13.05.2011

Gangster, Mütter, Straßenkinder

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Gangster, Mütter, Straßenkinder

Besuch im Frauengefängnis von Mexiko-Stadt von Cathy Fourez

Im zentralen Frauengefängnis von Mexiko-Stadt, dem Centro Femenil de Readaptación Social („Zentrum für die gesellschaftliche Wiedereingliederung von Frauen“) Santa Martha Acatitla, leben 1 900 Gefangene unter der strengen Routine der Haft.

Die Einrichtung wurde im März 2004 in Iztapalapa, einem der ärmsten und gewalttätigsten Bezirke der Hauptstadt, unmittelbar neben einem älteren Männergefängnis eröffnet und ist auf 1 600 Insassinnen ausgelegt. Der Bau orientiert sich mit seinem polygonen Grundriss an einem Entwurf des englischen Utilitaristen Jeremy Bentham, der 1791 nach einer möglichst kostengünstigen und zweckmäßigen Bauweise für Gefängnisse suchte. Benthams „Panopticon“ gewährt von einem zentralen Turm aus überallhin Einsicht und lässt sich theoretisch von einem einzigen Aufseher überwachen. Dementsprechend werden in Santa Martha Acatitla die umlaufenden, spiralförmig ansteigenden Gänge von durchbrochenen Mauern gestützt. Die Häftlinge sind im Prinzip immer der Neugier der Wärterinnen und Mitinsassinnen ausgesetzt. Sie wissen nie, ob sie gerade beobachtet werden und fühlen sich allzeit kontrollierenden Blicken ausgesetzt. Hier entfaltet sich genau jene Sphäre der Disziplinierung, die Michel Foucault als charakteristisch für die Besserungsanstalten der Moderne beschrieben hat.1

Egal wie man durch die Anlage geht: Überall sieht alles gleich aus. Die Gänge wirken endlos, vor allem wegen der schmalen senkrechten, die perspektivische Wahrnehmung überhöhenden Schlitze in den Betonwänden, durch die man in einzelne Zellen, in kleine Basketballhallen oder runde Innenhöfe hineinsehen kann. Zudem verlaufen sie in Kurven und Zickzacklinien, was das Tempo beim Gehen bremst und jede Ortsveränderung mit dem milden Rausch eines Schwindelgefühls begleitet. Die ausgeklügelte Wegführung zügelt nicht nur besonders aufbrausende und impulsive Gemüter. Gleich einem orthopädischen Korsett unterwirft sie schon das bloße Gehen und Stehen der Häftlinge einer Normierung.

Durch diese Korridore winden sich die eingeschlossenen Stimmen. Im Gefängnis muss eine Stimme schon sehr viel Klang besitzen, damit sie überhaupt wahrgenommen wird und trägt. Denn sogar die Einsamkeit, wie sie an einem Ort wie diesem unweigerlich herrscht, entsteht durch eine brodelnde, ruhelose, fast geschwätzige Stille. Eine große kollektive Stimme wabert in asynchronem Auf- und Abschwellen, sich ständig verändernd, durch das Gebäude, dringt in Wellen von den beiden Innenhöfen her durch das Netz der Korridore: Musik, Cumbia oder Hiphop, an der sich Gruppen von „Amazonen“ versuchen; Buhrufe, platzende Lacher und gebrüllte Wortwechsel beim Basketballspiel; gellende Schreie, die im Gewimmel untergehen und denen niemand antwortet, ausgestoßen von Frauen, denen außer der Kraft zum Schreien keine mehr geblieben ist; Kreischen und Singen tobender Kinder, die, wenn sie hier geboren wurden, bis zu ihrem sechsten Geburtstag bei ihren Müttern bleiben können; Quietschen und Scharren von Stuhlbeinen auf den Fliesenböden der Werkstätten; laute Stimmen auf den Treppen zum Männergefängnis, wo durch die Absperrung hindurch Familienklatsch, Liebesschwüre, Beschimpfungen, Anmache und frotzelnde Sprüche ausgetauscht werden, ein verbaler Tausch mit einem drüben ebenso eingesperrten, weit entrückten Mann, nach dem sich der Körper sehnt. Andauernd dröhnt der Lärm vieler Menschen und scheppernder Gegenstände, fröhlicher oder klagender, zufällig gleichzeitiger Töne, und erzeugt an diesem Ort der Enge eine ungreifbare, unendliche Ouvertüre.

