13.05.2011

Ein Staat gibt sich auf

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Ein Staat gibt sich auf

Wie Mexikos Präsidenten den Ausverkauf nationaler Interessen betrieben haben von Jean-François Boyer

Die mexikanische Außenpolitik folgt weitgehend den Vorgaben aus Washington – insbesondere seit dem Amtsantritt von Präsident Calderón 2006. Beispielsweise anerkannten Mexiko und die USA die Wahlen in Honduras nach dem Putsch gegen den linken Präsidenten Manuel Zelaya im Dezember 2009, mit denen Porfirio Lobo die Macht übernahm. Brasilien und andere lateinamerikanische Staaten sowie die Europäische Union erklärten das Wahlergebnis dagegen für ungültig.

Im Mai 2010 schlugen die Türkei und Brasilien eine Alternative zur geplanten Verschärfung der internationalen Sanktionen gegen den Iran vor. Diese hätte auf einem Austausch nuklearen Brennmaterials beruhen sollen. Mexiko stimmte mit den USA und an der Seite der fünf ständigen Mitglieder im UN-Sicherheitsrat für die Sanktionen. Als dieser einen Monat später über die von Israel aufgebrachte humanitäre Hilfsflotte für Gaza beriet, unterstützte Mexiko die von den USA vorbereitete Resolution. Darin wurde der Vorfall nur „bedauert“, aber nicht verurteilt. Brasilien plädierte für eine klare Verurteilung der Operation. Offenbar verzichtet Mexiko neuerdings auf eine selbstbestimmte Außenpolitik, die seine Präsidenten von 1945 bis 1982 vertraten und die den Prinzipien der nationalen Souveränität, der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten und der Selbstbestimmung der Völker folgte.

Zur Erinnerung: 1954 nahm Mexikos Präsident Adolfo Ruíz Cortines nach einem von der CIA organisierten Staatsstreich in Guatemala den gestürzten Präsidenten Jacobo Árbenz Guzmán auf. Präsident Adolfo López Mateos (1958–1964) führte Mexiko näher an die Bewegung der Blockfreien heran und machte Staatsbesuche bei Ägyptens Präsident Nasser und dem indischen Premierminister Nehru. 1962 stellte sich López Mateos – allerdings erfolglos – gegen den Ausschluss des revolutionären Kuba aus der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS). Zwischen 1970 und 1976 unterstützte Mexiko unter Präsident Echeverría die Regierung Allende in Chile. Das Land nahm Flüchtlinge aus südamerikanischen Militärdiktaturen auf und baute seine Beziehungen zu den Blockfreien Staaten und Kuba aus. Echeverrías Nachfolger López Portillo sympathisierte mit der sandinistischen Revolution und reiste im Mai 1978 nach Moskau. Der Generalsekretär der KPdSU Breschnew verkündete damals: „Unsere beiden Länder nehmen in den wichtigsten Fragen identische oder ähnliche Positionen ein.“1

Doch diese Episoden vermitteln ein verzerrtes Bild. Tatsächlich konnten sich die USA – von gelegentlichen provokanten Verlautbarungen abgesehen – in Sicherheitsfragen immer auf Mexikos Beistand verlassen. Während López Mateos die Annäherung an die Blockfreien betrieb, unterhielt er zugleich sehr enge Beziehungen zu Washington. Er wusste immer, wie weit er gehen durfte: Mexiko wurde nie Vollmitglied der Bewegung der Blockfreien Staaten, sondern begnügte sich mit einem Beobachterstatus. Während der Kubakrise stellte sich das Land wie die gesamte OAS an die Seite der USA, verurteilte den Bau von sowjetischen Raketenabschussrampen auf kubanischem Territorium und verlangte deren Abriss.

Später setzte Mexiko die Wirtschaftssanktionen gegen Kuba rigoros um und gab Informationen über Reisen von US-Bürgern und lateinamerikanischen Revolutionären nach Kuba an die CIA weiter. Diese Praxis wurde auch unter Präsident Echeverría beibehalten. Dessen zur Schau getragener Antagonismus zum nördlichen Nachbarn war nach Ansicht des Historikers Lorenzo Meyer vor allem die „unverzichtbare Legitimationsquelle“ einer Regierung, „die nach 70 Jahren autoritärer Alleinherrschaft der PRI keinerlei demokratische Legitimität beanspruchen konnte“.2 Erst später wurde bekannt, dass Echeverría während der sechsjährigen Amtszeit seines Vorgängers Díaz Ordaz von der CIA rekrutiert wurde, im Rahmen des „Litempo“-Programms zur Kontrolle der revolutionären Linken in Lateinamerika.3 In den sechs Jahren seiner Präsidentschaft führte Mexiko zudem einen schmutzigen Krieg gegen lokale Guerillagruppen.

