13.05.2011

Die Reykjavík-Gang

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Die Reykjavík-Gang

Wie Islands Staatskasse verzockt wurde von Robert Wade und Silla Sigurgeirsdóttir

Am 9. April lehnte eine große Mehrheit der isländischen Bürger in einem Referendum das dritte Icesave-Abkommen ab. Diese Vereinbarung über die Kompensation der durch den isländischen Bankencrash geschädigten ausländischen Einleger war zuvor zwischen den Regierungen Islands, der Niederlande und Großbritanniens ausgehandelt worden. Maßgeblich für das negative Votum der Isländer war weniger der Inhalt des Abkommens als vielmehr die Debatte über die künftigen Beziehungen zwischen ihrem Land und der Europäischen Union.

An der Spitze der Nein-Kampagne standen Anhänger der extremen politischen Rechten und der äußersten Linken, deren Hauptziel es ist, einen EU-Beitritt Islands zu verhindern. Viele Bürger wollten mit ihrem Nein aber auch ihre Wut über die isländischen Banker artikulieren. Denn die für den Crash Verantwortlichen können heute ein luxuriöses Leben im Ausland genießen. Für die riesigen finanziellen Verluste, die sie Unternehmen wie privaten Anlegern zugefügt haben, müssen sie in keiner Weise geradestehen, weil die Banken ihre irrwitzigen Schulden einfach auf den Staat überschreiben durften.

Das kleine Island steht damit exemplarisch für das größte Problem, vor dem heute alle Regierungen stehen: Sie sind außerstande, den Bankensektor zu kontrollieren, weil sie für die Finanzierung der Staatsaufgaben auf eben diesen Sektor angewiesen sind.

Island war noch 2007 das fünftreichste Land der Welt, sein Bruttoinlandsprodukt pro Kopf übertraf das der USA um 60 Prozent. In Reykjavík boomten die Designergeschäfte, in den Restaurants speiste man teurer als in London, und die engen Straßen waren von Luxusgeländewagen verstopft. Glaubt man einer vergleichenden Studie von 2006, so fühlten sich die Isländer als die glücklichsten Menschen der Welt.

Ein Großteil dieses Reichtums beruhte auf dem rasanten Wachstum der drei größten isländischen Banken Kaupthing, Glitnir and Landsbanki, die noch 1998 kleine, kundenorientierte Geldinstitute gewesen waren. Dann aber entwickelten sie sich innerhalb von acht Jahren zu wahren Finanzgiganten, die in die Liga der 300 weltweit größten Banken aufstiegen. Diese „großen drei“ haben ihren Bilanzwert im Zeitraum zwischen 2000 und 2007 von 100 Prozent des isländischen Bruttoinlandsprodukts (BIP) auf knapp 800 Prozent gesteigert. Eine solche Zunahme um das Achtfache wurde nur noch von den Schweizer Banken übertroffen.

Fast genauso hoch lag allerdings die Summe ihrer Fremdmittel. Als im September 2008 die Finanzmärkte im Gefolge des Bankrotts der US-Großbank Lehman Brothers zum Erliegen kamen, konnten die isländischen Banken ihre Gläubiger nicht mehr bedienen. Die Krise war da: Innerhalb einer Woche brachen die „großen drei“ zusammen und wurden vom Staat übernommen. Damit waren sie über Nacht in eine weniger ruhmreiche Liga abgestiegen: Die Ratingagentur Moody’s führte sie auf der Liste der elf größten Bankencrashs der Geschichte.

Island hatte zu Beginn des 20. Jahrhunderts – nach über 600 Jahre währender Fremdherrschaft – eine Sozialstruktur, die im Vergleich mit allen nordeuropäischen Länder noch am stärksten von der Feudalzeit geprägt war. Wichtigster Wirtschaftssektor war der Fischfang, der dem Land einen Großteil seiner Devisen einbrachte. Die wurden dazu genutzt, einen wachsenden, allerdings von Importen abhängigen gewerblichen Sektor aufzubauen, was dann weitere Investitionen in die Bau- und Leichtindustrie wie im Bereich der Dienstleistungen nach sich zog.

Nach dem Zweiten Weltkrieg löste die Kombination von drei Faktoren eine Periode verstärkten Wachstums aus: erstens die Gelder aus dem Marshall-Plan (als Gegenleistung für die Einrichtung einer großen US- und Nato-Militärbasis); zweitens die stabile Nachfrage nach dem wichtigsten Exportprodukt: die Fänge der isländischen Hochseefischereiflotte; und drittens eine sehr kleine, aber sehr gut ausgebildete Bevölkerung mit einem ausgeprägten Nationgefühl.

