Gemeinsam gegen den Westen
Bei Bedarf können Indien und China ihre Rivalitäten zurückstellen von Christophe Jaffrelot
Es ging innerhalb des letzten halben Jahres in den Beziehungen zwischen Indien und China auf und ab. Beim Besuch des chinesischen Ministerpräsidenten Wen Jiabao in Neu-Delhi im Dezember 2010 herrschte eher frostige Stimmung. Dass im gemeinsamen Abschlusskommuniqué die gängige Formel für die Souveränitätsansprüche Pekings über Tibet und Taiwan – Stichwort „Ein-China-Politik“ – keine Erwähnung fand, war eine Retourkutsche Indiens für Chinas Weigerung, die umstrittenen Gebiete Arunachal Pradesh und Jammu und Kaschmir als Teile des indischen Territoriums anzuerkennen.1
Im April 2011, als die Brics-Staaten (Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika) im südchinesischen Sanya zu ihrem dritten Gipfeltreffen zusammen kamen, waren Peking und Neu-Delhi dagegen geeint in ihrem Eintreten für die Interessen der schnell wachsenden Schwellenländer und in ihrer Verurteilung der „westlichen“ Intervention in Libyen. Seitdem waren die Beziehungen beider Länder aber einer erneuten Belastungsprobe ausgesetzt: In indischen Medien erschienen Berichte über chinesische Waffenlieferungen an die aufständischen Stämme, die im indischen Nordwesten seit Jahrzehnten einen Unabhängigkeitskampf führen.2
In den 2000er Jahren hatte der indische Umweltminister Juram Pradesh ein Konzept vorgestellt, das er „Chindia“3 nannte – ein deutliches Zeichen für die damalige Annäherung zwischen den beiden Ländern. Bereits seit dem historischen Pekingbesuch des damaligen Ministerpräsidenten Rajiv Ghandi 1988 – die erste Reise eines indischen Premiers nach China – entwickelten sich regelmäßige Kontakte; das Trauma des indisch-chinesischen Grenzkriegs von 1962 schien überwunden. Man unterzeichnete eine Reihe wichtiger bilateraler Abkommen, wie die „India-China Strategic and Cooperative Partnership for Peace and Prosperity“ von 2005. Indien bestätigte erneut – wie stets seit 1954 – seine Anerkennung der Zugehörigkeit Tibets zu China, und im Gegenzug erklärte sich China mit der indischen Annexion der Sikkim-Region im Jahr 1973 einverstanden.
Auch die Wirtschaftsbeziehungen entwickelten sich bestens: Das Handelsvolumen zwischen den beiden Ländern, das 2000 noch bei 3 Milliarden US-Dollar gelegen hatte, erreichte 2010 mehr als 61 Milliarden Dollar. Mittlerweile ist China der wichtigste Handelspartner Indiens.
Doch die Grenzstreitigkeiten, die seit 1988 Gegenstand zäher Verhandlungen sind, rückten in jüngerer Zeit wieder in den Vordergrund: 2009 versuchte Peking die Auszahlung eines Kredits der Asiatischen Entwicklungsbank (ADB) in Höhe von 2,9 Milliarden US-Dollar an Indien zu verhindern, weil ein Teil des Geldes (60 Millionen Dollar) für ein Projekt in Arunachal Pradesh bestimmt war – China erkennt Indiens Souveränität über dieses Gebiet im äußersten Nordosten des Landes nicht an. Anders als Indien hat Peking die 1914 zwischen Großbritannien und den damaligen Machthabern in Lhasa ausgehandelte McMahon-Linie als Grenze zwischen Indien und Tibet nie akzeptiert, Arunachal Pradesh gilt Peking nach wie vor als „Südtibet“ und damit als Teil des chinesischen Staatsgebietes. 2009 versuchte China außerdem den indischen Premier Manmohan Singh von einer Reise nach Arunachal Pradesh abzubringen, vermutlich weil in diesem Bundesstaat das tibetische buddhistische Kloster Tawang liegt, der Geburtsort des 6. Dalai Lama.