Zum Geräuschpegel kommt eine dichte Fülle verschiedenster Gerüche. Der stechende Geruch chlorhaltiger Desinfektionsmittel, ein penetrant metallenes Aroma, setzt sich in den Kleidern fest und wird hier und dort vom üblen Gestank verstopfter Toiletten oder dem Schweißgeruch in den Gängen überlagert. Seltener riecht es auch nach kleinen kulinarischen Glücksmomenten, die sich manche Insassinnen mit in der Haft verdienten oder von Verwandten geschickten Geld bescheren: Es ist der Duft gebackener Tortillas, würziger Suppen, scharfer Fleischsoßen, die an die Wohnungen einfacher Leute und die Märkte in den Gassen der Altstadt erinnern. Dieser Reichtum lässt für Momente das fade Essen der Gefängnisküche vergessen.

Auch der Tastsinn muss sich in so einer Welt erst zurechtfinden. Wenn der Körper Tag und Nacht von einer taktilen Wüste umgeben ist, verändert das die Existenz ganz grundsätzlich. Viele Gefangene sind hungrig nach Berührung, zumal sexueller Berührung. Manche Blicke wollen nicht einfach sehen, sondern ausloten, abtasten, liebkosen, nackt machen. Sie streichen wie flinke Finger über fremde Haut und stürzen sich begierig auf die wenigen Männer, die man hier im Lauf einer Woche für Momente zu sehen bekommt. Einige Frauen, deren Eheleben längst Vergangenheit ist, suchen – anfangs vielleicht nur vorübergehend – lesbische Beziehungen, die sich manchmal und mit der Zeit verstetigen. Mitunter kommt unter den Bedingungen des Lebens zwischen den Mauern auch eine bis dahin unterdrückte Sexualität zum Vorschein, die zuvor durch eine normativ heterosexuelle Gesellschaft ausgeschlossen war.

Die meisten der Frauen in Santa Martha Acatitla stammen aus der Hauptstadt. Die Hälfte von ihnen hat nur die Grundschule besucht, ein Fünftel kann weder lesen noch schreiben. Abitur haben nur die allerwenigsten, und mit einem Studienabschluss ist man hier eine echte Exotin. Die große Mehrheit der Insassinnen lebte vor ihrer Verhaftung von einem Einkommen unterhalb der Armutsgrenze. Bei aller Einzigartigkeit und Verschiedenheit der Lebensläufe und -geschichten wird in den Erzählungen die große Monotonie der Armut als gemeinsame Erblast überdeutlich. Bevor sie ins Gefängnis kamen, waren viele Hausfrauen oder arbeiteten am Fließband. Nicht wenige hielten sich mit Prostitution am Leben. Nach einer Untersuchung des Anwalts José Luis Castro González, der die Schreinerwerkstatt der Anstalt leitet, wurden 86 Prozent der gefangenen Frauen in ihrer Kindheit körperlich misshandelt, was in mehr als der Hälfte aller Fälle auch sexuellen Missbrauch oder Vergewaltigung durch Familienangehörige beinhaltete. Mehr als die Hälfte von ihnen wurden als Kinder ihren Eltern weggenommen oder sind von zu Hause weggelaufen. 70 Prozent wurden später Opfer ehelicher Gewalt.2

Mit ihren widerspenstigen Locken, ihren Pausbacken, ausladenden Hüften und ihrem Schmusekatzengang erscheint die wortgewandte Isela, Anfang zwanzig, in der Schreibwerkstatt. Als sie ins Gefängnis kam, war ihr Körper ausgemergelt, von Drogen und Alkohol verwüstet, wund vom Sex gegen Geld. Isela ist auf der Straße geboren. Auf der Straße hat sie ihr Leben verbracht, und auf der Straße wurde sie festgenommen – nicht irgendeiner Straße, sondern da, wo es dreckiger und elender nicht sein könnte, wo sich das Überleben von einem Tag zum andern wie ein unausweichlicher, langsamer Selbstmord anfühlte, wo sie nur immer tiefer fallen konnte, wo es keine Wahl gab. Iselas Ankunft auf der Welt war schon eine Hinrichtung, eine Existenz, ein Leben, das keinen Platz hatte. Ihre Zuflucht waren Katastrophen, Versuche der Selbstauslöschung. Solange sie draußen war, lebte sie in einem dunklen Loch, aus dem es keinen Ausweg gab. Als es nun in der Schreibwerkstatt ans Verfassen eines Tagebuchs geht, beginnt sie über ihren verwüsteten Körper zu sprechen und kommt irgendwann zu dem Schluss: „Das war gar nicht ich, diese ganze Gewalt. Es war das Leben.“3

