13.04.2007

Politik als Wunschmaschine

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Politik als Wunschmaschine

In Frankreich tobt ein Wahlkampf der Gefühle von François Brune

Ein „Pakt“, das ist definitionsgemäß eine mündliche Vereinbarung, die zumeist noch durch Unterschrift besiegelt wird. Darüber hinaus erstrahlt, wer einen Pakt schließt, im noblen Glanze dessen, der sich auf etwas einlässt.

Kein Wunder also, dass das Wort im derzeitigen Wahlkampf bei den Kandidaten so beliebt ist – man nimmt eben lieber feierliche Posen ein als dröge Programme zu diskutieren. Unter dem Einfluss der PR-Leute im Dienste der Kandidaten ist ein „Pakt“ inzwischen nur noch eines: eine rhetorische Konfektionsware aus dem Repertoire der Selbstinszenierung.

Die Rede von Nicolas Sarkozy auf dem Parteitag der UMP („Union für eine Volksbewegung“)1 konnte trotz aller feierlichen Weitschweifigkeit nicht lange darüber hinwegtäuschen: Unter dem Glanz der klassischen Rhetorik verbirgt sich reines Marketingdenken.

Um den ideologischen Zickzackkurs des Kandidaten zu rechtfertigen, durfte er sich auf gleich zwei doch sehr unterschiedliche Traditionen berufen: die des Gaullismus (Charles de Gaulle, Jacques Chaban-Delmas, Georges Mandel) und die der historischen Linken Frankreichs (Léon Gambetta, Jean Jaurès, Léon Blum). Diese Taktik ist in Frankreich ausgiebig kommentiert worden. Und als wäre das nicht genug der Eitelkeit, verkündete Sarkozy auch noch: „Ich habe mich verändert“ – und erzählte seine Lebensgeschichte2. Es ist die schöne Geschichte vom langsamen Zur-Reife-Gelangen eines Wunderkinds, das nun endlich weiß, wo es hingehört: „Ich habe mich verändert, weil mich die Herausforderungen des Lebens verändert haben (…) Ich habe mich verändert, weil mich die Macht verändert hat (…) Ich habe mich verändert, weil man sich ändern muss, wenn man mit den Ängsten der Arbeiter konfrontiert wird, die fürchten, dass ihre Fabrik schließen wird.“

Paradoxerweise diente all dieses Sich-Ändern vor allem dem Zweck, eine bislang verborgene Konstante im tiefsten Inneren des Innenministers aufzuzeigen – seine Fähigkeit zur Empathie: „Es gibt Gefühle, die man so deutlich spürt, dass keine Worte mehr nötig sind (…) Dinge, die ich lange verschwiegen habe. Gefühle, die ich lange für mich behalten habe.“ Was den Gedanken nahelegt: Wenn sich jemand in seinem Leben derart gewandelt hat und sich dabei doch immer gleich bleiben konnte – dann sollte man sich wirklich auf alles gefasst machen.

Persönlich-betroffen geht es aber nicht nur bei „Nicolas“ zu. Die Sozialistin Ségolène Royal hat den Reigen der Einblicke ins Kandidaten-Ich überhaupt erst eröffnet. Das begann schon, als sie in ihrer Kandidatenrede den Erfolg zur Pflicht erklärte und dabei aus ihren Gefühlen nun wirklich keinen Hehl machte: „Ich möchte Ihnen sagen, wie sehr ich diese Mischung aus Ernst und Glück in mir spüre (…) Im Herzen die Revolte lebendig erhalten (…) Ich weiß, wie hart der Kampf sein wird, der mir bevorsteht. Ich fürchte mich nicht davor.“3

Danach nahm sie sich die „Zukunftssehnsüchte“ der Franzosen vor – sowohl in ihrem Blog als auch in den diversen „partizipativen“ Debatten, bei denen sie von ihrem Platz in der Mitte des Saals aus Fragen beantwortete – vorher ausgewählte Fragen, versteht sich. Ihren Höhepunkt erreichte diese Orchestrierung der Sehnsüchte, als die Kandidatin am 11. Februar einen Maßnahmenkatalog vorlegte, der schon allein deswegen so ungemein sozial wirkte, weil er vor mütterlicher Fürsorge nur so strotzte: „Als Mutter will ich für alle Kinder, die in Frankreich zur Welt kommen und aufwachsen, dasselbe, was ich auch für meine eigenen Kinder gewollt habe.“ Man hat den pathetischen Ton Royals für aufrichtig gehalten; in Wirklichkeit war er einstudiert, das zeigt schon seine gezielte Allgegenwart: „Ich, Ségolène Royal, ich sage, das ist nicht gerecht“ – „Ich höre einen Wutschrei aufsteigen aus den Reihen der französischen Arbeiter“ (heißt das etwa, dass sie sozial doch etwas weiter oben steht?) – „Ich glaube daran mit ganzer Seele, wir können die Wirtschaft wieder ankurbeln“ (ist das denn eine Glaubensfrage?) – „Ich sage noch einmal, aus tiefstem Herzen“ – et cetera.

