Wählen in den USA
Wie man gewinnt, obwohl man keine Mehrheit hat von Brentin Mock
Am 11. März verlor Obamas Demokratische Partei im US-Bundesstaat Florida die Nachwahl für einen Sitz im Repräsentantenhaus, der wegen des Todes des 82-jährigen republikanischen Abgeordneten Bill Young neu zu besetzen war. Die Wahl galt als Stimmungstest für die im November bevorstehenden Midterm Elections, bei denen das Repräsentantenhaus und ein Drittel der Senatoren neu gewählt werden.
Die meisten Beobachter hatten der Demokratin Alex Sink gute Chancen eingeräumt, schließlich hatte Obama den Wahlkreis bei den Präsidentschaftswahlen 2008 und 2012 gewonnen. Sink hatte überdies doppelt so viele Wahlkampfspenden eingesammelt wie ihr Gegner. Als dann der Kandidat der Republikaner, der unpopuläre Exlobbyist David Jolly, dennoch gewann, wurde dies weithin als ein Votum gegen die Obama-Regierung angesehen, die unter anderem mit dem chaotischen Start ihrer Gesundheitsreform und ihrer zögerlichen Außenpolitik viele Wähler enttäuscht hat. Doch auch die Republikaner hatten sich unbeliebt gemacht, als sie im Herbst 2013 die Verabschiedung des neuen Haushalts blockierten und deshalb die Bundesbehörden wochenlang lahmgelegt waren.
Die Kongresswahlen im November werden Aufschluss darüber geben, über welche Partei sich die Wähler letztlich mehr ärgern. Im Frühjahr sprachen sich laut Meinungsforschungsinstitut Public Policy Polling nur 23 Prozent der US-Bürger für die Republikaner aus – gegenüber 35 Prozent, die den Demokraten zuneigten.1 Der Abstand hat sich zwar wie üblich mit dem Näherrücken des Wahltermins verringert, aber die Umfragen sehen die Demokraten immer noch vorn.
In solchen Situationen versuchen die US-Parteien normalerweise, entweder weniger Leute zur Wahl zuzulassen, um unter den verbleibenden Wählern möglichst den Sieg davonzutragen, oder die Grenzen von unentschiedenen Wahlkreisen so zu ziehen, dass Teile, in denen mehrheitlich Oppositionsanhänger wohnen, nicht mehr dazugehören. Dadurch steigen die Chancen des bisherigen Mandatsinhabers, wie unpopulär dieser auch sein mag. Die erste Variante wird in den USA als „voter suppression“ (Wählerverdrängung) bezeichnet, die zweite als Gerrymandering – ein Kunstwort, das sich zusammensetzt aus dem Namen eines Gouverneurs von Massachusetts im 19. Jahrhundert, Eldridge Gerry, und Salamander, dessen Haut die zurechtgestutzten Wahlkreise am Ende ähneln.
Afroamerikaner erhielten das Wahlrecht erst durch den 15. Verfassungszusatz von 1870. Dieser verbietet es den Bundesstaaten, Bürgern das Wahlrecht aufgrund der Rasse zu verweigern. Zahlreiche Staaten fanden jedoch Mittel und Wege, das Verbot zu umgehen – etwa durch auf Schwarze zugeschnittene Gesetze („Black Codes“), Schreib- und Lesetests sowie Wahlsteuern, um Afroamerikaner vom Wählen abzuhalten. Erst das Wahlrechtsgesetz („Voting Rights Act“) von 1965 erklärte solche Methoden für illegal.
Trotzdem kommt es in vielen republikanisch regierten Bundesstaaten immer noch zu Wählerverdrängung. Seit 2010 haben diese wieder Gesetze verabschiedet, die zum Beispiel die Eintragung ins Wahlregister2 erschweren und es vorbestraften Bürgern beinahe unmöglich machen, wählen zu gehen – was auf Wählergruppen abzielt, die tendenziell nicht die Republikaner wählen.