Aus Iselas eindringlicher, klangvoller Stimme kann man die Traumata der Vergangenheit heraushören. Mit jedem Satz wird deutlicher, wie sehr sie von ihrem Milieu gezeichnet ist und was sie sich selbst immer wieder zugefügt hat. Isela versucht während ihrer Haftstrafe die Wunden und Narben ihres Körpers zu begreifen und zu heilen – eines Körpers, der für sie bisher nur eine Baustelle ist. In der räumlichen Enge beginnt sie die Überreste ihrer selbst als Material für eine Rekonstruktion zu betrachten. Sie leidet unter der Freiheitsberaubung und der Isolation, doch andererseits hat sie im Gefängnis zum ersten Mal so etwas wie eine Familie gefunden. Über ihre Zelle sagt sie in der Schreibwerkstatt: „Vorher hatte ich für mich kein anderes Zuhause als mein Herz. Das hab ich immer noch und teile es mit euch. Aber jetzt habe ich ein richtiges Haus.“ Isela ist dabei, sich ein neues „Zuhause“ zu bauen, indem sie ihren Körper als etwas Sicheres wahrnimmt und das Gefängnis als Ort, der ihr Halt gibt.

Ethel trägt betont lässig einen über die Schultern gehängten Pullover in kräftigem Blau, dunkle Sonnenbrillen und kurz geschorene, dichte Locken. Sie schreibt: „Ich habe drei Kinder, die ich über alles liebe. Aber erst hier, wo ich eingeschlossen bin und mir mein Leben als Mutter und alle Selbstbestimmung weggenommen wird, hier kann ich zum ersten Mal in meinem Leben meine sexuelle Orientierung ausdrücken und annehmen. Meine unterdrückte lesbische Sexualität hat sich erst unter uns Frauen entfalten können, weg von den Blicken auf der Straße und meiner Familie.“ Eine andere erklärt: „Ich bin nicht lesbisch, aber ich mag es, wenn eine von meinen Zellengenossinnen mich berührt, sich für mich interessiert, mich küsst, mich begleitet, mich umarmt und mir sagt, dass sie mich liebt.“

Im Erdgeschoss gibt es eine Art Speisesaal, in der ein Häufchen inhaftierter Mütter genial improvisierte Speisen zum Kauf anbieten. Obwohl sie nur mit Maismehl und roten Bohnen kochen, bringen sie deutlich Schmackhafteres zustande als die „comida de rancho“ aus der Gefängnisküche. Inmitten von Kindern, die im Gefängnis geboren wurden, verbreiten diese Frauen die Atmosphäre der tianguis – so heißen auf Nahuatl (Aztekisch) die großen Märkte in den ärmsten Vierteln der Hauptstadt und der ganzen Republik.

Übrigens sind Kinder in Santa Martha Acatitla heilig, ebenso wie auch die Mütter. Dennoch flüchten viele in die Bereiche, wo Haushaltsarbeiten geleistet werden, weil in in vielen anderen Teilen der Anstalt andere Häftlinge den Ton angeben, die wenig Verständnis für die Toberei und das Gezänk der Kinder haben und sie dort nicht gern gesehen sind. Aber wehe derjenigen, die es wagt, einer Schwangeren auch nur ein Haar zu krümmen oder gar grob zu den Kindern zu sein! Die Mütter verkörpern für die meisten anderen Insassinnen in Santa Martha Acatitla ein Ideal. In ihrer Nähe und in der Teilnahme an ihrem Alltag suchen viele Frauen einen Ersatz für die eigene Familie und vor allem für die Kinder, die sie nicht bei sich haben dürfen. Und gar nicht selten findet man unter den Inhaftierten auch Verwandte, Mütter und Töchter, Großmütter und Enkelinnen, Schwiegermütter und Schwägerinnen, die hier ihr Familienleben und ihre Gewohnheiten pflegen, so gut es eben geht.