Mit wachsendem Wohlstand baute Island einen Wohlfahrtsstaat auf, der sich an dem steuerfinanzierten skandinavischen Modell orientierte. In den 1980er Jahren erreichte das Land hinsichtlich Einkommenshöhe und -verteilung ein Niveau, das dem skandinavischen Durchschnitt entsprach. Die staatliche Regulierung wie auch der Klientelismus waren in Island allerdings noch stärker ausgeprägt als bei seinen europäischen Nachbarn. Die Folge war, dass der politische wie der ökonomische Bereich von einem örtlichen Oligopol beherrscht und zugleich gefesselt wurde.

Von dieser quasifeudalen, aus dem 19. Jahrhundert überkommenen Verteilung der Macht führte eine direkte Linie zu den Machtstrukturen, die der modernisierte isländische Kapitalismus in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ausgebildet hat. Seit der unmittelbaren Nachkriegsperiode setzte sich die Elite, die Politik und Wirtschaft beherrschte und die ökonomische Entwicklung steuerte, aus einem guten Dutzend Familien zusammen. Dieser Machtblock, im Volksmund „der Oktopus“ genannt, kontrollierte buchstäblich alles: Banken und Versicherungen, das Transportwesen und die Fischerei, die Belieferung der Nato-Basen und den Importsektor. Dieser Machtblock stellte über fünfzig Jahre lang auch die meisten Spitzenpolitiker des Landes. Die Oligarchen und ihr Familienklüngel hatten quasi dieselbe Macht wie im früheren Island die Stammesoberhäupter.

Der Oktopus hatte die rechte Unabhängigkeitspartei im Griff, die wiederum die Medien kontrollierte und über die Besetzung aller höheren Posten in der Bürokratie, im Polizeiapparat und im Justizwesen entschied. Auch die (staatlichen) Banken waren praktisch im Besitz der herrschenden Parteien. Wenn normale Bürger einen Kredit für die Anschaffung eines Autos oder Devisen für eine Auslandsreise beantragen wollten, mussten sie sich an Parteifunktionäre wenden. Dieses Machtgeflecht degenerierte zu einem wilden Gestrüpp aus Misstrauen, Liebedienerei und Erpressung, durchtränkt von einer Kultur brachialer Männlichkeit, die an die frühere Sowjetunion erinnerte.

Seit den späten 1970er Jahren wurde diese traditionelle Ordnung von innen infrage gestellt, und zwar durch eine neoliberale Fraktion. Diese sogenannte Lokomotiv-Gruppe hatte sich schon in den frühen 1970er Jahren formiert, als einige Jura- und BWL-Studenten an der Universität Island das Kommando bei einer Zeitschrift namens Lokomotive übernahmen. Mit der Propagierung marktradikaler Ideen wollten diese jungen Aufsteiger zugleich ihre eigenen Karrieren vorantreiben, ohne auf die Patronage durch den Oktopus angewiesen zu sein. Nach der Auflösung des Ostblocks 1989 sah diese Gruppe ihre Position materiell wie ideologisch in dem Maße gestärkt, wie die Kommunisten und Sozialdemokraten an Wählerrückhalt verloren.

Ein prominentes Mitglied der Lokomotiv-Gruppe war Davíd Oddsson, der aus einer Reykjavíker Mittelschichtfamilie stammte. 1982 im Alter von 34 Jahren zum Bürgermeister von Reykjavík gewählt, begann er eine Privatisierungskampagne, die auch den Verkauf der Fischereiflotte der Hauptstadt einschloss, wovon vor allem seine Spezies aus der Lokomotiv-Gruppe profitierten. 1991 gewann die Unabhängigkeitspartei mit Oddsson als Spitzenkandidaten die Parlamentswahlen. Anschließend herrschte er (das Wort ist in dem Fall keine Übertreibung) 14 Jahre lang als Ministerpräsident. In dieser Funktion ermöglichte er das fantastische Wachstum des isländischen Finanzsektors, bevor er sich 2004 zum Gouverneur der Zentralbank machte. Nachfolger als Regierungschef wurde sein Gefolgsmann Geir Haarde, der ihm seit 1998 als Finanzminister gedient hatte.

David Oddsson bewegte sich Zeit seines Leben nur innerhalb der isländischen Politik; jenseits der Inselgrenzen hat er kaum Erfahrungen gesammelt, und sein Interesse für den Rest der Welt war eher begrenzt. Die radikale Liberalisierung der isländischen Wirtschaft begann 1994, als der Beitritt zum Europäischen Wirtschaftsraum (EWR)1 alle Beschränkungen für die grenzüberschreitende Bewegung von Kapital, Waren, Dienstleistungen und Menschen mit einem Schlag aufhob. Damals beschloss die Regierung Oddsson den Ausverkauf staatlicher Unternehmen und Vermögenswerte sowie eine radikale „Deregulierung“ der Arbeitsverhältnisse.