Doch es gab durchaus auch Spannungen. Präsident López Portillo (1976–1982) reiste am 14. Juli 1979 nach Managua, um an den Siegesfeiern der Sandinistischen Nationalen Befreiungsfront teilzunehmen. Er unterstützte den neuen Staat finanziell und lieferte vor allem auch mexikanisches Öl zu niedrigen Preisen an das revolutionäre Nicaragua. Am 28. August 1981 erkannten Mexiko und Frankreich in einer gemeinsamen Erklärung die beiden revolutionären Guerillagruppen El Salvadors, FMLN und FDR, als „repräsentative Kräfte“ an.

Unterdessen bezeichnete US-Präsident Reagan das sandinistische Nicaragua als „Verbündeten der Sowjetunion, nur zwei Flugstunden von unseren Grenzen entfernt“.4 Der Druck der USA auf Mexiko nahm zu – und Portillo ließ sein Vorhaben fallen, Washington und Managua an den Verhandlungstisch zu bringen und so die sandinistische Revolution zu legitimieren. Immerhin suchte er im Rahmen der Contadora-Gruppe5 weiter nach einer Verhandlungslösung für die Konflikte in El Salvador und Guatemala.

Ebenfalls auf Druck Washingtons setzte Mexikos nächster Präsident Miguel de la Madrid (1982–1989) seine politische Polizei ein, um in diskreter Zusammenarbeit mit der CIA und den mexikanischen Drogenkartellen die nicaraguanischen „Contras“ auf mexikanischem Territorium auszubilden. Finanziert wurde das Unternehmen mit Einnahmen aus dem Drogenhandel.

Mexikos außenpolitische Autonomie gegenüber den USA war und ist also im besten Fall sehr relativ – eine „Unabhängigkeit innerhalb der Abhängigkeit“, wie Lorenzo Meyer meint. Nach Ansicht des Historikers geht sie zurück auf ein nie schriftlich festgehaltenes, aber de facto bis heute bindendes Abkommen aus der Zeit der mexikanischen Revolution von 1924. Danach haben sich die USA bereit erklärt, Mexikos Regierungen zu stützen und sich nicht in die inneren Angelegenheiten des Landes einzumischen, wenn Mexiko im Gegenzug für Frieden und Sicherheit entlang der mehr als 3 000 Kilometer langen gemeinsamen Grenze und für politische Stabilität im Land sorgt.

Ein wenig Eigenständigkeit und damit auch außenpolitischer Handlungsspielraum blieb Mexiko noch, solange seine Präsidenten zwischen 1960 und 1982 die Industrialisierung vorantrieben, Banken und Konzerne vor ausländischer Konkurrenz und Übernahme schützten und den Binnenmarkt stimulierten. Doch dieses „Modell“ wurde im Wesentlichen mit dem Verkauf von Erdöl finanziert. Zwischen 1963 und 1972 stieg Mexiko mit der Erschließung seiner Ölquellen vor Tampico und Campeche zum Rang eines Großförderlandes auf. Und wenn das nicht reichte, versorgte man sich großzügig durch internationale Kredite.

Nahe den USA, weit weg von Gott

Damit war es vorbei, als 1982 die Schuldenkrise eskalierte. Mexiko brach unter der Last seiner Auslandsverpflichtungen zusammen. Die US-Finanzhilfe und die Umschuldung wurden von einer Strukturanpassung abhängig gemacht, die ganz nach dem Geschmack der neoliberalen Garde unter den PRI-Präsidenten Miguel de la Madrid und Carlos Salinas de Gortari ausfiel: Schuldenabbau, Deregulierung, Privatisierung von Unternehmen und Banken im Staatsbesitz. Für diese Radikalkur wurde Mexiko 1986 mit der Aufnahme in das Allgemeine Zoll- und Handelsabkommen Gatt belohnt. Durch die Unterzeichnung des nordamerikanischen Freihandelsabkommens Nafta verknüpfte das Land endgültig sein Schicksal mit den USA. Seither hängt Mexikos Wachstum vor allem am Umfang des Außenhandels mit dem großen Nachbarn und an US-Investitionen in die Fertigungsindustrie, die „Maquiladoras“ (siehe Kasten).

In den ersten Monaten der Präsidentschaft von Ernesto Zedillo (1994–2000) kam es zu einem neuerlichen wirtschaftlichen Einbruch. Wieder einmal rettete Washington seinen bankrotten Nachbarn: Die Banken des Federal Reserve Systems der USA, der IWF, die Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ), die Weltbank und die Interamerikanische Entwicklungsbank stellten insgesamt mehr als 40 Milliarden Dollar zur Verfügung.

