Rhetorik als Außenpolitik
Die Kandidaten reden viel, haben aber kein Konzept von Bernard Cassen
Vor kurzem erschien ein Essay des ehemaligen Außenministers Hubert Védrine. „Außenpolitik ist kein Luxus. Frankreich wird sie mehr denn je brauchen“, schreibt er in diesem klaren Text über die aktuelle Weltpolitik, deren Dynamik in einen „Kampf der Zivilisationen“ münden könnte.1 Die künftige Regierung Frankreichs wird sich dazu – wie alle anderen Regierungen – verhalten müssen.2
In den Wahlprogrammen der Bewerber um das französische Präsidentenamt steht die Außenpolitik bezeichnenderweise meist an letzter Stelle und wird dann auch nur im Zusammenhang mit Europafragen erwähnt. In der Tat hängen die beiden Themen in vieler Hinsicht eng miteinander zusammen. Denn die Mitgliedsländer können sich in außenpolitischen Fragen gegenseitig stützen. Die Brüsseler Kommission hat in über hundert Ländern eigene Vertretungen. Und die politischen und diplomatischen Verhandlungen der EU-Mitglieder mit Drittstaaten tangieren auch die gemeinsame Handels- und Agrarpolitik, für die seit Jahrzehnten ausschließlich die Europäische Union zuständig ist.
Auf der anderen Seite werden Europa- und Außenpolitik zu Recht als getrennte Bereiche betrachtet, denn die Union greift mit ihren strikten Direktiven vor allem in die Innenpolitik der Mitgliedsländer ein. Bereits heute verfügen die 27 Staaten nicht mehr uneingeschränkt über zwei wirtschaftspolitisch entscheidende Instrumente: die Geld- und die Haushaltspolitik.
Das Steuersystem liegt zwar theoretisch noch immer in einzelstaatlicher Zuständigkeit, wird aber unter dem Druck des innergemeinschaftlichen Wettbewerbs zunehmend vereinheitlicht. Die 80 000 Seiten des „acquis communautaire“, des „gemeinschaftlichen Besitzstands“, der die gesamten, für alle Mitgliedstaaten verbindlichen Rechte und Pflichten festlegt, beziehen sich auf fast sämtliche Aktivitäten der Länder.
Keine Ahnung von EU-Verträgen
Das Kapitel Europapolitik müsste also logischerweise an der Spitze aller Wahlprogramme stehen; schließlich beschränkt sich der Spielraum für einzelstaatliches Handeln auf die Lücken, die die Gemeinschaftspolitik noch belässt. Ohne eine Neuverhandlung der EU-Verträge werden also viele der Maßnahmen, die sich in den Wahlgeschenkkörben der Präsidentschaftskandidaten finden, völlig folgenlos bleiben.
Unter den Vorschlägen, welche die Befürworter des Verfassungsvertrags propagieren, finden sich sogar solche, die eben dieser Verfassungsvertrag unmöglich gemacht hätte. Das gilt etwa für Sarkozys Ablehnung von Steuerdumping3 oder für den ganz ähnlichen Vorschlag von UDF-Chef François Bayrou für eine europaweite Harmonisierung der Steuersysteme. Man denke auch an die Forderung der Grünen und ihrer Präsidentschaftskandidatin Dominique Voynet, „den Zugang zum EU-Markt auf Güter und Dienstleistungen zu beschränken, bei deren Herstellung und Transport zumindest die Konventionen der Internationalen Arbeitsorganisation beachtet wurden“. Oder an Punkt 89 des 100 Maßnahmen umfassenden „Präsidentschaftspakts“ von Ségolène Royal (PS), die in den Statuten der Europäischen Zentralbank (EZB) die Ziele „Wachstum und Beschäftigung“ verankern möchte. Oder an Frau Voynets weitergehenden Vorschlag, die Unabhängigkeit der EBZ aufzuheben.
Diese und andere Vorschläge, die geltende EU-Verträge offen in Frage stellen, bilden in vielen Bereichen die Basis der wirtschafts- und sozialpolitischen Zukunftsvorstellungen der genannten Kandidaten. Was aber geschehen soll, wenn die anderen 26 EU-Mitglieder diese Vorstellungen nicht teilen – was sehr wahrscheinlich ist –, darüber schweigen sich die Anwärter auf das höchste Amt aus.
Nicht viel aussagekräftiger wird es, wenn es um die Außenpolitik geht. Die meisten belassen es bei allgemeinen Feststellungen. Nur scheinbar paradox ist, dass die meisten Vorschläge von Kandidaten stammen, die nicht die geringste Aussicht haben, in den Elyséepalast einzuziehen. Das gilt etwa für Olivier Besancenot von der trotzkistischen LCR (Ligue Communiste Révolutionaire) oder für José Bové und Marie-George Buffet von der „Gauche Populaire et Antilibérale“, die als einzige Kandidaten4 den Austritt Frankreichs aus der Nato und die Auflösung des Militärbündnisses fordern. Frau Royal wünscht sich in dieser Frage nur, man möge in Zukunft „der Neigung widerstehen, den Handlungsrahmen und die Interventionsbereiche der Nato beständig auszuweiten“.