Eine Orgie der Selbstbedienung

Allerdings blieb der Finanzsektor bis Ende der 1990er Jahre überschaubar und bestand hauptsächlich aus den staatlichen Banken. Als Oddsson 1998, in einer Koalition mit der Fortschrittspartei, die Privatisierung dieses Sektors in Angriff nahm, begann eine wahre Orgie der Selbstbedienung: Die Landsbanki wurde den Granden der Unabhängigkeitspartei, die Kaupthing den Bossen der Fortschrittspartei zugeschanzt – ausländische Mitbieter hatte man ausgeschlossen. Diese beiden wurden zur „Liga der drei“ erweitert, als wenig später durch die Fusion von mehreren kleineren Banken eine weitere Privatbank namens Glitnir entstand.

Zur Jahrtausendwende stieg Island dann ganz groß ins internationale Finanzgeschäft ein. Ermöglicht wurde dies durch zwei Trends auf globaler Ebene – billige Kredite im Überfluss und unbeschränkte Mobilität des Kapitals – und durch drei Voraussetzungen in Island selbst: Erstens hatten die Banken politische Rückendeckung; zweitens wurde Investmentbanken erlaubt, mit Geschäftsbanken zu fusionieren, womit der riskantere Investmentsektor durch dieselben Regierungsgarantien gedeckt war wie die Einlagen der Geschäftsbanken; und drittens sicherte die Tatsache, dass Island eine geringe Staatsverschuldung aufwies, den Banken die für große Geschäfte unerlässlichen Bestnoten der internationalen Ratingagenturen.

Angesichts solch prächtiger Bedingungen beschlossen die Großaktionäre der Landsbanki, der Kaupthing und der Glitnir, sich der politischen Aufsicht über den Finanzsektor zu entledigen. Zukünftig sollte sich die Politik der Regierung den Zielen des Finanzsektors unterordnen. Als nächsten Schritt weichten Oddsson und seine Freunde die Regeln für die Vergabe staatlicher Hypothekenkredite derart auf, das ein Bausparer einen Kredit über 90 Prozent des Immobilienwerts aufnehmen konnte. Die frisch privatisierten Banken überboten sich im Anbieten noch großzügigerer Konditionen, und die Regierung senkte die Einkommensteuern wie die Mehrwertsteuerrate, mit dem strategischen Ziel, Island zu einem steuergünstigen internationalen Finanzzentrum zu machen.

Damit war allerdings eine Dynamik entfesselt, die zu einer Kreditblase führen musste. Um immer größere Bereiche der isländischen Volkswirtschaft an sich zu reißen, investierte die neue Bankelite in diese Blase, teils einvernehmlich, teils in Konkurrenz zueinander. Ihr Rezept bestand darin, bei den eigenen Banken großzügige Kredite aufzunehmen – wobei ihre Aktienpakete als Sicherheit dienten. Mit diesem Geld kauften sie teilweise noch mehr Anteile derselben Banken, um deren Kurs weiter hochzutreiben. Das Bankmanagement war angewiesen, dieses Spiel mitzumachen.

Ähnliche Geschäfte wurden auch für Klienten der anderen Banken organisiert. Dabei vergab Bank A einen Kredit an Anteilseigner der Bank B, die noch mehr Aktien von Bank B kauften und damit deren Aktienkurs stimulierten. Im Gegenzug leistete die Bank B dieselben Dienste für Anteilseigner der Bank A. Am Ende der Operation hatte der Börsenwert beider Banken zugelegt, ohne dass diesen neue Gelder zugeflossen wären. Die der anderen Bank gewährten Kredite wurden zudem auch als Sicherheit genutzt, um Anleihen (also reales Geld) bei ausländischen Banken aufzunehmen.

Diese Operationen funktionierten im Grunde wie ein Kettenbriefsystem. Die Ökonomen sprechen von „Ponzi-Finanzierung“, bei der Kredite schlicht durch weitere Anleihen refinanziert werden. Wobei das Geschäft im isländischen Fall großenteils mit „Scheinkapital“ abgewickelt wurde, das von illegalen Marktmanipulationen herrührte. Dass diese Kreditketten nicht tragfähig waren, blieb unsichtbar, weil die Banken ein raffiniertes Netzwerk von gemeinsam gegründeten Briefkastenfirmen unterhielten. Diese Firmen – registriert in Luxemburg, der Isle of Man, den britischen Jungferninseln oder Kuba – kauften sich gegenseitig Aktienanteile ab, um damit ausgeglichene Bilanzen zu fingieren.

