Presse und Prestige
von Serge Halimi
Vor einem Jahr versuchte die Tageszeitung Libération ihren schwächelnden Verkauf mit folgendem Slogan wieder in Fahrt zu bringen: „Wenn alles schnell geht, gibt’s nur eine Lösung: noch schneller sein.“ Das ging offensichtlich nach hinten los. Ein Jahr später sind die Verkaufszahlen noch weiter in den Keller gesunken, über ein Drittel der Stellen soll gestrichen werden, und die Restredaktion darf noch mehr sogenannte Inhalte produzieren. Wer mit dem Gedanken spielen sollte, Widerstand zu leisten, wird vom neuen Geschäftsführer Pierre Fraidenraich unmissverständlich gewarnt: „Es müssen Opfer erbracht werden. Das habe ich nie geleugnet. Entweder das oder der Tod.“1 Es wird wohl auf das eine und das andere hinauslaufen.
Es gibt wahrlich Schlimmeres als die Agonie einer kleinen Zeitung. Und doch führt uns diese Geschichte zwei charakteristische Phänomene vor Augen: Herausgeber, die weder an die wirtschaftliche Zukunft noch an den demokratischen Auftrag ihres Presseerzeugnisses glauben, und eine linke Regierung, die nichts anderes tut, als den Geschäftssinn ihrer Gegner zu imitieren. Da die Libération das Sprachrohr von Staatspräsident François Hollande ist, hat sie nun unter beidem zu leiden. Der Tod dieser traditionsreichen Tageszeitung wäre gewissermaßen die Selffulfilling Prophecy von Manuel Valls’ Diktum „Die Linke kann sterben“, mit dem der Ministerpräsident versucht, seine letzten Getreuen zu mobilisieren.
Von Cross-Marketing-Geschäften mit dem Hauptaktionär der Libération, dem Kabel- und Internetanbieter SFR-Numericable, über teure Symposien bis hin zu einem Restaurant plus Bar im Redaktionsgebäude in der Rue Béranger soll das Überleben dieser Zeitung durch alles Mögliche, nur nicht mit Journalismus gesichert werden.
Und was macht die Regierung? Sie beschwört ihre Anhänger, nur ja an dem eingeschlagenen Kurs festzuhalten, (auch wenn er mit dafür verantwortlich ist, dass die „Rechtsextremen an die Tore der Macht“ klopfen), indem sie endlos wiederholt, es gebe keinen anderen Weg, die Rechtsextremen daran zu hindern, an die Macht zu kommen.
Den Chefredakteur der Libération, Laurent Joffrin, hält schon längst niemand mehr für den Erben Jean-Paul Sartres, der 1973 die Libé gegründet hat. Und auch Hollande geht kaum noch als Enkel des Sozialisten Jean Jaurès durch. Man denke nur an die Unverfrorenheit, mit der der Präsident verkündete, sein „wahrer Gegner“ sei die Finanzwelt, obwohl er längst beschlossen hatte, nichts gegen sie zu unternehmen. Und Pierre Fraidenraich vollbringt das Kunststück, in ein und demselben Interview sich damit zu brüsten, „die freieste Zeitung Frankreichs“ zu leiten, und gleichzeitig seine Redakteure unmissverständlich davor zu warnen, gegen die Aktionäre zu wettern, die „18 Millionen Euro in diese Zeitung gesteckt haben“.2
Darauf sollte man in der Tat besser verzichten, zumal man bald noch mehr von ihnen verlangen wird. Die Aktionäre der französischen Presse3 gehören zu den reichsten Männern Frankreichs. Sie machen ihr Geld in dynamischeren Sektoren der Weltwirtschaft (Luxusindustrie, große Bauprojekte der öffentlichen Hand, Waffengeschäfte, Internet) und verschieben ihren Einsatz ständig von einer Zeitung, einem Fernsehsender oder einer Website zur anderen. Wenn die Presse also ihre Aktionäre schonen und ihren Hohn nur über dem Präsidenten und die Regierung ausschütten würde, hieße das nichts anderes, als die Strippenzieher in den Himmel zu heben und deren Marionetten zu bekämpfen.