In drei großen Fragen der aktuellen Weltpolitik kommen die Kandidaten um etwas genauere Ausführungen allerdings nicht herum: die Beziehungen zu den Vereinigten Staaten, die Konflikte im Nahen Osten und die Präsenz Frankreichs in Afrika.
Die transatlantischen Beziehungen sind vor allem nach dem Debakel im Irak und dem Sieg der Demokraten bei den US-Zwischenwahlen vom November 2006 ein hochsensibles Thema. Bei der Lektüre der Wahlprogramme und Erklärungen gewinnt man den Eindruck, dass transatlantische Präferenzen mittlerweile im gesamten Parteienspektrum zumindest verbal tabu sind – sowohl bei den Kandidaten „links von der Linken“, also auch bei Philippe de Villiers von der Bewegung für Frankreich (MPF) oder bei Jean-Marie Le Pen von der Front National (FN). Die Grünen mit ihrer Kandidatin Dominique Voynet äußern sich in ihrem Programm zwar mit keinem Wort zu dieser Frage. Aber sie stehen kaum im Verdacht, die nachgerade antiökologische Politik von George W. Bush zu befürworten. Umso gespannter ist man auf die Aussagen von Bayrou, Royal und Sarkozy.
Bayrou und die Sozialistische Partei haben 2003 den Einmarsch in den Irak verurteilt, und der Präsidentschaftswahlkampf gibt dem Kandidaten die Chance, seine Kritik zu aktualisieren: „Ich habe der Position, die von Staatspräsident Chirac vorgegeben und von Dominique de Villepin verteidigt wurde, zugestimmt. Frankreich trat nicht arrogant auf, Frankreich blieb sich selbst treu.“ Auch Frau Royal begrüßte Chiracs Position. Darin unterschied sie sich von ihrem Mitbewerber um die Präsidentschaftskandidatur Dominique Strauss-Kahn, der den „Stil“ der französischen Diplomatie verurteilt und damit offen lässt, was er über deren Substanz denkt. In der Zeitschrift Le Meilleur des Mondes, die von US-freundlichen Irakkrieg-Befürwortern wie André Glucksmann herausgegeben wird, erklärte der ehemalige Finanzminister schlicht: „Meine Linie in dieser Frage könnte man so zusammenfassen: Weder Chirac noch Blair. Weder die sterile Arroganz von Jacques Chirac noch das Mitläufertum von Tony Blair.“5
Arroganz, das Schlüsselwort aller Gegner der französischen Irakpolitik auf beiden Seiten des Atlantik, ist auch Sarkozy nicht fremd. Er schreibt in derselben Ausgabe der Zeitschrift der französischen Neokonservativen: „Ich will kein arrogantes Frankreich.“ Wie zum Beweis seiner Demut reiste er am 12. September 2006 nach Washington, um sich an der Seite von George W. Bush ablichten zu lassen – und dabei zu erklären, Frankreich sei in seinen Beziehungen zu Washington „nicht frei von Schuld“.
Doch Sarkozy erkannte alsbald, welch enormen Fehler er begangen hatte, als er mit seinem USA-Besuch den Anschein erweckte, er würde Bushs Außenpolitik gutheißen. Den gleichen Fehler hatte 2004 der spanische Ministerpräsident José María Aznar gemacht, was unter anderem zu seiner Niederlage bei den Parlamentswahlen beigetragen hatte. Und auch Tony Blairs Abschied als Premierminister wird deswegen wenig ruhmreich sein. Deshalb ist der UMP-Kandidat, dem seither der Spitzname „Sarkozy, der Amerikaner“ anhängt, seit Wochen bemüht, sein Image als Atlantiker zu korrigieren. So richtet er an „unsere amerikanischen Freunde“ die Bitte, Frankreich und Europa „in Freiheit“ handeln zu lassen, denn Freundschaft sei nicht gleichbedeutend mit Unterwerfung, wie er am 28. Februar 2007 verkündete. Fragt sich nur, zu welchem Zeitpunkt er seine wahren Gedanken enthüllte, im September 2006 oder im Februar 2007.