Die unbegrenzte Kreditschwemme ermöglichte auch den normalen Isländern einen extravaganten Konsum, mit dem sie das Ende der jahrzehntelangen finanziellen Dürreperiode feiern konnten, in der man einen Kredit nur mittels politischer Beziehungen bekommen hatte. Dass sich die Isländer nunmehr endlich als „unabhängige Leute“ fühlen konnten, dürfte zumindest teilweise erklären, warum sie sich selbst als „die glücklichsten Menschen der Welt“ einschätzten.

Die beschriebenen Methoden ermöglichten es dem winzigen Island, mit seinen Finanzinstituten in die Liga der internationalen Großbanken aufzusteigen. Dabei genehmigten sich die Anteilseigner und Manager immer größere Dividenden und Boni und organisierten damit eine Art Bankraub von innen. Da sie mit ihrem wachsenden Reichtum auch immer mehr politische Unterstützung kaufen konnten, begannen viele von ihnen zu glauben, sie könnten wie der legendäre König Midas alles zu Gold machen. Zum optischen und akustischen Symbol ihres Machtbewusstseins wurden die zahlreichen Privatjets, mit denen sie den Flughafen von Reykjavík zudröhnten.

Finanzwerte von zweifelhafter Qualität

Doch gleichzeitig nahm in diesen Jahren die Ungleichheit bei der Vermögens- und Einkommensverteilung drastisch zu. Und die Politik der Regierung, die Steuerlast immer stärker auf die ärmere Hälfte der Bevölkerung zu verlagern, verstärkte diesen Trend noch.2 Die Banker zeigten sich dafür erkenntlich, indem sie reichlich Spenden an die regierenden Parteien abführten und den maßgeblichen Politikern beträchtliche Kreditsummen bewilligten.

2004 feierte der führende isländische Propagandist des Marktradikalismus im Wall Street Journal das „Oddsson’sche Experiment einer liberalen Strategie“ noch als „ größte Erfolgsstory der Welt“.3 Dann aber tauchten Anfang 2006 in der Finanzpresse die ersten besorgten Fragen über die Stabilität der großen Banken auf, als diese erstmals Probleme hatten, sich neue Mittel auf den Finanzmärkten zu beschaffen (worauf ja ihr ganzes Geschäftsmodell beruhte). Das Defizit der isländischen Zahlungsbilanz hatte sich von 2003 bis 2006 vervierfacht und war von 5 Prozent des BIPs auf 20 Prozent angewachsen (damals eines der größten Zahlungsbilanzdefizite der Welt). Der isländische Aktienindex war wischen 2001 und 2007 um das Neunfache gestiegen. Die „großen drei“ Landsbanki, Kaupthing und Glitnir arbeiteten mit geliehenen Geldern, die weit jenseits der Deckungskapazität der isländischen Zentralbank lagen, obwohl diese als „lender of last resort“ für dieses Kreditvolumen bürgen musste. Zumal die Verbindlichkeiten der Banken höchst real waren, viele ihrer Aktiva dagegen eine zweifelhafte Qualität aufwiesen und große Teile von beiden in ausländischen Währungen bilanziert waren.

Im Februar 2006 senkte die Ratingagentur Fitch ihre Bewertung der isländischen Zukunftsperspektiven von stabil auf negativ. Das löste die sogenannte Minikrise von 2006 aus: Die isländische Krone verlor drastisch an Wert, entsprechend stieg der Wert der Bankverbindlichkeiten in fremder Währung, womit das Problem der hohen Verschuldung in Fremdwährung „verstaatlicht“ wurde. Als Nächstes gingen die Aktienkurse in den Keller und die Zahl der Firmeninsolvenzen in die Höhe. Ein Bericht der Danske Bank charakterisierte den Fall Island als „Geysir-Ökonomie“, die kurz vor der Explosion stehe. Im Mai 2006 schickte der Internationale Währungsfonds (IWF) der Regierung in Reykjavík einen besorgten Bericht, der aber nur in einer stark verwässerten Fassung veröffentlicht wurde. Während der interne Bericht die Ungleichgewichte in der isländischen Wirtschaft als „staggering“ (erschütternd) beschrieb, bezeichnete die veröffentlichte Version sie lediglich als „auffallend“.