„Seither ist das Land so abhängig von den mächtigsten und konservativsten Interessen in den USA, dass es kaum noch Möglichkeiten zur aktiven Gestaltung seiner Außenpolitik hat“, sagt der Investmentbanker Rogelio Ramírez de la O.6 Unter diesen Umständen, so Jorge Castaneda, ehemaliger Außenminister unter Präsident Vicente Fox, „haben es die USA gar nicht mehr nötig, Mexiko mit Drohungen von gewissen außenpolitischen Positionierungen abzuhalten“.7 Denn die nächste Krise kommt bestimmt: „Seit 1982 steht das Land alle fünf oder sechs Jahre kurz vor dem Bankrott, und jedes Mal holen die US-Amerikaner für uns die Kastanien aus dem Feuer.“ Im Jahr 2000 verlor die PRI zum ersten Mal die Präsidentenwahl – gegen die Partei der Nationalen Aktion (PAN) und ihren Spitzenkandidaten Vicente Fox, einen christdemokratischen Geschäftsmann und ehemaligen Generaldirektor der mexikanischen Coca-Cola-Niederlassung. Mit ihm war endgültig Schluss mit den letzten Anwandlungen von Blockfreiheit.

Fox pflegte engste Beziehungen zu George W. Bush. Er stellte nach dem 11. September 2001 Sicherheitskräfte zur Verteidigung der US-Grenze ab und weigerte sich, den Forderungen der Linken und der Nationalisten innerhalb der PRI nachzugeben und einige für die mexikanische Wirtschaft nachteilige Artikel des Freihandelsabkommens nachzuverhandeln. In wenigen Jahren gingen die wichtigsten privaten Banken Mexikos in den Besitz ausländischer Unternehmen über. Zum ersten Mal überhaupt in der Geschichte der bilateralen Beziehungen zu Kuba stimmte Mexiko 2003 in der UN-Menschenrechtskommission gegen die Insel.

Im Gegenzug erhoffte sich Mexiko eine grundlegende Reform der US-Einwanderungsgesetze, genauer gesagt, die Legalisierung der „illegal“ in den USA lebenden Mexikaner und Freizügigkeit für Arbeitskräfte. Auf diese Weise hätte man die grassierende Arbeitslosigkeit in Mexiko wohl am einfachsten in den Griff bekommen. Doch das übersteigerte Sicherheitsdenken in den USA seit dem 11. September machte auch diese Hoffnung zunichte.

Als Erbe einer langen Entwicklung hin zum bedingungslosen Bündnis mit den USA entschied sich der gegenwärtige Präsident Calderón dafür, dieses weiter zu zementieren. Um den „Krieg gegen den Drogenhandel und das organisierte Verbrechen“ zu gewinnen und ohne die Wurzeln des Übels – Korruption und eine massive Verarmung der Bevölkerung – anzugehen, nimmt er die Hilfe der USA für Nachrichtendienste, Telefonüberwachung, den Kampf gegen Geldwäsche und noch einiges mehr in Anspruch. Inzwischen rufen mexikanische Intellektuelle wie Jorge Castañeda oder Héctor Aguilar Camín sogar schon nach einer umfangreichen US-Militärintervention gegen die Drogenkartelle. „Armes Mexiko“, lautet eine über hundert Jahre alte Volksweisheit, „so weit weg von Gott und so nahe an den Vereinigten Staaten.“

Fußnoten: 1 Zitiert von Ilya Prizel in: „Latin America through Soviet Eyes“, Cambridge (Cambridge UP) 1990. 2 Gespräch mit dem Autor am 17. Juni 2010. Die Partei der Institutionalisierten Revolution (PRI) regierte das Land von 1929 bis 2000. 3 Vgl. Jefferson Morley, „Litempo: The CIAs Eyes on Tlatelolco“, National Security Archive Electronic Briefing Book, Nr. 203, 18. Oktober 2006. CIA-Dokumente beweisen, dass Winston Scott, 1956–1968 Leiter der CIA-Niederlassung in Mexiko, diese Aktion ins Leben gerufen hatte. www.gwu.edu/~nsarchiv/NSAEBB/NSAEBB204/index.htm. 4 Rede vom 16. März 1986. 5 Kolumbien, Mexiko, Panama und Venezuela. 6 Er berät US-Firmen bei der Gründung von Niederlassungen in Mexiko und ist wirtschaftlicher Berater von López Obrador, dem Kandidaten der Linken bei den Präsidentschaftswahlen von 2006. (Gespräch mit dem Autor, Juli 2006). 7 Im Gespräch mit dem Autor, Juli 2010. Aus dem Französischen von Herwig Engelmann Jean-François Boyer ist Journalist.

