Der Al-Dschasira-Effekt
Globale politische Plattform und öffentlicher Raum für die arabische Welt von Mohammed El Oifi
Am 2. März 2011 sprach Hillary Clinton vor den Mitgliedern des Auswärtigen Ausschusses des US-Senats endlich die Worte aus, auf die der Emir von Katar und die Programmleiter von al-Dschasira schon lange gewartet hatten. Die USA, so die Außenministerin, würden den weltweiten Informationskrieg verlieren, denn die großen US-amerikanischen Privatsender strahlten nur Millionen von Werbeclips und Expertenrunden aus, während al-Dschasiras Einschaltquoten in den USA stetig zunehmen, „weil der Sender echte Informationen liefert“. Clinton erklärte den anwesenden Senatoren: „Ob es Ihnen gefällt oder nicht, al-Dschasira ist wirklich mächtig. Dieser Sender verändert die Einstellungen und das Verhalten der Menschen.“1
Abgesehen von Clintons Eigeninteressen – die Außenministerin verteidigte den Etat ihres Ministeriums –, hat diese öffentliche Anerkennung der internationalen Bedeutung von al-Dschasira vor dem Hintergrund der Revolten in der arabischen Welt einen besonderen Nachklang. In der regionalen Medienlandschaft des Nahen und Mittleren Ostens hat sich der Sender als Leitmedium durchgesetzt und manchen seiner arabischsprachigen Konkurrenten2 an den Rand gedrängt. Besonders aufschlussreich ist in diesem Kontext die Kritik des Starmoderators Hafez al-Mirazi an seinem Arbeitgeber, dem saudischen Sender al-Arabia und wichtigsten Konkurrenten al-Dschasiras.
Nach dem Sturz des Mubarak-Regimes beklagte sich der ägyptische Journalist vor laufender Kamera, dass sein Sender „es nicht wagt, ein einziges Wort über König Abdallah oder das saudische Regime zu verlieren“. Am Ende seiner Ansprache stellte er ein regelrechtes Ultimatum auf: „Wenn wir unsere Meinung nicht sagen dürfen, sollten wir Schluss machen. In der nächsten Sendung machen wir ein Experiment: Wir werden über die Auswirkungen [der ägyptischen Revolution] auf Saudi-Arabien berichten. Wenn das klappt, ist al-Arabia ein unabhängiger Sender; wenn nicht, dann nehme ich dankend meinen Hut.“3
Es wurde tatsächlich al-Mirazis letzter Auftritt bei al-Arabia. Sein Protest zeigt, dass sich Riad mit seiner Medienpolitik in eine Sackgasse manövriert hat und offensichtlich nicht in der Lage ist, sich den neuen politischen Realitäten zu stellen. Al-Mirazis Geste symbolisiert außerdem die Rückkehr Ägyptens in die arabische Medienlandschaft, nachdem sich das Land von der lähmenden Herrschaft Husni Mubaraks befreit hat.
Seit al-Dschasira im November 1996 gegründet wurde, hat der rund um die Uhr sendende Nachrichtenkanal die regionale Medienlandschaft strukturell, funktional und machtpolitisch revolutioniert.4 Manche meinen sogar, der Sender habe bei den aktuellen Revolten, die die arabische Welt erschüttern, eine größere Rolle gespielt als die digitalen sozialen Netzwerke. So erklärte Wikileaks-Gründer Julian Assange, Twitter und Facebook hätten „natürlich eine Rolle gespielt. Die ist aber nicht mit der Bedeutung von al-Dschasira zu vergleichen.“5
Die arabische Medienlandschaft ist einzigartig, deren länderübergreifender Grundriss auf der Basis einer gemeinsamen Sprache gegen Ende des 19. Jahrhunderts entstand. Die innerarabischen Auseinandersetzungen werden stets über diesen öffentlichen Raum ausgetragen, der von den Golfstaaten und vor allem von Saudi-Arabien und Katar dominiert wird. Seit sich Ägypten nach dem Tod von Präsident Gamal Abdel Nasser im Jahr 1970 und später der Irak nach dem Einmarsch in Kuwait 1990 zurückgezogen hatten, übernahm Saudi-Arabien die Kontrolle über die wichtigsten panarabischen Medien. Als Scheich Hamad Bin Khalifa al-Thani, der Emir von Katar, 1996 den Sender al-Dschasira gründete, bedeutete dies das Ende des saudischen Pressemonopols.
