Zone, Lager und Gefängnis
Im Westjordanland dient die palästinensische Polizei als ausführendes Organ der Besatzunspolitik von Olivier Pironet
In Nablus überfällt uns ein scharfer Geruch nach verbranntem Gummi. Rauchschwaden behindern die Sicht. Die Straße ist von Steinen übersät. In unserem Gruppentaxi fahren wir langsam an ein paar Dutzend Jugendlichen vorbei, die gegen den Mord an dem Händler Alaa Awad protestieren. Der 30-jährige Vater von zwei Kindern wurde zwei Tage zuvor von israelischen Soldaten erschossen, als er zu Fuß am Checkpoint von Zaatara1 vorbeikam. Er wollte in der Nähe eine Lieferung Mobiltelefone abholen. „Sie behaupten, er habe auf sie geschossen und sie hätten das Feuer erwidert, aber das ist nicht wahr. Sie erzählen, was ihnen passt. Das machen sie immer so“, schimpft der Taxifahrer und die Mitfahrer nicken. Ein paar hundert Meter entfernt, in ihren dicken gepanzerten Jeeps vor Steinwürfen geschützt, beobachten israelische Soldaten die Jugendlichen mit spöttischem, aber wachsamem Blick. Später lösen sie eine Demonstration mit Tränengasgranaten auf.
Die Jugendlichen kommen zum Teil aus dem benachbarten Flüchtlingslager Balata. Dort treffen wir Fayez Arafat. Der 50-jährige Vater von neun Kindern leitet das Kulturzentrum Jaffa, das den Jugendlichen im Lager soziale, pädagogische und psychologische Unterstützung anbietet und versucht, sie für das Thema Rückkehrrecht der palästinensischen Flüchtlinge zu sensibilisieren. Das Lager Balata entstand 1950. Damals sollte es die Dorfbewohner aufnehmen, die aus der Gegend um Jaffa bei Tel Aviv vertrieben worden waren. Heute liegt es in Zone A, die von der Palästinensischen Autonomiebehörde zwar offiziell „regiert“ wird (siehe Kasten), wo aber die israelische Armee – unter Missachtung des Oslo-Abkommens – nach Gutdünken eingreift.
In Batala begegnet man all den Problemen, unter denen die meisten palästinensischen Flüchtlinge leiden: Armut (55 Prozent der Bewohner), Arbeitslosigkeit (53 Prozent, davon 65 Prozent junge Leute mit abgeschlossener Berufsausbildung), ungesunde Lebensverhältnisse. Auf einem Quadratkilometer drängen sich fast 25 000 Einwohner, von denen 60 Prozent unter 25 Jahre alt sind. Das ist selbst für das dicht besiedelte Westjordanland ein Rekord. Sie hausen in winzigen, übereinandergebauten Betonwürfeln an staubigen Gassen, von denen manche nicht mal einen Meter breit sind, so dass kaum Tageslicht hineinkommt.
Seit 1976 kämpft das Lager gegen die Besatzungspolitik und wird deshalb von den Israelis streng kontrolliert. Für sie ist es eine „Hochburg des Terrorismus“ und musste dafür in den letzten Jahren einen hohen Tribut zahlen: „Seit Beginn der zweiten Intifada (2000 bis 2005) gab es etwa 400 Tote und Tausende Verletzte. Fast 300 Bewohner des Lagers sitzen derzeit in Israel im Gefängnis“, berichtet Arafat, der selbst mehrfach verhaftet wurde. Regelmäßig wird Balata von Soldaten gestürmt, um „alle zu verhaften, die an Demonstrationen teilgenommen haben oder wegen politischer Aktivitäten gesucht werden, oder einfach, um das Viertel zu ,sichern‘. Als Rechtfertigung verweisen sie dann darauf, dass nicht weit entfernt das Grab des Propheten Yusuf liegt“, der von Muslimen und Juden (siehe Josefserzählung, Gen 37 ff.) gleichermaßen verehrt wird.
