung, ein „Verneiner“ zu sein (also den Genozid zu leugnen) häufig gegen mutmaßliche Gegner und Kritiker der Regierung, darunter auch gegen die einzige unabhängige Zeitung des Landes.

Ein vierter Einwand betrifft die Schwierigkeit, in einem Gesetz präzise und möglichst eng zu definieren, wann eine Leugnung des Holocaust vorliegt. Doch genau dies ist nach internationalem Recht für eine legitime Einschränkung des Rechts auf freie Meinungsäußerung zwingend erforderlich. Die meisten Gesetze beziehen sich nicht nur auf die Kernfakten, die internationale Gerichte mit ihren Urteilssprüchen gegen die Leugner schützen, also etwa die Existenz von Gaskammern und der Genozid an den Juden. Der Europäische Menschenrechtsgerichtshof zum Beispiel hat Frankreich bezichtigt, in einem Fall gegen die Achtung des Rechts auf freie Meinungsäußerung verstoßen zu haben. Zwei Franzosen waren verurteilt worden, weil sie die Legitimität des Urteils gegen Marschall Pétain wegen Kollaboration mit den Nazis bestritten haben. In diesem Fall stellte der Gerichtshof ausdrücklich fest, dass die umstrittenen Äußerungen Teil des Diskurses seien, „der in jedem Land stattfinden muss, um die eigene Geschichte offen und unbefangen zu diskutieren. In diesem Zusammenhang betont der Gerichtshof erneut, dass … der Grundsatz der Meinungsfreiheit nicht nur auf ‚Informationen‘ oder ‚Ideen‘ anwendbar ist, die auf positive Resonanz stoßen oder als unanstößig gelten oder gleichgültig hingenommen werden, sondern auch auf solche, die beleidigen, schockieren oder Anstoß erregen.“8

Am selben Tag, an dem das französische Parlament ein Gesetz gegen die Leugnung des Völkermords an den Armeniern verabschiedete, wurde dem türkischen Autor Orhan Pamuk der Nobelpreis für Literatur verliehen. Damit würdigte das Nobelpreiskomitee nicht nur Pamuks literarisches Werk, sondern ehrte zugleich einen standhaften Verteidiger der Meinungsfreiheit.

Diese beiden Ereignisse vom Oktober 2006 stehen für zwei unterschiedliche Prinzipien: Die Ehrung des türkischen Autors gilt der Gedankenfreiheit und fordert uns auf, offene Diskussionen über unsere Vergangenheit und über die Möglichkeit der Versöhnung zu führen. Das Gesetz des französischen Parlaments bannt uns in dogmatische Interpretationen, die uns von Versöhnung und einem gemeinsamen Verständnis der Geschichte entfernen.

Im Januar 2006 war Pamuk in Istanbul wegen Verstoßes gegen Artikel 301 des türkischen Strafgesetzbuchs angeklagt, der unter dem Straftatbestand „Beleidigung des Türkentums“ ein breites Spektrum kritischer Äußerungen verbietet. Obwohl Pamuk freigesprochen wurde, stehen in der Türkei noch mehrere Schriftsteller und Journalisten unter ähnlicher Anklage. Im Fall Pamuk wie bei einer Reihe noch anstehender Fälle bezieht sich die Anklage auf Äußerungen oder Publikationen, die explizit oder implizit den Genozid an den Armeniern anerkennen, was nicht nur gegen türkisches Recht verstößt, sondern auch ein striktes Tabu der türkischen Gesellschaft verletzt.

Völkermorde und Leugnungsverbote

Im Januar 2007 wurde Hrant Dink, türkischer Journalist armenischer Abstammung, vor seinem Büro von einem jungen Mann erschossen, der als extremer Nationalist gilt. Dink war Chefredakteur der zweisprachigen Wochenzeitung Agos, in der er sehr kluge Kommentare über das Verhältnis von Türken und Armeniern publizierte. Im Oktober 2005 hatte man ihn, ebenfalls nach Artikel 301, zu sechs Monaten Gefängnis auf Bewährung verurteilt. Wenige Wochen vor seiner Ermordung hatte Dink das französische Gesetz über den Völkermord an den Armeniern scharf kritisiert: „Wir sollten nicht zum passiven Opfer des irrationalen Verhältnisses dieser beiden Staaten werden. Ich werde in der Türkei angeklagt, weil ich gesagt habe, dass es einen Völkermord gab, wie es meiner Überzeugung entspricht. Aber ich werde nach Frankreich gehen, um gegen diesen Schwachsinn zu protestieren; und wenn ich es für nötig halte, werde ich gegen das neue französische Gesetz verstoßen. Ich werde das Verbrechen (der Leugnung) begehen, damit ich dort angeklagt werde.“9

Seit dem 11. September 2001 haben Länder in aller Welt schärfere Gesetze zum Kampf gegen den Terror verabschiedet, darunter Australien, Großbritannien, die USA, die Türkei, Russland, Marokko, Algerien, Tunesien, Jordanien, Ägypten, Thailand, Malaysia und die Philippinen. Und die britische Regierung hat im Februar 2007 im Unterhaus ein weiteres, „ergänzendes“ Antiterrorgesetz eingebracht.

In vielen Ländern ist inzwischen eine breite Definition des Begriffs „Terrorismus“ gebräuchlich. In der Russischen Föderation schließt die Definition von „Extremismus“ auch die Kritik an staatlichen Amtsträgern ein. Dies ist ein extremes Beispiel für eine Tendenz, die bei den neuen Antiterrorgesetzen weit verbreitet ist: Sie richten sich gegen ein immer größeres Spektrum von Gruppen und Aktivitäten, wozu auch bislang legale Protestformen gehören.