Zudem händigten die chinesischen Behörden 2009 und 2010 Reisenden aus dem Bundesstaat Jammu und Kaschmir ihre Visa auf einem gesonderten Formular aus und nicht im indischen Pass – was die indische Souveränität über diese Provinz infrage stellt.4 Nachdem man im Juli 2010 auch mit dem Befehlshaber der indischen Militärregion Nord so verfahren war, sagte Neu-Delhi einen Staatsbesuch in Peking ab, an dem der Offizier teilnehmen sollen.
Diese Querelen hatten auch mit den erneuten Spannungen zwischen Indien und Pakistan nach den islamistischen Anschlägen vom November 2008 in Bombay zu tun. Die stetige chinesische Unterstützung für Islamabad missfiel Neu-Delhi. Vor allem der Bau des Hafens von Gwadar in Belutschistan5 und die Zusammenarbeit der beiden Länder im Rüstungsbereich weckten Misstrauen in Indien. Im November 2009 hatten China und Pakistan mit der gemeinsamen Produktion von JF-17-Kampfflugzeugen begonnen, weitere Projekte – der Bau von F-22P-Fregatten („Sword“) und die Entwicklung eines Panzers – sollen folgen. Überdies unterstützt China Pakistan beim Bau von Atomkraftwerken, deren ziviler Charakter von Neu-Delhi bezweifelt wird. Ein weiterer Konflikt droht, wenn China sein Wasserkraftwerk am tibetischen Oberlauf des Brahmaputra fertigstellt – dann könnte der Wasserpegel des Flusses sinken.
Hochgerüstetes Misstrauen
Indien und China streiten aber nicht nur über Grenzverläufe, sie konkurrieren vor allem um den Einfluss an den Küsten des Indischen Ozeans. Neu Delhi fühlt sich eingekreist durch Chinas „Perlenkettenstrategie“ – an der Südküste Pakistans bis zur Straße von Hormus entstehen immer mehr Hafenanlagen – ebenso wie durch die Stationierung chinesischer Raketen auf dem tibetischen Hochplateau.
Peking wiederum glaubt, Neu-Delhi wolle ihm durch seine strategische Positionierung auf den Andamanen-Inseln6 den Zugang zu „seinem“ Meer abschneiden. Durch den Indischen Ozean verlaufen die Versorgungsrouten beider Länder zu den Erdölproduzenten im Nahen Osten – Grund genug für wechselseitiges Misstrauen. Es verwundert also nicht, dass beide Länder ihre Seestreitkräfte aufrüsten, ohne freilich die übrigen Waffengattungen zu vernachlässigen. Entsprechend kräftig steigen die Militärbudgets.7
Die Rivalität der beiden Mächte bestimmt auch die Bündnisse auf regionaler Ebene: China zählt Pakistan, Birma (Myanmar) und Sri Lanka zu seinen Verbündeten, umwirbt aber auch Staaten wie Iran, Nepal und Bangladesch, mit denen Indien traditionell gute Beziehungen pflegt oder diese entwickeln will. Indien versucht seinerseits die Bedenken auszunutzen, die angesichts der wachsenden chinesischen Macht bei so unterschiedlichen Ländern wie Vietnam, Singapur oder Japan aufkommen. Mit Letzterem hat Neu-Delhi 2006 ein strategisches Partnerschaftsabkommen geschlossen. Darüber hinaus zeichnet sich eine Annäherung zwischen Neu-Delhi und Washington ab, die Peking mit Besorgnis betrachtet, bedeutet sie doch – zusätzlich zur US-japanischen Allianz – eine weitere Stärkung der US-Position in Asien.
Fürsprecher der Entwicklungsländer
All diese Probleme ändern jedoch nichts daran, dass sich Indien und China immer häufiger gemeinsam in internationalen Organisationen wiederfinden – und teilweise an einem Strang ziehen. Beide Länder sind heute Mitglied in einem halben Dutzend internationaler Organisationen auf regionaler und interkontinentaler Ebene. Das erhöht auch die Zahl der Begegnungen und die Intensität des Austauschs zwischen den Rivalen.