Die Hymnen der Herausgeber auf die Eigentümer – „ich wünsche allen Zeitungen und Medien einen Aktionär wie unseren“, ließ etwa der Herausgeber von Le Point über die Familie Pinault verlauten – zeugen jedenfalls von einem besorgniserregenden Ungleichgewicht zwischen Journalisten und Investoren.
Die Presse ist dermaßen angeschlagen, dass sie gar nicht anders kann, als den Investoren nachzugeben, die sich herablassen, deren Defizite zu begleichen. Die Libération verliert laut ihrer Eigentümer täglich 22 000 Euro, das macht fast 16 Prozent vom Umsatz aus. Im letzten Jahr haben nur zwei von den achtzehn Tageszeitungen, deren Auflagen von offizieller Stelle geprüft werden, ihre Auflage erhöht: Les Echos um 1,86 Prozent und La Gazette des courses um 2,6 Prozent. Bei den meisten Zeitungen und Magazinen (240 von 301) ging die Auflage stark zurück: minus 21 Prozent bei Les Inrockuptibles, minus 19 bei Marianne, minus 16 bei Le Canard enchaîné.
Mit der Leserschaft schwinden auch die Werbeeinnahmen. Bei den Printmedien sind sie zwischen 2009 und 2013 um 27 Prozent gesunken. Die großen Manager investieren daher gar nicht mehr in eine Zeitung, um finanziell Profit zu machen. Es muss um etwas anderes gehen.
Denn die Zahlen sprechen für sich: „Serge Dassault hat allein mit dem Figaro seit fünf Jahren im Durchschnitt 15 Millionen Euro jährlich verloren“, berichtet die Zeitschrift Capital. „Michel Lucas, der Präsident von Crédit Mutuel, verliert im Durchschnitt 33 Millionen mit seinen neun regionalen Tageszeitungen im Osten Frankreichs. Bei Claude Perdriel erreichte das Defizit 5 Millionen, bevor er den Nouvel Observateur verkaufte. Bernard Arnault hat seit dem Kauf von Les Échos über 30 Millionen Verluste angehäuft. Als Einziger hat François Pinault mit Le Point jahrelang 2 bis 3 Millionen Gewinn gemacht, aber im ersten Halbjahr 2014 auch Verluste geschrieben.“4
Vom Telekom-Piraten zum Mitglied des Establishments
Wenn Patrick Drahl beschlossen hat, 14 Millionen in die Rettung von Libération zu versenken, dann erwartet er eine andere Rendite. „Man schaut zweimal hin, bevor man den Eigentümer einer Zeitung angreift“, heißt es bei Capital. „Patrick Drahi, der undurchsichtige Chef von Numericable, war ein ‚Nobody‘, als er das Mobilfunkunternehmen SFR eroberte. Damals wurde er von allen Seiten angegriffen, man warf ihm Steuerflucht, suspekte Holdings auf den Bahamas und eine unklare französische Staatsbürgerschaft vor. Deshalb Libération. Das ist zwar nicht TF1, aber der Abschreckungseffekt ist nicht zu verachten.
Xavier Niel ist vom Telekom-Piraten zum Mitglied des Establishments aufgestiegen, als er 2010 Miteigentümer von Le Monde wurde. Und das für geringe Kosten: Sein Vermögen schwankt an jedem Börsentag um mehr als die 30 Millionen Euro, die er in die Tageszeitung investiert hat.“
Viel Druck ist aber gar nicht nötig, damit fast sämtliche Medien auf den Sparkurs einschwenken. In Frankreich haben die meisten Wirtschaftsredakteure und Leitartikler die Denkmuster von IWF, Rechnungshof und Arbeitgeberverbänden ohnehin verinnerlicht.
Woche für Woche erklärt der US-Ökonom Paul Krugman in der New York Times, dass die Befürchtungen der Monetaristen widerlegt seien, insbesondere deren Sorge, dass staatliche Defizite unweigerlich zur Inflation führen. Vielmehr hätte sich die Warnung der Keynesianer bestätigt: dass nämlich die Sparpolitik das Wachstum bremsen werde. Dennoch triumphierten weiter die Monetaristen, vor allem in den großen Medien, klagt Krugman. Es dürfte sich eigentlich niemand mehr wundern. Wenn unabhängige Zeitungen nach und nach verschwinden und die Presse sich im vorauseilenden Gehorsam anpasst, gewinnen auf unserem krisengeschüttelten Kontinent natürlich die Konservativen immer mehr die Oberhand.