Vorreiter der „voter suppression“ in den USA ist Florida. Der Staat schuf bei der umstrittenen Präsidentschaftswahl im Jahr 2000, die George W. Bush am Ende äußerst knapp gegen Al Gore gewann, die Vorlage, um Afroamerikaner und Latinos ausschließen zu können. Damals waren Hunderttausende Bürger Floridas aus den Wählerverzeichnissen gestrichen worden, die meisten wegen Vorstrafen. Viele von ihnen waren jedoch nie wegen eines relevanten Vergehens verurteilt worden. „Tausende zweifelsfrei wahlberechtigte Bürger erschienen in den Wahllokalen und wurden dort daran gehindert, ihre Stimme abzugeben“, stellte die damalige Justizstaatssekretärin Pamela Karlan später in einem Aufsatz fest.3
2002 wurde als Reaktion auf solche Wahlhindernisse der „Help America Vote Act“, kurz Hava, verabschiedet. Dieses Gesetz regelt unter anderem, in welchen Fällen Wähler aus dem Wahlregister gestrichen werden dürfen. Trotzdem fliegen immer noch Leute aus den Registern: Kurz vor der Präsidentschaftswahl 2012 hat der Gouverneur von Florida, Rick Scott, 2700 Namen mit dem Argument aus der Wählerliste streichen lassen, sie könnten ausländische Staatsbürger und also nicht wahlberechtigt sein. 85 Prozent waren Latinos und Haitianer, die allermeisten von ihnen wahlberechtigte US-Bürger. Die Bürgerrechtsorganisation Advancement Project klagte erfolgreich gegen die Bereinigung des Wahlregisters, die ein Bundesgericht schließlich für illegal erklärte – da lag die Präsidentschaftswahl allerdings schon 18 Monate zurück und etliche andere Bundesstaaten hatten ihre Wahlregister schon nach dem Vorbild Floridas bereinigt.4
Begründet wird das stets mit der Behauptung, es gäbe Wahlfälschungen mit den Namen Verstorbener oder durch Leute, die versuchen, ihre Stimme mehrmals abzugeben, ebenso durch Einwanderer und ehemalige Straftäter, die massenhaft illegal an Wahlen teilnähmen. Solche Gerüchte kursieren unter Republikanern seit Jahren, obwohl es keinerlei Belege dafür gibt. Bei mehr als einer Milliarde Stimmen, die zwischen 2000 und 2014 in US-Wahlen auf allen politischen Ebenen abgegeben wurden, wurden nur 31 Fälle aktenkundig, bei denen Wähler sich für jemand anderen ausgaben.5
Mit mehr Stimmen weniger Abgeordnete
Im Juni 2013 hat der oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten einen wesentlichen Bestandteil des Wahlrechtsgesetzes von 1965 gekippt. Seither ist es insbesondere für die Südstaaten leichter, Einschränkungen des Wahlrechts zu verfügen. Der für verfassungswidrig erklärte Paragraf 5 sah vor, dass Bundesstaaten, in denen lange Rassentrennung geherrscht hatte, jegliche Änderung ihrer Wahlgesetzgebung von Washington absegnen lassen mussten. Seit diesem Urteil haben die Republikaner in den von ihnen regierten Staaten eine ganze Reihe von Gesetzen verabschiedet, die das Wahlrecht faktisch einschränken und von denen die meisten unter der alten Regelung wohl kaum durchgekommen wären.
Problematisch sind insbesondere jene neuen Gesetze, die von Wählern anstelle der bisher zulässigen Personaldokumente wie Führerschein, Studentenausweis, Waffenlizenz oder Bankbescheinigung die Vorlage eines amtlichen Lichtbildausweises verlangen. Texas erlangte hier mit seinem Gesetz von 2011 traurige Berühmtheit: So genügte ein Studentenausweis nicht, um damit wählen zu gehen, während die Vorlage einer Lizenz zum Tragen versteckter Waffen ausreichte.
Ein Bundesrichter kassierte das Gesetz 2012, weil Texas Befürchtungen nicht widerlegen konnte, dass Hunderttausende Schwarze und Latinos in Ermangelung eines erlaubten Ausweises von Wahlen ausgeschlossen geblieben seien. Doch dieses Urteil basierte allein auf Paragraf 5 des Wahlrechtsgesetzes, der ja inzwischen nicht mehr gilt. Texas konnte sein umstrittenes Gesetz wieder in Kraft setzen.
Auch North Carolina errichtete wenig später mit einem Gesetz über die erforderliche Vorlage von Ausweisen hohe Hürden. Es könnte 300 000 oder mehr Bürger des Staates betreffen, die weder einen Führerschein noch einen der wenigen anderen zugelassenen Ausweise besitzen. Außerdem soll es künftig nicht mehr möglich sein, sich noch am Wahltag ins Wahlregister eintragen zu lassen. Darüber hinaus schränkt das Gesetz die Möglichkeit der vorfristigen Stimmabgabe ein, von der Afroamerikaner und Latinos weitaus häufiger Gebrauch machen als Weiße. Der republikanische Gouverneur von Ohio, John Kasich, hat, um unliebsame Wähler abzuhalten, die Fristen zur vorgezogenen Stimmabgabe so drastisch verkürzt, dass es zu langen Schlangen und Wartezeiten vor den Wahllokalen kam.
Die US-Bundesstaaten müssen alle zehn Jahre eine Wahlkreisreform durchführen, die die in den regelmäßigen Volkszählungen erhobenen demografischen Veränderungen widerspiegelt. Bürgerrechtler werfen den in Texas und North Carolina verantwortlichen Republikanern vor, dass sie Afroamerikaner und Latinos – üblicherweise Anhänger der Demokraten – in möglichst wenigen Wahlkreisen zusammengefasst haben, wodurch diese weniger Abgeordnete nach Washington und in die Bundesstaatsparlamente entsenden können. Der große Stratege der Republikanischen Partei, Karl Rove, erklärte in einem Beitrag für das Wall Street Journal vom 4. März 2010, dass „wer die Wahlkreisreform kontrolliert, auch den Kongress kontrollieren kann“. Rove zufolge haben „die Republikaner aufgrund des Neuzuschnitts der Wahlkreise nach der Volkszählung von 1990 zwischen 25 und 30 Sitze dazugewonnen, ohne die sie 1994 niemals die Mehrheit im Repräsentantenhaus geholt hätten“.