Lauter Widersprüche in der Nahostfrage
Mit Blick auf die Lage in Palästina vertreten die drei in den Umfragen führenden Kandidaten keine andere Position als die regierungsamtliche Politik, unterstützen diese aber auch nicht ausdrücklich. Bayrou äußert sich in dieser Frage überhaupt nicht, und Sarkozy sendet unbewusst widersprüchliche Signale. Einerseits erklärte er, man dürfe von Israel nicht alles hinnehmen, um damit seinen Ruf zu widerlegen, dass er ein bedingungsloser Unterstützer Israels sei. Andererseits erinnert er dann wieder daran, dass ihn seine „erste Reise als UMP-Vorsitzender nach Israel führte, um Scharon zu treffen“.6
Die widersprüchlichen Erklärungen, die Frau Royal auf ihrer Nahostreise abgab, erweckten den Anschein, die PS-Kandidatin würde den israelischen Sicherheitszaun befürworten. Andererseits fand der Präsident der palästinensischen Autonomiebehörde Mahmud Abbas nur herzliche Worte für die Kandidatin. Jedenfalls ist Punkt 92 ihres „Präsidentschaftspakts“ – „Wir wollen mit unseren europäischen Partnern die Initiative für eine Internationale Friedens- und Sicherheitskonferenz im Nahen Osten ergreifen“ – so sehr vom Ermessen Dritter abhängig und so schwammig formuliert, dass er nirgends Anstoß erregen kann. Überdies bleibt im Dunkeln, auf welcher Rechtsgrundlage eine solche Konferenz stattfinden soll. Nur José Bové und Frau Buffet präzisieren, sie müsse unter UN-Ägide stattfinden und die Errichtung eines unabhängigen palästinensischen Staats an der Seite Israels in den Grenzen von 1967 und mit Ostjerusalem als Hauptstadt zum Ziel haben. Den Flüchtlingen sei ein Rückkehrrecht einzuräumen, über dessen Umsetzung neu zu verhandeln sei.
Obwohl die sozialistische Präsidentschaftskandidatin mit ihren Vorschlägen nur die einschlägigen UN-Resolutionen ins Gedächtnis ruft, muss sie den proisraelischen Reflexen in den Führungskreisen ihrer Partei Rechnung tragen, und dies ungeachtet ihrer persönlichen Meinung, wenn sie denn eine hat. Die proisraelische Einstellung der PS-Führung äußert sich – so ähnlich wie beim Thema französische „Arroganz“ – freilich nur verschlüsselt, nämlich als Kritik an „Frankreichs Politik gegenüber den arabischen Ländern“. Das heißt im Klartext: Die französische Nahostpolitik ist nicht so israelfreundlich, wie sie sein sollte.8
Zur Iranfrage vertreten die Kandidaten – wenn überhaupt – nur scheinbar eindeutige Positionen. Bayrou beschwört ein neues „Münchner Abkommen“ herauf, falls der Westen dem Iran Atomwaffen zugestehen sollte. Deshalb plädiert auch er für „Entschlossenheit“, ohne klar zu machen, wie weit die gehen soll. Sarkozy hält eine Militärintervention angesichts der Wirtschaftssanktionen gegen Teheran für „unnötig“, will diese Option aber nicht im Vorfeld als „gefährlich“ bezeichnen. Frau Royal wiederum hütete sich, auf ihre überaus peinliche Erklärung zurückzukommen, dem Mullahregime sei auch die zivile Nutzung der Atomenergie zu verwehren – ein Vorschlag, der eindeutig gegen internationales Recht verstieße. Kurzum: Niemand weiß, wie sich die französische Regierung unter Leitung von Bayrou, Sarkozy oder Royal im Fall einer militärischen Intervention der Vereinigten Staaten und/oder Israels verhalten würde.
Zumindest in einem Punkt sind sich jedoch alle Bewerber um das höchste Staatsamt einig: über die Auflösung von „Françafrique“. Sie möchten Schluss machen mit den privilegierten persönlichen Beziehungen des französischen Präsidenten zu den afrikanischen Staatschefs und die bis in die 1960er-Jahre zurückreichenden Seilschaften beenden, an deren Spitze nacheinander die Herren Jacques Foccart, Charles Pasqua und Jean-Christophe Mitterrand standen. Diese Zielsetzung übernimmt jedoch nur, was die drei folgenden Denkströmungen bereits schon lange vertreten, die auch Chiracs Außenpolitik aus unterschiedlichen Motiven kritisiert haben: die „Menschenrechtsverfechter“, die die Menschenrechte zur Grundlage jeder Außenpolitik machen wollen, die „Europäer“ und die transatlantische Schule.9
Die beiden zuletzt genannten Gruppen haben ihre Legitimität seit dem Referendum vom 29. Mai 2005 und dem politischen Fiasko im Irak zumindest zeitweise eingebüßt. Die Priorität der Menschenrechte hingegen wird in Frankreich unabhängig vom künftigen Staatspräsidenten dominieren und die außenpolitische Haltung gegenüber China, Russland, der arabischen Welt und Afrika bestimmen. Eine Gesamtvision der globalen Kräfteverhältnisse und ihrer Entwicklung ist nirgends in Sicht. Unklar bleibt auch, welchen Raum es noch für die Durchsetzung vitaler nationaler Interessen geben kann, die inzwischen als „wenig rühmlich und politisch unkorrekt“10 gelten. Doch das Menschenrechtsargument bietet immerhin noch den Vorteil, dass es eine einfache – manche würden sagen, eine etwas schlichte – Orientierung liefert.
Fußnoten:
Aus dem Französischen von Bodo Schulze