Nicht unbedingt demokratische Regime – genannt seien hier nur Usbekistan, China, Nigeria, Jordanien, Äthiopien und Nepal – bedienten sich der Antiterrorgesetze, um gegen friedliche Demonstranten, Dissidenten oder unliebsame Medien vorzugehen. Sie kriminalisieren die Befürwortung von Terrorismus bzw. die direkte oder indirekte Aufforderung zu terroristischen Aktionen. Bis Januar 2007 haben 34 Staaten die Terrorismus-Konvention des Europarats unterzeichnet, die von ihnen fordert, Handlungen unter Strafe zu stellen, die Terrorismus „provozieren“, was auch „indirektes Anstacheln“ bedeuten kann. Damit wird der Weg frei für neue innerstaatliche Gesetze. In Großbritannien und Dänemark wurde vor kurzem die „Rechtfertigung“ oder Befürwortung des Terrorismus unter Strafe gestellt; in Spanien und Frankreich gab es solche Gesetze bereits vor 2001.10

Besagte Vergehen sind so breit und vage umschrieben, dass das Ganze auf eine starke Beeinträchtigung der Vereinigungs-, Meinungs- und Pressefreiheit hinauslaufen dürfte. Diese Gesetze kriminalisieren im Endeffekt auch eine Form von „Anstacheln“, die extremistische Handlungen zur Folge haben könnte, also lediglich die Möglichkeit von Gewalttaten impliziert. Doch die Garantie des Rechts auf freie Meinungsäußerung erfordert nach internationalem Recht, dass eine Einschränkung im Interesse der nationalen Sicherheit – wozu auch das Verhindern terroristischer Aktionen gehört – nur unter der engen Voraussetzung möglich ist, dass die Maßnahme eine unmittelbar drohende Gewalttat verhindert. Dies ist auch der Kern der „Prinzipien von Johannesburg“, die inzwischen als endgültiger Maßstab für den Schutz der Meinungsfreiheit im Kontext nationaler Sicherheitsgesetze gelten.16

Insgesamt zeigt die Erfahrung, dass Beschränkungen des Rechts auf freie Meinungsäußerungen kaum ein wirksames Mittel gegen den Missbrauch dieses Rechts durch Extremisten und Rassisten sind. Vielmehr dienen solche Einschränkungen in der Regel dem Zweck, die Opposition oder Dissidenten und Minderheiten mundtot zu machen, um damit die herrschende Ideologie politisch und gesellschaftlich durchzusetzen. Die Funktion der Meinungsfreiheit besteht aber im Gegenteil gerade darin, die Vielfalt – der Interpretationen, der Meinungen und der wissenschaftlichen Forschung – zu schützen und zu verteidigen.

Fußnoten:

1 Ganz ähnliche Formulierungen wurden in den Artikel 19 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte (ICCPR) übernommen. Hier werden auch die Medien der Meinungsäußerung und -verbreitung spezifiziert: „… in Wort, Schrift oder Druck, durch Kunstwerke oder andere Mittel eigener Wahl“. Das Recht auf freie Meinungsäußerung wird auch durch regionale Menschenrechtskonventionen geschützt, desgleichen durch Artikel 10 der Europäischen Menschenrechtskonvention. 2 EuGH-Entscheidung zum Fall Castells v. Spain, 24. April 1992, Appl. No. 11798/85, para. 43. 3 Dazu: International Committee for the Defence of Salman Rushdie and his Publishers (Hg.), „The Crime of Blasphemy“, London (ARTICLE 19) 1989, www.article19.org/pdfs/publications/crime-of-blasphemy.pdf. 4 Entscheidung im Fall Joseph Burstyn, Inc. v. Wilson, 343 U.S. 495, 504f. (1952). 5 Dubowska & Skup v. Poland vom 18. April 1997, Application No. 33490/96. Das Urteil betrifft die Publikation eines Bildes von Jesus und Maria, die Gasmasken tragen, und besagt, dass die fragliche Publikation niemanden an der freien Religionsausübung gehindert hat. 6 Als Strafmaß ist eine Gefängnisstrafe bis zu fünf Jahren und eine Geldstrafe bis zu 45 000 Euro vorgesehen. 7 In Großbritannien, wo es kein Gesetz gegen Holocaust-Leugnung gibt, war Irving längst gründlich diskreditiert, als er eine Klage gegen die Historikerin Deborah Lipstadt verlor, die ihn 1998 als Holocaust-Leugner bezeichnet hatte. 8 www.democracynow.org/article.pl?sid=07/01/23/1530254. 9 Einige dieser Gesetze werden dargestellt und kritisiert auf der Website von „Article 19“: www.article19.org/publications/global-issues/security- agendas.html. Siehe dazu: www.article19.org/pdfs/standards/joburgprinciples.pdf. 10 Diese Prinzipien wurden von dem Global Judges Forum im August 2002 in Johannesburg verabschiedet. Demnach sollen sich die nationalen Sicherheitsinteressen darauf beschränken, „die Existenz eines Landes oder seine territoriale Integrität gegen den Einsatz oder die Androhung von Gewaltmitteln zu schützen wie auch seine Fähigkeit zu bewahren, auf den Einsatz oder die Androhung von Gewaltmitteln zu reagieren“.

Aus dem Englischen von Niels Kadritzke

Agnès Callamard ist geschäftsführende Leiterin des internationalen Projekts „Article 19“ mit Hauptsitz in London, siehe www.article19.org. Le Monde diplomatique nimmt am Zeitschriftenprojekt documenta 12 magazines teil.

Le Monde diplomatique vom 13.04.2007, von Agnès Callamard