Von den isländischen Bankern und Politikern wurde die „Minikrise“ von 2006 verharmlost und auf die Ignoranz der Kritiker zurückgeführt. Die Zentralbank legte neue Anleihen auf, um ihre Devisenreserven zu verdoppeln. Die isländische Handelskammer – in der natürlich die Repräsentanten der drei Banken und ihrer diversen Ableger das Sagen hatten – reagierte mit einer PR-Kampagne: Dem bekannten Monetaristen Frederic Mishkin, Professor an der Columbia Business School, zahlte sie 124 000 Dollar für seinen Namen unter einem Report, der den isländischen Banken eine stabile Basis bescheinigte. In Wirklichkeit war das Papier größtenteils von einem isländischen Ökonomen verfasst. Dasselbe gilt für einen zweiten Report, dem der Londoner Wirtschaftsprofessor Richard Portes für 8 000 Pfund seinen Namen lieh. Und der bekannteste Vertreter der Angebotsökonomie, Arthur Laffer, versicherte den isländischen Kapitalvertretern noch im November 2007, rasches Wirtschaftswachstum bei einem großen Handelsbilanzdefizit und rasch steigender Auslandsverschuldung sei nur ein Beleg für eine erfolgreiche Ökonomie. Laffers Fazit lautete: „Island sollte der ganzen Welt als Vorbild dienen.“4 Zu diesem Zeitpunkt hatten die „Aktiva“ der isländischen Banken einen Wert erreicht, der das Bruttoinlandsprodukt des Landes um das Achtfache überstieg.

Nach den Wahlen vom Mai 2007 stieg die Sozialdemokratische Allianz (SDA) in eine Koalition mit der immer noch dominierenden Unabhängigkeitspartei ein. Zum Entsetzen vieler SDA-Anhänger vergaß die sozialdemokratische Führung dabei ihre Wahlversprechen und gab der weiteren Expansion des Finanzsektors ihre volle Unterstützung.

Auch nachdem die drei Großbanken die Minikrise von 2006 überstanden hatten, erwies es sich für sie als schwierig, die nötigen Geldsummen aufzutreiben, um ihre Expansion zu finanzieren und die aufgelaufenen Kredite (großenteils in fremder Währung) zurückzuzahlen. Zur Lösung dieses Problems entwickelten die Banken zwei Methoden: Die erste wurde von der Landsbanki erfunden. Sie gründete eine Onlinebank namens Icesave, mit der sie durch hohe Zinsen, die höher lagen als die normaler Institute, Einlagen von ausländischen Einzelkunden anlockte.

Milliardenschwere Liebesbriefe

Icesave hatte seinen ersten Auftritt im Oktober 2006 in Großbritannien (im Frühjahr 2008 folgten die Niederlande) und wurde auf den Finanz-Sites im Internet alsbald als „best buy“-Tipp gehandelt. Ein Strom von Einlagen begann zu fließen: Neben hunderttausenden privaten Anlegern vertrauten Institutionen wie die Universität Cambridge, die Verwaltung der Londoner Polizei, ja sogar die britische Audit Commission (öffentliche Aufsichtsbehörde für die Gemeindefinanzen) der isländischen Onlinebank Millionen britischer Pfund an. Allein in Großbritannien konnte Icesave 300 000 Anleger gewinnen.

Die Mitarbeiter bei der Landsbanki konnten ihr Glück kaum fassen. Der Cash-Zufluss erlaubte es der Bank, ihre Kredite abzuzahlen und weitere Vermögenstitel zu kaufen. Da die Icesave-Internetbanken juristisch als „Filialen“ und nicht als „Tochtergesellschaften“ konstruiert waren, unterstanden sie der Rechtsaufsicht Islands und nicht der ihrer Gastgeberländer (Großbritannien und Niederlande). Übersehen wurde dabei, dass die isländische Bankaufsichtsbehörde nur 45 Leute (einschließlich Pförtner) beschäftigte. Zudem machte sich niemand große Gedanken darüber, dass Island als Mitglied des Europäischen Wirtschaftsraums (EWR) zu einer (begrenzten) Sicherung der Einlagen ihrer Bankkunden verpflichtet war. Das bedeutete, dass die 320 000 isländischen Bürger im Fall eines Bankrotts für die Entschädigung der ausländischen Anleger aufkommen mussten, während zugleich die kurzfristigen Profite der Landsbanki von deren Aktionären eingesackt wurden.

Die zweite Methode, mit der die isländischen Banken ihre Probleme bei der Beschaffung neuen Kapitals „lösen“ konnten, bestand in der Kunst, an liquide Mittel heranzukommen, ohne reale Werte als Sicherheit zu hinterlegen. Und das ging so: Da die großen drei ihren Kreditspielraum bei der Zentralbank ausgeschöpft hatten, machten sie sich daran, sogenannte Darlehenssicherheiten an die kleineren Regionalbanken zu verkaufen. Diese hinterlegten diese Papiere dann bei der Zentralbank als Sicherheit für neue Kredite, die sie anschließend an die große Bank weiterreichten, von der das Geschäft seinen Ausgang genommen hatte. Die Finanzprofis erfanden für diese neuartigen Papiere den Spitznamen „love letters“, weil sie nichts als Versprechungen enthielten.