Die von der Besatzungsarmee und den Siedlern gepeinigten Bewohner sind „am Ende“, schimpft Arafat. „Wenn die Israelis hier auftauchen, um Häuser zu durchsuchen oder Aktivisten festzunehmen, versuchen wir dazwischenzugehen, aber wir sind ohnmächtig. Es gibt hier zwar noch Waffen, aber die Leute benutzen sie nicht mehr. Die palästinensische Polizei müsste uns vor den Siedlern schützen, die um Nablus besonders zahlreich und besonders aggressiv sind, aber sie tut gar nichts.“
Zur Kooperation verpflichtet
Nach den israelisch-palästinensischen Sicherheitsabkommen von 1993 darf die palästinensische Polizei gegen Angriffe von Siedlern nicht vorgehen – das dürfen nur die israelischen Behörden. Und sie muss auch beim Aufspüren und bei der Verhaftung palästinensischer Aktivisten kooperieren, die eine „potenzielle Gefahr“ für Israel darstellen. Dazu gehören vor allem Angehörige der Hamas, des Islamischen Dschihad und der linksextremen Volksfront für die Befreiung Palästinas (PFLP), aber auch Abtrünnige der Fatah, der Partei des Präsidenten der Autonomiebehörde, Mahmud Abbas. „Die Besatzungsarmee, die Siedler, aber auch die palästinensischen Sicherheitskräfte üben einen permanenten Druck aus. Kein Wunder, dass die Leute wütend sind“, sagt Arafat. „Wir sind wie ein Vulkan kurz vor dem Ausbruch. Am Ende werden vielleicht die Verantwortlichen der Sulta [Autonomiebehörde auf Arabisch] dafür zahlen. In unseren Augen haben die jeden Kredit verspielt.“
Den gleichen Zuständen begegnen wir im Flüchtlingslager Aida in Bethlehem, einer 400 Hektar großen Enklave hinter der von Israel gebauten Grenzmauer, die einen Großteil der Stadt umfasst und bis zu acht Meter hoch ist. Hier leben ungefähr 6 000 Menschen, mehr als die Hälfte sind unter 25 Jahre alt. Letztes Jahr haben Jugendliche aus dem Lager einen der Wachtürme angezündet. „150 unserer jungen Leute, darunter ein 13-jähriger Junge, sitzen derzeit in den israelischen Kerkern; die Häftlinge, die schon seit Jahrzehnten dort dahinvegetieren, nicht mitgezählt. Während der Zweiten Intifada wurden auch viele Kader und Widerstandskämpfer verhaftet“, erzählt Nidal al-Azraq, Koordinator im Flüchtlingszentrum von Aida. Sein älterer Bruder wurde 2013 nach 23 Jahren Haft entlassen. Fast jede Nacht führt die israelische Armee in Aida ihre Operationen durch.
Unter Missachtung der Oslo-Verträge haben die Besatzungsbehörden vor ein paar Monaten beschlossen, Aida statt in Zone A in Zone C einzuordnen, also unter ihre alleinige Kontrolle zu stellen. Dann haben sie das Lager zur „geschlossenen Militärzone“ erklärt. Die palästinensische Polizei darf es weder betreten noch davor patrouillieren. Aber selbst wenn sie es könnte, würde auch ihnen die Feindseligkeit der Flüchtlinge entgegenschlagen.
Das Ansehen der Polizei hat in den letzten Jahren stark gelitten, vor allem wegen der vielen Verhaftungen von Oppositionellen, „manchmal direkt auf Anweisung der Israelis“, sagt der Leiter des Flüchtlingszentrums, Salah Ajarma, der das erste Mal im zarten Alter von 14 Jahren ins Gefängnis kam. „Wie sollen wir denen noch vertrauen, wenn sie vom guten Willen der Besatzer abhängig sind und selbst eine Bedrohung für uns darstellen?“ Anfang 2013 haben die Lagerbewohner den Polizeiposten von Aida zerstört und die Polizisten verjagt. „Uns kommt es schon so vor, als wäre der einzige Unterschied zu den israelischen Soldaten die Fahne, unter der sie dienen“, stellt Ajarma resigniert fest.
Solche Worte stoßen in der palästinensischen Gesellschaft und auch innerhalb der Fatah auf ein großes Echo. Die Zusammenarbeit zwischen der palästinensischen Polizei und der israelischen Armee soll trotzdem fortgesetzt werden, wie Abbas am 28. Mai bei einem Treffen von israelischen Friedensaktivisten, Journalisten und Geschäftsleuten in Ramallah versicherte: „Die Koordinierung in Sicherheitsfragen wird nicht angetastet. Und sie wird weitergehen, ob wir mit den Israelis nun uneins sind oder nicht.“2 Diese Äußerungen haben ihm etliche Fatah-Funktionäre übel genommen.
Die bilaterale Zusammenarbeit wurde in den Oslo-Abkommen festgeschrieben: Am 4. Mai 1994 unterzeichneten der damalige PLO-Chef Arafat und Israels Ministerpräsident Rabin in Kairo den Autonomievertrag (Oslo I), mit dem die Selbstverwaltung der Palästinenser im Gazastreifen und in Jericho in Kraft trat. Am 28. September 1995 folgte ein Interimsabkommen (Oslo II) über die Ausweitung der Autonomie im Westjordanland. Darin heißt es, die palästinensischen Ordnungskräfte müssten „systematisch gegen jede Anstiftung zu Terrorismus und Gewalt [gegen Israel] vorgehen, jeglichen Akt von Feindseligkeit [gegen die Siedlungen] verhindern und [ihre] Aktivitäten [mit der israelischen Armee] koordinieren“, vor allem durch Informationsaustausch und gemeinsame Operationen.