Frage: Sind große Gefühle ein Garant für gute Politik? Ist die Zukunft des Gemeinwesens tatsächlich eine Frage von „Sehnsüchten“ und Emotionen, die man mit Sätzen wie „Ich danke Ihnen dafür, dass Sie heute mit mir hier sind“ oder „Sie haben absolut recht, wenn Sie sagen, dass …?“4 mal eben aufwallen lässt? Sollte sich die Meinung des Wahlvolks nicht zunächst einmal dadurch bilden, dass ihm ein durchdachtes politisches Programm vorgeschlagen wird, das langfristig und im historischen Zusammenhang sinnvoll ist? Wie sonst kann der Wählerwille mehr sein als „die öffentliche Meinung“, deren Schwankungen die Umfrageergebnisse so unerhört hingebungsvoll verzeichnen?

Ségolène Royal jedenfalls scheint nicht dieser Ansicht zu sein – sonst hätte sie wohl kaum im Oktober vergangenen Jahres, befragt nach ihrer Meinung zu einem möglichen EU-Beitritt der Türkei, geantwortet: „Ich habe dieselbe Meinung wie das französische Volk, denn es ist das französische Volk, das dazu Stellung nehmen muss.“

Die Grundstruktur der Aussage: „Ich bin wie ihr, also wählt mich“ ist eine gern benutzte demagogische Strategie, ein Spiel mit Projektion und Selbstinszenierung. Neuerdings werden auch verstärkt die Methoden aus der Werbung angewandt – emotionale Ansprache, hedonistischer Appell: „Ich fühle wie ihr, löst euch in meinen Gefühlen auf.“ Wenn man aber „fühlt wie jemand“ (weil die Selbstdarstellung, das heißt das Design des Kandidaten darauf angelegt ist), ist das eigene Wollen, das doch nur das Resultat einer gereiften Entscheidung sein kann, endgültig disqualifiziert.

Nehmen wir das Wahlkampfmotto der Sozialisten: „Pour que ça change fort“ („Damit sich mal richtig etwas bewegt“) – das ist keine politische Absichtserklärung, sondern ein Werbespruch: Die emotionale Ansprache ist wichtiger als die Information. Die rationale Auseinandersetzung spielt keine Rolle mehr, es folgt einfach ein Gefühl aufs andere. Symptomatisch dafür ist, dass die Befürworter einer europäischen Verfassung aus der Ablehnung des Verfassungsentwurfs beim Referendum in Frankreich im Mai 2005 nur die eine Lehre gezogen haben: dass man den Menschen mehr „Lust“ auf die Europäische Union machen müsse.

Und Marie-George Buffet, Präsidentschaftskandidatin des linken Bündnisses, „sagt“ schon gar nichts mehr – sie „möchte“ nur noch „gern etwas sagen“. Diese sprachliche Unart greift um sich. Es ist fast, als dürfe man nur noch eine politische Meinung äußern, wenn man auch Lust dazu hat.

Wozu brauchen wir überhaupt noch gemeinsame politische Programme – jetzt kommen die gemeinsamen Sehnsüchte! Das heißt, der zukünftige Präsident wird tun können, was er will – er muss seine Entscheidungen ja nur durch den Verweis auf einen gefühlsmäßigen Konsens rechtfertigen, anfechten kann das niemand. Ségolène Royal hat es vorgemacht: „Was ich sage, das verstehen alle Frauen.“5

Natürlich trifft es zu, dass das Amt des französischen Präsidenten eine stark personalisierte Machtfülle bedeutet. Die Kandidaten müssen also tatsächlich ihre Eignung als Führungspersönlichkeit unter Beweis stellen – das sollte aber auch mit sachlichen Mitteln möglich sein. Wenn es stimmt, dass man nicht über eine angeblich objektive Wirklichkeit reden kann, ohne dabei etwas über sich selbst zu sagen – dann sollte aber umgekehrt der Wirklichkeitsbezug doch nicht ausschließlich dazu da sein, die eigene Person in Szene zu setzen.

So diente in der Rede Sarkozys vom Januar die Verherrlichung Frankreichs nur allzu offensichtlich der Verherrlichung des Redners selbst – gewissermaßen durch Verbal-Osmose –, und die Beschwörung einer „lupenreinen Demokratie“ suggerierte die eigene Unbestechlichkeit. Hat die Presse diese Art der Rhetorik kritisiert? Nein – denn sie „funktionierte“. Die Ideologie von der Medienwirksamkeit hat sich inzwischen so weit durchgesetzt, dass Imagepflege ganz selbstverständlich zum einzigen Zweck einer jeden Botschaft geworden ist. Kommentiert wird nur noch, ob die jeweilige Inszenierung gelungen ist. Ob aber jemand, der sich nur vorgeblich für das Gemeinwohl interessiert und in Wahrheit sich selbst zur Geltung bringen will, das Prinzip der politischen Rede selbst pervertiert – diese Frage wird gar nicht erst gestellt; ebenso wenig wie die, was mit einer Öffentlichkeit passiert, die vom politischen Diskurs nur noch den Hinweis auf die Erfüllung ihre eigenen Wünsche zu erwarten gelernt hat; und die sogar noch Beifall klatscht, wenn sie mit besonders großem Geschick manipuliert wird.