Mit dieser Methode machten die großen drei bald auch internationale Geschäfte. Gestützt auf ihre „gesunden“ Bilanzabschlüsse, gründeten sie Tochterunternehmen in Luxemburg, denen sie ebenfalls „Liebesbriefe“ verkauften. Diese veräußerten die Töchter an die Zentralbank von Luxemburg (BCL) und die Europäische Zentralbank (EZB); die eingenommenen Gelder konnten sie an das Mutterinstitut in Island zurückreichen oder für eigene Geschäfte verwenden. Allein von Februar bis April 2008 erhöhten die großen drei (Landsbanki, Kaupthing, Glitnir) ihre Kreditaufnahme bei der BCL um 2,5 Milliarden Euro, bis Ende Juni kamen weitere 2 Milliarden Euro dazu. Natürlich hätte keine der beteiligten Zentralbanken die Schuldentitel einer isländischen Bank als Sicherheit für Kredite an eine andere Bank akzeptieren dürfen, da die Banken ja ineinander verschachtelt waren. Am erstaunlichsten ist dabei aber, dass zumindest eine der großen drei, nämlich Glitnir, von einer US-amerikanischen Kreditratingagentur für ihre Anleihepapiere die Bestnote AAA erhielt, also höher bewertet wurde als Island insgesamt.

Der Zusammenbruch der isländischen Banken begann nur zwei Wochen nach dem Bankrott der US-Großbank Lehman Brothers. Am 29. September 2008 erbat die Glitnir den Beistand der Zentralbank zur Abwendung einer drohenden Zahlungsunfähigkeit. Um das Vertrauen der Märkte wiederherzustellen, wurde die Zentralbank von ihrem Gouverneur Oddsson angewiesen, 75 Prozent der Glitnir-Aktien aufzukaufen. Die Folge war jedoch nicht, dass Glitnir gestärkt wurde, sondern dass das Vertrauen in Island insgesamt litt. Die Ratingagenturen stuften die Kreditwürdigkeit des Landes herab, worauf die ausländischen Geldinstitute der Landsbanki und der Kaupthing die Kreditlinien kündigten. Die Folge war eine Panik unter den britischen und holländischen Icesave-Kunden, die begannen ihre Einlagen abziehen.

Daraufhin entschied Oddsson am 7. Oktober 2008, den Wechselkurs der Isländischen Krone an einen Korb von stabilen Währungen zu binden. Angesichts der Begleitumstände – die Krone verlor bereits an Wert, die Devisenreserven der Zentralbank gingen zu Neige und für den Kapitalexport existierten keinerlei Beschränkungen – hielt diese Stabilisierung der isländischen Währung nur wenige Stunden. Kurzlebiger ist eine Wechselkursbindung wohl nie gewesen, aber für die eingeweihten Kumpane von Oddsson reichten die paar Stunden aus, um ihre Kronen-Bestände in harte Währungen umzutauschen – natürlich zu weit günstigeren Kursen, als sie danach für die normalen Isländer galten.

Insider gehen davon aus, dass in diesen Stunden Werte von mehreren Milliarden Euro aus der isländischen Währung flüchten konnten. Nach geglückter Kapitalflucht wurde der Wechselkurs der Krone freigegeben und sank wie ein Stein. Am 8. Oktober ließ Premierminister Gordon Brown – unter Berufung auf die britischen Antiterrorgesetze – die Vermögenswerte der Landsbanki in Großbritannien einfrieren. In Island stürzten die Kurse der Aktien und Bankobligationen ebenso ab wie die Häuserpreise und die Durchschnittseinkommen.

Mitte Oktober reiste eine IWF-Delegation nach Reykjavík, um ein Programm zur Krisenbewältigung auszuarbeiten. Es war das erste Mal seit der britischen Währungskrise von 1976, dass der Internationale Währungsfonds zur wirtschaftlichen Rettung eines entwickelten Landes herbeigerufen wurde. Um die isländische Krone zu stabilisieren, bewilligte der IWF am 24. Oktober ein mit Auflagen versehenes Darlehen in Höhe von 2,1 Milliarden Dollar; zugleich unterstützte er die Forderung der Regierungen in London und Den Haag, dass Island seine Verpflichtungen aus dem europäischen Einlagengarantieabkommen zu erfüllen habe. Das bedeutete, dass Reykjavík beiden Regierungen die Summen rückerstatten muss, mit denen diese die britischen und niederländischen Icesave-Anleger entschädigt hatten.