Während der Zweiten Intifada wurde die Vereinbarung ausgesetzt, dann aber von Abbas nach seinem Aufstieg an die Spitze der Autonomiebehörde am 9. Januar 2005 wieder aufgenommen. Mit der Reform der Sicherheitsdienste durch den früheren Ministerpräsidenten Salam Fayyad (2007 bis 2013) erhielt sie neuen Schwung.3 Den verschiedenen, völlig überdimensionierten Polizeidienststellen gehören etwa 30 000 Mann an – das ist ein Polizist auf 80 Einwohner und eine der höchsten Quoten der Welt.
Unter Aufsicht der US-Amerikaner wurde die Polizei umgestaltet, Spezialeinheiten wurden gebildet und mit modernen Fahrzeugen, Hightech-Geräten und Spezialwaffen ausgerüstet. Die Sicherheitskräfte, zum Teil von Washington und der EU finanziert4 , schlucken über 30 Prozent des Jahresbudgets der Autonomiebehörde (2014: 3,2 Milliarden Euro) – mehr als Bildung, Gesundheit und Landwirtschaft zusammen.5 „Sie sind die treibende Kraft in der Autonomiebehörde“, erklärt der palästinensische Soziologe Sbeih Sbeih. „Die Oslo-Verträge haben sie zu einer Filiale der israelischen Besatzung gemacht.“ Und das war wohl auch eines der Ziele. 1993 hat Israels Ministerpräsident Jitzhak Rabin ganz offen gesagt, dass die Übertragung bestimmter Sicherheitsaufgaben an die Palästinenser, „die israelische Armee – und das ist das Wichtigste – davon befreien [sollte], diese selbst ausführen zu müssen“.6
Der frühere palästinensische Innenminister Said Abu Ali, der von 2009 bis 2014 für die Kooperation mit Israel verantwortlich war, sieht das ganz anders. Von der Zusammenarbeit hätten beide Seiten gleichermaßen profitiert, sagt er bei einem Gespräch in seinem Büro in Ramallah. „Dank der Anstrengungen, die wir in den letzten Jahren unternommen haben, um die Ordnung wiederherzustellen, konnten wir eine gewisse Stabilität im Westjordanland sichern und Terrorismus und Extremismus eindämmen. Manche verurteilen die Zusammenarbeit mit Israel oder werfen uns ,Kollaboration‘ vor, aber das ist völlig falsch. Unser Ziel besteht darin, einen Staat zu errichten, und die Sicherheit ist einer der Grundpfeiler.“
Die Zahlen sprechen allerdings nicht für mehr Stabilität und Sicherheit: 2013 hat die israelische Armee im Westjordanland in etwa 4 000 Einsätzen über 4 600 palästinensische Zivilisten verhaftet. Ungefähr 30 wurden getötet. Im selben Jahr nahmen die Gewalttaten der Siedler (399 Zwischenfälle) gegenüber 2012 um 8 Prozent zu. Es gab etwa 100 Verletzte, die meisten waren palästinensische Bauern.7 Auch der palästinensischen Polizei werden – ebenso wie der Polizei im von der Hamas kontrollierten Gazastreifen – immer wieder Übergriffe und willkürliche Verhaftungen politischer Gegner vorgeworfen.
Israel stimmt jedes Jahr mehrere hundert Militäreinsätze mit den palästinensischen Behörden ab.8 „Diese Sicherheitspolitik, die unsere Regierung mit dem künftigen Staat rechtfertigt, dient in Wirklichkeit dazu, der internationalen Gemeinschaft, von der die Autonomiebehörde finanziell abhängig ist, Garantien zu geben und jede Unruhe im Keim zu ersticken“, erklärt Abahaer El-Sakka, Professor für Soziologie an der Universität von Bir Zait (Ramallah). „Aber die Folge ist, dass bei immer mehr Palästinensern die Wut wächst.“
Hinzu kommt die soziale Misere. Die liberale Wirtschaftspolitik unter Ministerpräsident Fayyad führte 2011 und 2012 zu heftigen Protesten. Fayyads Reformen, unterstützt vom Internationalen Währungsfonds, der Weltbank und den Geberländern, starteten 2007. Im Namen von Wirtschaftswachstum und der Anwerbung von Investoren hat der frühere Ministerpräsident dem kleinen Land eine „Schocktherapie“ verordnet: Streichung von 40 000 Beamtenstellen (derzeit etwa 150 000), Abbau der Sozialausgaben, Lohnsenkungen, Umbau der Sozialversicherung, Reform des Bankensektors und so weiter. Diese Maßnahmen haben die Ungleichheit verschärft, Arbeitsplätze zerstört und die Lebenshaltungskosten in die Höhe getrieben.