Al-Dschasira brach in drei wesentlichen Bereichen mit den saudischen Gepflogenheiten: bei der Standortbestimmung des Hauptsitzes, der Einstellung von Journalisten und der politischen Ausrichtung. Vorher galt die Regel, dass nur im Ausland ansässige Medien vergleichsweise unabhängig agieren können. Die nach Ausbruch des libanesischen Bürgerkriegs seit 1975 in europäische Länder emigrierten Journalisten schienen diese Annahme zu stützen. Das saudische Medienimperium unterhielt Büros in London oder in Italien und profitierte dort von der Vielzahl arabischer, vor allem libanesischer Journalisten, die zu Verbündeten – manche meinen gar zu Söldnern – der saudischen Scheichs geworden waren.
Al-Dschasira durchbrach diese Regel und zeigte, dass ein panarabisches Medium auch aus einem Heimatsitz frei berichten konnte. Daraufhin kehrten die saudischen Medien ebenfalls in die arabische Welt zurück, allerdings nicht nach Saudi-Arabien, sondern vor allem in die Golfemirate. Um das Publikum an sich zu binden und das Image des Senders zu stärken, stellten die Gründer von al-Dschasira aus der ganzen Region Mitarbeiter ein; die Vorherrschaft der libanesischen Journalisten und der saudischen Gepflogenheiten war damit beendet.
Seit 2006 auch auf Englisch
Natürlich gibt es auch in der Redaktion von al-Dschasira den einen oder anderen Konflikt. Dies zeigt etwa der Fall von fünf Moderatorinnen, die am 25. Mai 2010 kollektiv gekündigt haben. Ursprünglich hieß es, wie einige arabische Medien berichteten, die anschließend in der internationalen Presse zitiert wurden, dass die Frauen genug gehabt hätten von den ständigen Kritteleien an ihrer Kleidung und dass der Sender ihnen einen konservative Kleiderordnung habe aufdrängen wollen.6
Nach Aussage von Joumana Nammour, einer der fünf Journalistinnen, waren die wahren Gründe jedoch rein professioneller Natur: Die Moderatorinnen wollten einfach dagegen protestieren, dass sie inhaltlich nichts zu sagen hatten. Tatsächlich wird keine einzige von den zahlreichen politischen Sendungen von einer Redakteurin geleitet.
Die politischen Talkshows, die Auswahl der Themen und die Kommentare der Starmoderatoren scheinen keiner festen redaktionellen Vorgabe zu folgen im Sinne einer bestimmten politischen Linie: Der Sender bemüht sich im Gegenteil um ein fein austariertes Gleichgewicht zwischen panarabischen, islamistischen und liberalen Positionen.
Der Erfolg von al-Dschasira und das Interesse, ja die Begeisterung des arabischsprachigen Publikums verdanken sich zum einen dem innovativen Umgang mit aktuellen Nachrichten und zum anderen der offenen Berichterstattung. In jedem arabischen Land ließ der Sender Oppositionelle zu Wort kommen, um die von offizieller Seite verbreiteten Wahrheiten zu hinterfragen. So konnten die Zuschauer echte, kontroverse Debatten verfolgen.
Es werden in möglichst vielen Ländern Interviewpartner gesucht, die verschiedene ideologische und politische Positionen vertreten. Dank al-Dschasira überwinden sie jegliche nationalen Grenzen und Zensurschranken. Der Sender hat damit entscheidend zur Entstehung eines transnationalen öffentlichen Raums in der arabischen Welt beigetragen.7 Dieser öffentliche Raum wird von den Satellitensendern und den panarabischen Zeitungen gefüllt, ergänzt durch das Internet, Online-Blogs und die digitalen sozialen Netzwerke. Hier entstehen die Meinungen und politischen Präferenzen zu allen die Region betreffenden Fragen.