Die Brics-Staaten spielen eine zunehmend wichtige Rolle. In der Abschlusserklärung ihres ersten Gipfeltreffen im russischen Jekaterinburg im Juni 2009 beschworen sie bereits eine neue multipolare Weltordnung. Die zweite Resolution, auf dem Gipfel in Brasilia vom April 2010, formulierte gemeinsame Vorstellungen zu konkreten geostrategischen Fragen, etwa den Umgang mit Iran: Die Bric-Staaten (damals gehörte Südafrika noch nicht dazu) bewerteten die Sanktionen der westlichen Mächte als wenig hilfreich.
Beim dritten Gipfel, der im April dieses Jahres in Sanya stattfand, zeigte die Staatengruppe mit der Aufnahme von Südafrika – das sich wirtschaftlich eigentlich nicht für den Club qualifiziert hatte – schon eine klare politische Ausrichtung. Vor allem China und Indien traten damit gemeinsam für die Interessen der Schwellenländer ein, wie schon bei der Doha-Runde der Welthandelsorganisation (WTO) und dem Kopenhagener Klimagipfel von 2009. Die Brics-Staaten kritisierten nicht nur die westliche Intervention in Libyen, sie formulierten auch deutlich ihre Ansprüche auf mehr Einfluss im UN-Sicherheitsrat – einen ständigen Sitz für Indien und Brasilien – und bei der Berufung von Experten auf führende Posten bei IWF und Weltbank, die die USA und Europa bisher stets unter sich aufteilten.
Bei allen bilateralen Problemen eint die beiden asiatischen Großmächte ihre gemeinsame Frontstellung gegen den Westen. Die kann im Falle Chinas nicht überraschen. In Indien dagegen scheint der innenpolitische Kampf zwischen den Vertretern einer „Westorientierung“ und einer „Orientalisierung“ noch nicht entschieden. Die einen sehen das Land als „Brückenmacht“, als Vermittler zwischen Nord und Süd; andere wollen den „Washington-Konsens“8 von 1990 durch einen „asiatischen Konsens“ ablösen, vielleicht sogar durch den sogenannten Peking-Konsens – eine Kombination aus wirtschaftlichem Liberalismus und politischem Autoritarismus. Die Faszination, die vom chinesischen Wachstum ausgeht, drängt große Teile der indischen Elite in diese Richtung.
Der Präsident des Verbands der indischen Industrie- und Handelskammern, Rajiv Kumar, war begeistert von der Konferenz in Sanya: „Der chinesische Kapitalismus zeichnet sich dadurch aus, dass er die Trennung zwischen öffentlichem und privatem Sektor vollständig aufhebt – beide Bereiche arbeiten unter Führung der Kommunistischen Partei ganz transparent zusammen.“9
Für so manchen indischen Außenpolitiker ist die Demokratie mittlerweile kein Ideal mehr, sondern ein politisches Instrument. Im Namen der Demokratie in Afghanistan zu intervenieren (und damit vielleicht den Rivalen Pakistan zu schwächen), erscheint ihnen vertretbar; sich gegen den russischen Einmarsch in Georgien auszusprechen oder im UN-Sicherheitsrat für die Libyen-Intervention zu stimmen, ist dagegen verzichtbar.
Indien wirkt heute fast schizophren. Seine Sicherheitsexperten sind wie besessen vom Aufstieg des großen Nachbarn. Gleichzeitig zieht die politische Elite aber zusammen mit China gegen den Westen zu Felde, und die gesamte indische Geschäftswelt liebäugelt mit dem „Peking-Konsens“.
Am Rande des Sanya-Gipfels trafen Indien und China eine Reihe von Vereinbarungen: Wiederaufnahme der militärischen Zusammenarbeit, die seit dem Visa-Zwischenfall im Juli 2010 auf Eis lag; Abbau des Handelsungleichgewichts (Indiens Defizit gegenüber China beträgt 25 Milliarden Dollar) und Einrichtung eines neuen Regelungsmechanismus bei Grenzstreitigkeiten.
Wie lange die beiden Nachbarn sich diesmal vertragen werden, ist ungewiss. Für Indien ist die Annäherung an China nützlich, um die USA unter Druck zu setzen, damit die ihre Unterstützung für Pakistan beenden. Und beide Länder haben bewiesen, dass sie imstande sind, ihre Differenzen beiseitezuschieben und ein internationales Bündnis gegen den Westen zu schmieden.