Wer wen subventioniert

Mexiko sei eine Nation „auf unumkehrbarer Talfahrt“, urteilte The Economist vom 10. Juli 2010, eine Gesellschaft, die „aus dem Ruder läuft“, die Financial Times vom 30. Juni 2010. Auch die chilenische Zeitschrift América Economía konstatierte im August 2010, dass Mexikos Wirtschaft „im Stand durchdreht“ und von den Krisen des nordamerikanischen Giganten härter getroffen wird als andere.

Die Wirtschaftswissenschaftler Raúl Delgado Wise und James M. Cypher sind dieser Entwicklung auf den Grund gegangen.1 Die Öffnung und Anpassung Mexikos an die Bedürfnisse der US-Wirtschaft seit Ende der 1980er Jahre, so ihr Fazit, habe zu einem „Abbau der mexikanischen Produktionskapazitäten“ geführt. Zwar stiegen die Exporte in die USA mit der Ausbreitung der „Maquiladora“-Industrie von 52 Milliarden Dollar 1993 auf 291 Milliarden im Jahr 2008. Doch nach Cypher und Delgado bedeutet „die Maquiladora nicht den Export mexikanischer Produkte im eigentlichen Sinn, sondern nur die Verbilligung von Endprodukten durch billige mexikanische Arbeitskraft“. Tatsächlich werden die Produkte bereits mit einem Fertigungsgrad von durchschnittlich 77 Prozent importiert. Der in Mexiko erwirtschaftete Mehrwert vor dem Rückexport in die USA sank stetig von 18,2 Prozent im Jahr 1988 auf 8,2 Prozent im Jahr 2003.

Die staatliche Industrie brach nach dem Wegfall protektionistischer Barrieren weitgehend zusammen. Die Löhne sanken drastisch (über 24 Prozent Reallohnverlust zwischen 1994 und 2007), die Arbeitslosigkeit stieg von 2000 bis 2009 um gigantische 130 Prozent. Bei den Drogenkartellen herrscht kein Mangel an Nachwuchs.

Hinzu kommt, dass sich Mexiko von der Finanzkrise des Jahres 2008 noch längst nicht erholt hat. Mehr als jedes andere lateinamerikanische Land wird es vom schrumpfenden Konsum in den USA getroffen. Das BIP ist 2009 um 6,7 Prozent zurückgegangen. Das Wirtschaftswachstum verharrt seit 2000 bei durchschnittlich 1,9 Prozent, während es etwa in Brasilien Jahr für Jahr 3,2 Prozent beträgt. Durch den Nafta-Vertrag auf Gedeih und Verderb mit den Vereinigten Staaten verbunden, wartet Mexiko heute geduldig darauf, dass dort die Konjunktur wieder anspringt. Unterdessen importieren die USA von Jahr zu Jahr mehr Produkte aus China. Und in Mexiko stagniert mangels Investitionen sogar die Erdölförderung.

Die mexikanische Regierung drängt in Washington auf ein Abkommen zur Regelung der Migration, um die Arbeitsverhältnisse der Mexikaner in den USA zu verstetigen; denn die Geldsendungen der Emigranten sind heute die drittgrößte Devisenquelle des Landes. Doch Cypher und Delgado haben ausgerechnet, dass „bei Berücksichtigung des Ausbildungsniveaus mexikanischer Migranten zum Zeitpunkt ihres Eintreffens in den USA und der Kosten dieser Ausbildung für das öffentliche Schulwesen Mexikos“ sowie der in dieser Zeit angefallenen „Lebenshaltungskosten in Mexiko“ die Bilanz der Auswanderung verheerend ausfällt. Es zeigt sich nämlich, dass „Mexiko von 1994 bis 2008 eigentlich 340 Milliarden Dollar an die Vereinigten Staaten bezahlt hat, also 1,8-mal so viel, wie die Auswanderer ins Land rücküberwiesen haben“. Mit anderen Worten: Über die Emigration subventioniert die mexikanische Gesellschaft die Wirtschaft der USA.

Fußnote: 1 James M. Cypher und Raúl Delgado Wise, „Mexico’s Economic Dilemma: The Developmental Failure of Neoliberalism“, Plymouth (Rowman & Littlefield) 2010.

Le Monde diplomatique vom 13.05.2011, von Jean-François Boyer