Die Vielfalt wird durch weitere grenzüberschreitende Medien anderer Länder ergänzt – neben dem Konkurrenten al-Arabia (Saudi-Arabien) sind dies vor allem al-Hurra (USA) und al-Alam (Iran). Dadurch ist eine ganz neue, einzigartige medienpolitische Situation entstanden, in der eine relativ freie Berichterstattung und ein autoritäres Regime praktisch nebeneinander existieren. Dieser Widerspruch hat sich durch den Mut und den wachsenden Einfluss von al-Dschasira verschärft und blieb unter dem massiven Druck der durch die neue Informationsfreiheit verunsicherten Machtapparate bestehen. Der Fortschritt der revolutionären Prozesse in der arabischen Welt verdankt sich also zum großen Teil genau dieser Spannung zwischen der politischen und medialen Ordnung.
Da die Opposition und die Gewerkschaften entweder von oben gelenkt oder gar nicht vorhanden waren, übernahm al-Dschasira deren originäre Rolle als Plattform für politische Debatten und entwickelte sich immer mehr vom gewöhnlichen Nachrichtenkanal zur politischen Alternativszene. Seit mittlerweile einem Jahrzehnt behandelt al-Dschasira die großen Fragen, die die Menschen in der Region interessieren. Der Sender ist eine wichtige Stimme in allen Konflikten, von Afghanistan bis Palästina, zumal Katar mit seiner äußerst dynamischen Diplomatie oft auf die lokalen Traditionen und Gepflogenheiten keine Rücksicht nimmt.
Jede Kritik an der politischen Ausrichtung al-Dschasiras, ob aus der arabischen Welt selbst8 oder von außen9 , ist nunmehr Teil der politischen Grabenkämpfe im Nahen Osten. Meist zielt sie auf die Regierung von Katar und versucht nachzuweisen, dass die Redaktionslinie des Senders ausschließlich den diplomatischen Vorgaben des Golfemirats folgt. Doch alle Anzeichen – vor allem die Berichterstattung über die Revolten der letzten Monate – deuten darauf hin, dass al-Dschasira ein gesamtarabisches Phänomen und ein Spiegel der regionalen Entwicklung geworden ist, die weit über die politischen Partikularinteressen Dohas hinausreichen.
Trotz seiner Popularität bleibt al-Dschasira umstritten. Manche kritisieren die Öffnung des Senders gegenüber Israel (al-Dschasira war der erste arabische Satellitensender, der Mitglieder der israelischen Regierung interviewt hat), andere stören sich an seinen „islamistischen“ Anwandlungen. Wozu sich der Sender ausdrücklich selbst bekennt, ist seine US-kritische Haltung – trotz der starken Truppenpräsenz der Weltmacht in Katar, denn das Emirat ist eine zentraler Stützpunkt der USA im Nahen Osten.
Al-Dschasiras engagierte Berichterstattung über die arabischen Revolutionen, vor allem in Libyen und im Jemen, und seine offene Unterstützung der Militärschläge der Nato-Verbündeten gegen das Gaddafi-Regime haben dem Sender den Vorwurf eingetragen, sich in die inneren Angelegenheit der arabischen Länder einzumischen.
Dass al-Dschasira allerdings weder saudische noch katarische Oppositionelle zu Wort kommen lässt und sowohl die Aufstände in Bahrain nicht nur relativ zurückhaltend kommentiert10 und die Intervention saudischer und anderer Truppen in das kleine Königreich so gut wie gar nicht kritisiert hat, spricht für manche Beobachter dafür, dass auch der Sender den Status quo in der Golfregion erhalten will. Ende April kündigte der Leiter des Beiruter Al-Dschasira-Büros Ghassan Ben Jeddou seinen Rücktritt an, weil er die Berichterstattung über Libyen und Syrien zu einseitig fand – ein Beleg, wie empfindlich der Sender auf die Entwicklungen in der arabischen Welt reagiert.
Auf jeden Fall wurde die Kritik widerlegt, al-Dschasira sei lediglich ein „Sprachrohr der Islamisten“. Denn diese Gruppen spielten bekanntlich bei den Revolten im Maghreb und im Nahen Osten, über die der Sender stets mit großer Sympathie für die Aufständischen berichtet hat, kaum eine Rolle. Ein großer Imagegewinn im Westen war 2006 die Einführung des englischsprachigen Programms – bis dahin gab es auf Englisch nur verkürzte Übersetzungen und aus dem Zusammenhang gerissene Zitate, die das Middle East Media Research Institute (Memri) in der Absicht verbreiten ließ, al-Dschasira als antiwestlichen, wenn nicht gar antisemitischen Sender zu diffamieren.11