Natürlich präsentieren die Kandidaten auch konkrete Maßnahmen – sogenannte Vorschläge –, ganz so als stünde hinter dem Ganzen ein echtes politisches Programm. Sie wissen genau, dass die emotionale Wirkung ihrer Reden irgendwann nachlässt und dass sie die Glaubwürdigkeit ihrer Versprechen auf andere Art untermauern müssen. So haben einige unter ihnen zum Beispiel den sogenannten Öko-Pakt des Umweltaktivisten Nicolas Hulot unterzeichnet. Das ist sehr schön von ihnen.

Man könnte noch ein paar andere „dringende Maßnahmen“ nennen, mit denen die Kandidaten hier und da ihre Vorschläge garnieren – von kostenlosen Kondomen für Studenten über die Sanierung der Gefängnisse bis hin zum neuesten Trick, mit dem man die Arbeitslosigkeit nun aber endgültig beheben wird. So bemühen sie sich allesamt, mit Hilfe einiger Maßnahmen, die mit der entsprechenden Dramatik präsentiert werden, ein Pogramm vorzutäuschen – auf ähnliche Weise, wie in der Literatur mit Hilfe bestimmter Techniken ein Gefühl von Realität erzeugt wird. Bleibt nur ein Problem: All den verschiedenen Ideen, welche die Kandidaten je nach Stand des Wahlkampfs plötzlich und immer häufiger als Patentrezepte aus der Tasche ziehen, mangelt es an dem, was echte Politik überhaupt erst ausmacht: Kohärenz. Das wäre ein systematischer Zusammenhang zwischen den gesetzten Zielen sowie zwischen den zeitlichen und praktischen Möglichkeiten, diese auch zu erreichen.

Die drei Kandidaten, die in den Umfragen vorn liegen, pflegen diesen Mangel mit großer Schärfe anzuprangern – bei ihren jeweiligen Gegnern. Aus den vorderen Reihen der UMP werden etwa das Mitleidspathos und die sozialen Klischees kritisiert, mit denen Ségolène Royal das formlos gewordene Gewand der Sozialistische Partei aufzupeppen versucht hat. Nun ja – es verfügt eben nicht jeder über die subtile Kohärenz eines Nicolas Sarkozy, der zur gleichen Zeit die Steuern für die Reichen senken und die Arbeitslast der Armen erhöhen will. Doch analysiert man Sarkozys Sprache, die Wendungen, die er gebraucht und gelegentlich missbraucht, dann beginnt man zu zweifeln, ob der Kandidat, der in seinen Äußerungen so viel Wert auf erfolgsorientiertes Handeln legt, überhaupt wirklich handeln will.

Im letzten rhetorischen Crescendo seiner Parteitagsrede hat er sich mehr als zehnmal der gleichen Floskel bedient: „Ich will der Präsident eines Frankreichs sein, das sagen wird …“ – „Ich will der Präsident eines Frankreichs sein, das den Europäern sagen wird …“ – „das allen Ländern des Mittelmeerraums sagen wird …“ – „das den USA sagen wird …“ – „Ich will ihm sagen, dass ich daran glaube, dass …“ – „Ich will der Präsident eines Frankreichs sein, das allen Menschen sagen wird …“ – und so weiter.

All diesen Sätzen liegt folgende dreigliedrige Struktur zugrunde: Ich sage / dass ich sein will / eine Person, die sagen wird. Wer so spricht, der träumt buchstäblich davon, immer nur weiter zu reden, aber nie zu handeln. Die Rede, die dem Redner als Maske dient, verrät ihn auch: Wer verspricht, „alles vorher zu sagen“, und „später alles zu tun“ ist am Ende wohl doch – ein Phrasendrescher?

Fußnoten:

1 Rede beim Parteitag der UMP am 14. Januar, auf dem Sarkozy mit 98 Prozent der Stimmen als Präsidentschaftskandidat der UMP nominiert wurde. 2 Siehe Christian Salmon, „Eine gute Story. Die Macht ist mit dem, der die beste Geschichte erzählt“, Le Monde diplomatique, November 2006. Wie in den USA setzt man im Wahlkampf jetzt gern auf das „Storytelling“: Man erzählt von sich, um seine Vorhaben oder die eigene Ideologie durchzusetzen. „Hört euch meine Geschichte an: Es ist auch eure!“ 3 Rede vom 11. Oktober 2006 zur Wahl als Spitzenkandidatin der Sozialistischen Partei für die Präsidentschaft. 4 Im privaten französischen Fernsehsender TF1, 19. Februar 2007. 5 Ségolène Royal, im französischen Radiosender France-Inter, 26. Februar 2007.

Aus dem Französischen von Patrick Batarilo

François Brune ist ein Pseudonym des Autors Bruno Hongre. Zuletzt erschienen: „Révisez vos références politiques“, Paris (Ellipses) 2006.

Le Monde diplomatique vom 13.04.2007, von François Brune