Joghurtbecher gegen das Parlament

Die normalerweise gelassenen und konsumorientierten Isländer formierten sich zu einer zornigen Protestbewegung, deren Angriffsziel vor allem Regierungschef Haarde und Zentralbank-Gouverneur Oddsson mitsamt ihren Kumpanen von der Unabhängigkeitspartei waren. Tausende Demonstranten umzingelten das Parlament in Reykjavík, um die Regierung zum Rücktritt aufzufordern, und bewarfen das Gebäude mit Tomaten und Joghurtbechern. Im Januar 2009 brach die Koalition aus Unabhängigkeitspartei und Sozialdemokraten auseinander. Bis heute ist die isländische Regierung die einzige, die aufgrund der globalen Finanzkrise zurücktreten musste.

Island ist auch das einzige Land, das nach den Ereignissen vom September 2008 einen deutlichen Linksruck vollzogen hat. Im Januar 2009 bildete die Sozialdemokratische Partei (SDA) mit der erstarkenden „Links-Grünen-Bewegung“ (LGM) eine Interimsregierung, die das Land in Neuwahlen führte. Am 26. April gewann die Unabhängigkeitspartei nur noch 16 von 63 Sitzen: das schlechteste Ergebnis seit ihrer Gründung im Jahr 1929.

Die neue Regierung aus SDA und LGM geriet sofort unter Druck. Großbritannien und die Niederlande drängten auf die Rückzahlung der Icesave-Schulden; der IWF hielt einen Großteil der zugesagten Kreditsumme bis zu einer Einigung mit London und Den Haag zurück. Die Koalition war sich zudem uneinig in der Frage, ob Island der EU und der Eurozone beitreten sollte, was eine Mehrheit der Sozialdemokraten fordert. Nach langen Verhandlungen präsentierte Ministerpräsidentin Jóhanna Sigurdardóttir im Oktober 2009 die ausgehandelte Vereinbarung über die Icesave-Schulden: Im Zeitraum von 2016 bis 2023 sollten an Großbritannien und die Niederlande insgesamt 5,5 Milliarden Euro gezahlt werden, das entspricht 50 Prozent des isländischen Bruttoinlandsprodukts.

Ein Aufschrei ging durch das Land. In der LGM regte sich heftiger Widerstand. Einer ihrer Minister trat aus Protest zurück, und fünf LGM-Abgeordnete stimmten im Parlament gegen die Vereinbarung. Dennoch wurde das Gesetz am 30. Dezember 2009 durchgepeitscht. Doch am 5. Januar 2010 erklärte Staatspräsident Grímsson, er respektiere die Volksstimmung und werde das Gesetz nicht unterschreiben. Damit musste ein Referendum entscheiden. Im März wurde das Icesave-Abkommen von 93 Prozent der Wähler abgelehnt.

Die Regierung hat ihre geplanten Haushaltskürzungen zunächst aufgeschoben, was der Volkswirtschaft eine Atempause verschafft hat. Für 2011 sind jedoch drastische Einschnitte geplant. Krankenhäuser und Schulen haben drastische Gehaltskürzungen angekündigt und begonnen, Personal zu entlassen. Der vorläufige Stopp bei der Pfändung von (überschuldetem) Hausbesitz ist Ende 2010 ausgelaufen. Das isländische BIP, das 2010 um 3,4 Prozent schrumpfte, ist jedoch nicht so stark gesunken wie in Ländern mit rigorosen Sparprogrammen (Irland, Estland, Lettland). Die Arbeitslosenquote (2006 nur bei 2 Prozent) bewegt sich seit 2009 zwischen 7 und 9,5 Prozent. Allerdings hat die Auswanderungsquote bei Isländern – ebenso wie bei den vorwiegend polnischen EU-Arbeitskräften – den höchsten Stand seit 1889 erreicht.