Unmittelbar neben der Geselligkeit und dem familiären Zusammenhalt irren zerzauste Gestalten durch die Flure – gebrochen, unfähig sich zu artikulieren, ängstlich, getrieben von ihrer eigenen Haltlosigkeit, halb verschluckte Worte murmelnd, voll mit Drogen und unergründlicher Qual. Im Nebel ihres nach innen gerichteten Redeschwalls werden ihre Umrisse zu Schatten. Um die kümmert sich keine mehr, und die „Lebenden“ verlieren sie aus dem Blick. Mit der Zeit bemerkt man sie gar nicht mehr an diesem Ort, wo man sich ständig und unausweichlich immer wieder begegnet und viele sich in den Abgründen der Einsamkeit verlieren und zerbrechen.

Margarita ist im Alter einer Frau, die sich zur Ruhe setzt. Aber Margarita altert im Gefängnis und wird hier wahrscheinlich sterben. Sie wurde wegen vorsätzlichen Mordes verurteilt, doch ihr einziges Vergehen bestand vermutlich darin, zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen zu sein. Auf einer belebten Straße hatte sie wie jeden Tag ihre kleine mobile Küche aufgebaut. Neben Wasserkanistern und Behältern voll Oaxaca-Käse, Füllungen aus Cuitlacoche und Chili jalapeño brutzelten hier von morgens bis spät nachmittags über der Holzkohle die Quesadillas, die sie verkaufte. Im Viertel kannte man Margarita als sehr einfache, würdevolle und mutige Frau.

Dann kam es auf dem Bürgersteig, wo Margarita ihren Maisteig knetete, zu einem großen Tumult, bei einer Messerstecherei wurde ein Mann getötet. Es handelte sich offensichtlich um eine Abrechnung unter rivalisierenden Banden. Als die Polizei am Ort des Verbrechens eintraf, hatte Margarita ihren Platz nicht verlassen. Sie wurde zunächst mitgenommen und als Hauptzeugin befragt. Dann war sie plötzlich verdächtig, und schließlich verurteilte man sie wegen Mordes. Was bei dieser Untersuchung alles schiefgegangen sein mag, lässt sich nicht ohne weiteres rekonstruieren. Margarita kann weder lesen noch schreiben und hat in blindem Vertrauen jeden Zettel unterzeichnet, den man ihr vorlegte.

Bekanntlich ist die mexikanische Polizei ebenso schlecht ausgebildet wie bezahlt, gekauft von der Industrie des Verbrechens und eine der korruptesten der Welt. Margarita kam unter die Räder eines Polizei- und Justizapparats, der nicht mit ihr, sondern gegen sie arbeitete. Margarita wurde zweifach im Stich gelassen: durch das Desinteresse der Justiz, die für „den Pöbel“ nur Geringschätzung übrighat, und durch die Kapitulation der Zivilgesellschaft, die aus Angst, Feigheit oder Gleichgültigkeit nicht ausgesagt hat, was bei der tödlichen Auseinandersetzung, die Margarita zum Verhängnis wurde, wirklich geschah. Inzwischen versucht Margarita vom Gefängnis aus eine Prüfung der Akten und Wiederaufnahme ihres Prozesses zu erreichen. Bisher ohne Erfolg.

Am Montag,den 20. Juli 2009 kündigt die drückende Schwüle in der Schreinerwerkstatt baldigen Regen an. Auf den Werkbänken stapeln sich Farbtöpfe, Stücke von Holzpaneelen, Stoffreste, alte Tapeten, zerbrochene Zierleisten, Modelliermasse, Knöpfe und Griffe von Möbeln, Bürsten, rostige Konservendosen als Bleistifthalter. Hier entstehen Bilderrahmen, Fotoalben, Kleiderbügel, Untersetzer und ähnliche Gegenstände, die von anderen Häftlingen gekauft oder in einigen Läden der näheren Umgebung angeboten werden.