Interessantes Anschauungsmaterial bietet auch North Carolina, wo die Demokraten bis zur Wahlkreisreform von 2011 in 7 der insgesamt 13 Wahlkreise bei den Kongresswahlen die Mehrheit hielten. Heute haben die Republikaner dank der von ihnen durchgeführten Reformen in 9 Wahlkreisen die Nase vorn. Sie entsenden somit die meisten Abgeordneten nach Washington – obwohl 51 Prozent der in dem Bundesstaat abgegebenen Stimmen an demokratische Kandidaten gingen. In Texas wiederum sank zwischen 2000 und 2010 der Anteil weißer Wähler an der gesamten Wählerschaft von 52 auf 45 Prozent – und trotzdem kontrollieren sie 70 Prozent der Wahlkreise.
Mehrere Bürgerrechtsorganisationen haben diese Bundesstaaten wegen rassistisch motivierten Gerrymanderings verklagt. Auch das US-Justizministerium hat sich in den Streit über die Wahlkreisreform in Texas eingemischt. Ein Bundesgericht hatte die Regierung von Texas bereits vor längerer Zeit für schuldig befunden, Minderheiten bewusst zu diskriminieren, indem sie diese in zu wenigen Wahlkreisen zusammenfasste.
Auch Florida muss sich für seine Wahlkreisreformen vor Gericht verantworten. Vor einigen Jahren hatte der Bundesstaat ein Gesetz über „gerechte Wahlkreise“ beschlossen, das vor allem durch das Engagement von Bürgern und Wählern zustande gekommen war und das die Schaffung „kompakter und zusammenhängender“ Flächen verlangt, durch die keine Partei bevorzugt wird. Konkret bedeutet das: Die Wohngebiete der Anhänger der Demokratischen Partei dürfen nicht zu wenigen, großen Wahlkreisen zusammengefasst werden, so dass die republikanischen Kandidaten in den übrigen Kreisen ohne nennenswerte Konkurrenz antreten.
Die Einwohner Floridas waren massenhaft zu öffentlichen Anhörungen gekommen, auf denen über Kriterien und Leitlinien für die „gerechten Wahlkreise“ verhandelt wurde. Eine zentrale Forderung der Bürger lautete, dass die Wahlkreisgrenzen nicht mitten durch Städte und Landkreise verlaufen sollten. Denn wenn ein Stadtteil dem einen, der Rest der Stadt einem anderen Wahlkreis zugeordnet wird, ist das erfahrungsgemäß meist ein Anzeichen für Gerrymandering, erst recht wenn die Gemeinde entlang ethnischer Grenzen gespalten ist.
Organisationen wie die „League of Women Voters“ und andere Wahlrechtsaktivisten kritisieren nun, dass die jüngste Wahlkreisreform in Florida diesem Gesetz zuwiderlaufe. Das lässt sich beispielsweise in Saint Petersburg beobachten. Der südliche Teil der Stadt an der Westküste Floridas gehört zum Kongresswahlkreis 14, der Rest der Stadt zu Wahlkreis 13. Im Wahlkreis 13 fehlten der demokratischen Kandidatin Alex Sink bei der Nachwahl im März nur 4 000 Stimmen. Gegenüber Journalisten erklärte Sink, warum ein Sieg in diesem Wahlkreis so schwierig ist: „Eigentlich steht es hier zwischen Demokraten und Republikanern 50 zu 50. Aber wegen Gerrymandering neigt der Wahlkreis trotzdem nach rechts.“6
Eine gerechte Aufteilung der Wahlkreise ist nicht zuletzt deshalb so schwierig, weil in den USA Hautfarbe und Klassenzugehörigkeit so eng mit den politischen Parteien verknüpft sind. Ethnische Minderheiten und ärmere Bevölkerungsschichten stimmen traditionell für die Demokraten, während vor allem weiße, wohlhabende Männer den Republikanern die Treue halten. Und da die Wahlkreise nicht durch ethnische oder soziale Grenzen, wohl aber nach politischen Präferenzen bestimmt werden dürfen, können die Parteien behaupten, die von ihnen gezogenen Wahlkreisgrenzen entsprächen einzig und allein parteipolitischen Kriterien. Auch die Demokraten tun das, die Republikaner jedoch weitaus häufiger und systematischer.7
Bislang zeichnet sich keine einfache Lösung für das Problem ab. Vielleicht werden ja die laufenden Gerichtsverfahren in North Carolina, Texas und Florida Ende dieses Jahres oder nächstes Jahr mehr Klarheit bringen. Die Kongresswahlen im November 2014 werden jedenfalls längst vorbei sein, wenn die Verfahren über die Ausweispflicht in diesen Staaten abgeschlossen sein werden. Dann wird sich herausstellen, ob Bundesstaaten einen Teil der Wahlberechtigten dadurch diskriminieren dürfen, dass sie für die Stimmabgabe die Dokumente verlangen, die viele Amerikaner nur selten besitzen und sich zur Ausübung eines Bürgerrechts mühsam beschaffen müssen.