Im Oktober 2010 hat das Parlament den ehemaligen Regierungschef Haarde wegen Verletzung der Amtspflichten angeklagt. Seine Akte liegt jetzt beim Landsdómur, einem eigens für diesen Fall einberufenen „Obersten Gericht“. Der frühere Finanzstaatssekretär, ebenfalls ein Mitglied der Lokomotiv-Gruppe, wurde zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt, weil er beim Verkauf seiner Landsbanki-Aktien im September 2008 Insiderinformationen genutzt hatte. Nicht zur Verantwortung gezogen wurde dagegen Zentralbankchef Oddsson. Ihn hat man vielmehr mit dem Chefredakteursposten bei der führenden Tageszeitung Morgunbladid belohnt. Als solcher darf er die Berichterstattung über die „isländische Krise“ orchestrieren. Ein Kommentator meinte, das sei so, als ob man nach dem Watergate-Skandal Expräsident Nixon zum Chefredakteur der Washington Post gemacht hätte.5

Eigentlich sollte man annehmen, dass es in einem winzigen Land wie Island leichter gewesen wäre, die Leugnung der bevorstehenden Krise durch die Regierung zu durchschauen. Aber das Gegenteil war der Fall. Die Regierung Oddsson betrieb eine extreme „Privatisierung“ der Informationen, indem sie sich bei der Analyse der isländischen Wirtschaft und ihrer Perspektiven vor allem auf die Banken selbst und deren Forschungsabteilung verließ. Einzig das Nationale Wirtschaftsinstitut, das für seine unabhängigen Analysen bekannt war, veröffentlichte unliebsame Berichte und warnte vor dem nahenden Chaos. Es wurde 2002 von Oddsson aufgelöst.

Es gab zwar noch die staatliche Statistikbehörde, aber die wagte kaum, die Aufmerksamkeit auf ungünstige Entwicklungen in der Einkommens- und Vermögensverteilung zu lenken. Auch die Universität von Island beugte sich dem politischen Druck und machte aus ihren wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Forschungszentren selbstfinanzierte Institute – was praktischerweise zur Folge hatte, dass sie aufhörten, kritische Berichte über die gesamtwirtschaftliche Situation vorzulegen.

Als die Blase gefährlich zu wachsen begann, erschienen mehrere kritische Berichte, und zwar auch von der Zentralbank. Aber als die Gefahren dann 2008 und 2009 akut wurden, fielen die Berichte – auch seitens des IWF – merklich milder aus. Es scheint, dass die offiziellen Finanzinstitutionen, genau wie Banker und Politiker, die Lage als so labil einschätzten, dass das bloße Reden darüber womöglich einen Sturm auf die Konten ausgelöst hätte, den man durch beharrliches Schweigen abzuwenden hoffte. Schlechte Nachrichten hatten zu unterbleiben; wer darauf bestand, sie zu verbreiten, wurde als inkompetent und alarmistisch abqualifiziert.

Wie stark die damalige Regierung aus Unabhängigkeitspartei und Sozialdemokraten mit der Finanzelite verbandelt war, zeigt sich in ihrer nach dem Crash getroffenen Entscheidung, alle Einlagen bei den drei großen Banken ohne jede Obergrenze zu garantieren. Hätte sie diese Garantie auf Guthaben bis 5 Millionen Kronen (etwa 50 000 Euro) begrenzt, wären damit 95 Prozent aller Einleger geschützt gewesen. Von der unbegrenzten Garantie profitierten also nur die reichsten 5 Prozent.

Diese Entscheidung hat nicht nur weitere Einschränkungen der öffentlichen Haushalte erzwungen. Mit ihr kommt auf die isländische Regierung außerdem die Forderung zu, auch alle ausländischen Icesave-Anleger vollständig zu entschädigen. Geschieht dies nicht, verstößt sie gegen EU-Recht, weil sie ausländische Bürger diskriminiert. Von allen Problemen, die der finanzielle Zusammenbruch von 2008 zur Folge hatte, ist das Problem Icesave dasjenige, das Regierung, Parlament und das isländische Volk noch am längsten beschäftigen und belasten wird.

Fußnoten: 1 Der EWR (englisch: European Economic Area oder EEA) ist ein Freihandelsraum, der die EU und die Efta-Länder Norwegen, Island und Liechtenstein angehören. 2 Stefán Ólafsson und Arnaldur Sölvi Kristjánsson (2010), „Income Inequality in a Bubble Economy: The Case of Iceland 1992–2008“: www.lisproject.org/conference/papers/olafsson-kristjansson. 3 Hannes Gissurarson, „The Miracle on Iceland“, Wall Street Journal, 29. Januar 2004. 4 Arthur Laffer, „Overheating is not dangerous“, Morgunbladid, 17. November 2007. 5 So Thorvaldur Gylfason, „From Boom to Bust: The Iceland Story“, in: Gylfason u. a. (Hg.), „Nordics in Global Crisis“, Helsinki (Taloustieto Oy) 2010, S. 158. Aus dem Englischen von Niels Kadritzke Robert Wade lehrt an der London School of Economics und Silla Sigurgeirsdóttir an der Universität Island.

Le Monde diplomatique vom 13.05.2011, von Robert Wade und Silla Sigurgeirsdóttir