In Frankreich passt der Präsident die Wirtschaftspolitik seit zwei Jahren den Ratschlägen der Presse an. Die Ergebnisse sind entsprechend schlecht. Aber anstatt Hollande dafür dankbar zu sein, dass er ihren katastrophalen Vorgaben folgt, bedrängen die Medien ihn nun, diese Politik zu verschärfen und – wenn er seine Schuldigkeit getan hat – abzudanken.
„Da er ohnehin keine Chance hat, wiedergewählt zu werden, sollte er wenigstens die Reformen zu Ende bringen, um eine Spur in der Geschichte zu hinterlassen“, mahnte der frühere sozialistische Europaabgeordnete Olivier Duhamel auf Europe 1. Ein Leitartikler des Figaro – Pluralismus verpflichtet – fordert den Staatschef sogleich zu dem gleichen Opfer auf: „Hollande scheint heute jede Fähigkeit abzugehen, einen neuen Anlauf zu nehmen. Ist das nicht ein Grund mehr, mit dem Rücken an der Wand alles auf eine Karte zu setzen? Indem man offen und mutig eine liberale Reformpolitik zu Ende bringt, auch wenn man seine Mehrheit verliert?“5
Die „Rückkehr“ von Nicolas Sarkozy wird wohl dafür sorgen, dass in den nächsten Jahren die Auseinandersetzung zwischen Vertretern fast identischer politischer Richtungen weiter die öffentliche Diskussion in Frankreich bestimmen wird. Und die Medien werden das Ganze zwanghaft mit Umfragen und Terrorwarnungen begleiten.
In der Radiosendung „Là-bas si j’y suis“ auf France Inter, die 1989 eingerichtet wurde, waren die Hörer solchen Manipulationen nicht ausgesetzt. Sie bot eine andere Sicht auf die französische Gesellschaft und die internationale Politik. Die Journalisten der Pariser Ausgabe von Le Monde diplomatique waren übrigens im Studio oft zu Gast. Doch dann hieß es auf einmal, der Moderator Daniel Mermet (Jahrgang 1942) sei zu alt und die Zuhörerzahlen würden zurückgehen.
Im Juni 2014 hat sich der Sender von diesem Freiraum verabschiedet. Dabei scheint Radio France in anderen Fällen keine vergleichbaren Vorbehalte zu hegen. Da bekommen sogar umstrittene Journalisten eine neue Chance, wie Nicolas Demorand, der kürzlich aus der Redaktionsleitung von Libération entlassen wurde, nachdem 89,9 Prozent der Mitarbeiter seinen Weggang gefordert hatten. Demorand stand eben stets aufseiten der Arbeitgeber.6 Deshalb kann er auch immer wieder nach oben steigen. Das Verschwinden von „Là-bas si j’y suis“, der einzigen täglichen Sendung im öffentlichen Rundfunk, die es in jeder Hinsicht gewagt hat, gegen den Strom zu schwimmen, ist jedenfalls ein schwerer Schlag für die Meinungsvielfalt in Frankreich.7
Im digitalen Zeitalter erinnert das sogenannte journalistische Angebot manchmal einem chaotischen Selbstbedienungsladen, in dem es alles zu haben gibt. Aber schon spürt man, wie durch die ununterbrochene Flut von oberflächlichen Informationen und vorhersehbaren Kommentaren zu jeder (vermeintlichen) Neuigkeit der Überdruss wächst. Und genau da könnte die Einzigartigkeit von Le Monde diplomatique zum Trumpf werden.
Die internationale Monatszeitung Le Monde diplomatique hat sich in den vergangenen sechzig Jahren8 enorm verändert, aber die Haltung ist geblieben: Wir weigern uns, mit den Wölfen zu heulen. Und wir quälen uns auch nicht mit Gedanken an Verfall und Niedergang. Wir setzen auf Emanzipation. In Zeiten, in denen Obskurantismus, Angst und Paranoia um sich greifen, glauben wir, dass Vernunft, Wissenschaft, Bildung, Wissen und Geschichte den religiösen Wahn, die Vorurteile, den Aberglauben und den Fatalismus in die Schranken weisen können.