Mitten unter den struppigen Pinseln und dem brüchigen Papier leuchten in der beginnenden, nach Holzleim riechenden Abenddämmerung die ockerfarbenen Schuhe der „Königin des Pazifiks“, der schwerreichen Sandra Ávila Beltrán aus Sinaloa. Den Behörden gilt sie als eine Schlüsselfigur des mexikanischen Drogenhandels. Seit sie im September 2007 verhaftet wurde, wohnt sie im Gefängnis. Ihre taillierte braune Hose und das cremefarbene Oberteil mit Paillettenbesatz passen perfekt zu den verzierten Fingernägeln und dem exakten Schnitt ihres braunen Haars. Die einstige „Königin des Pazifiks“, die Millionen gescheffelt, Designerkleider von der Place Vendôme getragen und in mehr oder weniger nächster Nähe mit den mächtigsten Drogenbossen des Landes verkehrt hat, spricht nun mit dem Leiter der Werkstatt über die Rahmenmaße für, ausgerechnet, einen Spiegel. Bis vor kurzem viel begehrt und stets von Bewunderern umgeben, sitzt sie jetzt allein in ihrer Zelle und sucht vielleicht in dem Spiegel, den sie sich bastelt, nach ihrem Bild von früher.

Viele Frauen malen sich ein Leben „draußen“ in allen Einzelheiten aus, um gegen das Vergessen und Vergessenwerden anzukämpfen. Wie soll man sich denn nicht am Ende der Welt und verloren fühlen, wenn der eigene Blick und das eigene Abbild überall nur Mauern mit der Farbe von Grabsteinen begegnet? Zwischen Mauern, wo man kaum schlafen kann, weil einen überall die Hilfeschreie der Verzweifelten, die Streitereien der Mitgefangenen, die gellenden Kommandos der „Hausdrachen“ zu bedrängen? Es ist schwer, den Bezug zur Außenwelt zu behalten, wenn man zu 20 Jahren Haft verurteilt ist, wenn man so alt ist wie die Gefängnisstrafe, die noch vor einem liegt, und wenn Familie und Freunde einen schon für immer „eingemauert“ haben. Kein Wunder, dass viele Frauen sich der Religion zuwenden und sich zu den Lehren der Evangelikalen, der Mormonen oder der Zeugen Jehovas bekehren, die die Gefängnismauern ohne Schwierigkeiten überwinden – im Gegensatz zu anderen Bildungs- und Kulturangeboten.

Wie jede Gefangene ihre eigene lebensgeschichtliche Prägung mitbringt, so verarbeitet auch jede den Alltag im Gefängnis auf der Basis unterschiedlicher, oft gegensätzlicher Wertevorstellungen und entsprechend dem, was sie vor der Haft kannten und was sie nach der Strafe draußen erwartet. Für manche Frauen wird die Freiheit zur Falle: wieder allein, sich selbst überlassen, von den Angehörigen geschnitten, arbeitslos und ohne Obdach. Nach dem jahrelangen, manchmal jahrzehntelangen Exil sind sie mit einem „Draußen“ konfrontiert, das sie nicht mehr kennen, und das auch sie nicht mehr kennen will – oder nur unter dem Status, der sie erniedrigt: dem einer Exgefangenen. Von den 42 Frauen, die im Dezember 2008 freikamen, waren schon zwei Monate später 18 wieder da.

Fußnoten: 1 Michel Foucault, „Überwachen und Strafen“, Frankfurt am Main (Suhrkamp) 1977. 2 Die Untersuchung wurde von José Luis Castro González und Luis Manuel Serrano Díaz durchgeführt. Grundlage waren zwei Befragungen in Santa Martha Acatitla im August 2009. 3 Die hier wiedergegebenen Äußerungen fielen im Rahmen der Schreibwerkstatt, die im Juli 2009 im Frauengefängnis Santa Martha Acatitla abgehalten wurde. Aus dem Französischen von Herwig Engelmann Cathy Fourez ist Dozentin für Literaturwissenschaft an der Universität Lille 3.

Le Monde diplomatique vom 13.05.2011, von Cathy Fourez