An der Entwicklung gehindert
Der Aufschwung vor sechs Jahren (7 Prozent Wachstum) infolge der Auslandshilfe, deren Umfang die Hälfte des Budgets der Autonomiebehörde abdeckt, war kurz und trügerisch. Der von westlichen Experten bejubelte „Wirtschaftsboom“ des „palästinensischen Tigers“ mündete in einer nie dagewesenen Finanzkrise, als 2010 die Beiträge der Geldgeber versiegten. 2013 sank die Wachstumsrate auf 1,5 Prozent. Die Arbeitslosenquote ist extrem hoch (je nach Quelle zwischen 20 und 30 Prozent im Westjordanland und über 40 Prozent in Gaza), und fast ein Viertel der Bevölkerung ist von Armut betroffen (20 Prozent der Palästinenser im Westjordanland müssen mit weniger als 1,50 Euro pro Tag auskommen). Nur die Einkommen der Reichsten sind zwischen 2007 und 2010 um 10 Prozent gestiegen.9
„Die Wirtschaft des Landes liegt überwiegend in den Händen weniger mächtiger Familien und Neureicher“, erklärt El-Sakka. „Ihre Unternehmen kontrollieren die Telekommunikation, das Bauwesen, den Energiesektor, die Nahrungsmittelindustrie und so weiter. Einige investieren auch auf dem israelischen Markt und sogar im Siedlungsbau. Im Gegenzug gewährt ihnen Israel die gleichen Privilegien, wie sie die Minister der Autonomiebehörde genießen, etwa an Militärsperren.“10 Diese VIPs, die in ihren nagelneuen Autos durch das kleine Land kutschieren, wohnen vor allem in den schicken Vierteln von Ramallah, meilenweit von der Welt der benachbarten Flüchtlingslager entfernt.11
Obendrein behindern die Besatzung, die Sperranlagen und ein Netz von Kontrollpunkten die wirtschaftliche Entwicklung des Westjordanlandes. Im Rahmen des Pariser Protokolls (1994), dem Wirtschafts- und Finanzteil der Oslo-Verträge, kontrollieren die Israelis auch die wirtschaftlichen Aktivitäten der Palästinenser, die 70 Prozent der Waren aus Israel importieren und mehr als 85 Prozent ihrer Produkte dorthin ausführen. Die Behörden in Tel Aviv kassieren manchmal auch die Zölle, die der Autonomiebehörde zustehen. „Wir sind einer doppelten Besatzung unterworfen, militärisch und wirtschaftlich“, beklagt Sbeih Sbeih. „Die Sicherheitspolitik und die wirtschaftliche Unterdrückung sind zwei Seiten derselben Logik, die seit Oslo am Werk ist.“
Naba Alassi wohnt im Flüchtlingslager Dheisheh (Bethlehem). Ein Freund, der bei einer Demonstration von israelischen Soldaten erschossen wurde, ist in seinen Armen gestorben. Der 30-Jährige schimpft über die Autonomiebehörde und ihre Günstlinge: „Die Eliten und die Kapitalisten von Ramallah, die in ihren dicken Autos herumfahren, vertreten uns gar nicht! Sie behandeln uns als ‚Terroristen‘ und ‚Extremisten‘, obwohl wir nur Widerstand gegen die Besatzung leisten. Wir müssen die Autonomiebehörde auflösen. Sie ist zu nichts gut, außer zu vergeblichen Verhandlungen, die sind im Grunde ihre einzige Daseinsberechtigung, ihr Business!“
Seit zwanzig Jahren haben Gipfeltreffen, Konferenzen, Runde Tische und diplomatische Rundreisen nur Grundsatzerklärungen, internationale Resolutionen und feierliche Versprechen hervorgebracht. Aber es sind immer tote Buchstaben geblieben. „Wozu sollen wir den Dialog mit unseren Feinden fortsetzen, mit strahlendem Lächeln neben ihnen auf Fotos für die ,internationale Gemeinschaft‘ posieren und ihnen die Hände schütteln, wenn sie weiter die Macht über unser Gebiet ausüben? Wem nützen diese Verhandlungen, außer den Israelis?“, fragt Ajarma im Flüchtlingslager Aida. „Wir müssen uns jedes Mal mit ein paar Krümeln begnügen, die man uns hinwirft, und uns brav bedanken. Die Frage eines unabhängigen Staats stand bei den letzten Gesprächen nicht einmal auf der Tagesordnung, als sei die Besatzung eine Selbstverständlichkeit“, ergänzt Abdelfattah Abusrur, der im Lager das Kulturzentrum al-Rowwad leitet. Die letzten Gespräche (Juli 2013 bis April 2014) unter Vermittlung von US-Außenminister Kerry wichen nicht von der Regel ab.12 Kein Wunder, denn Israel hatte sich geweigert, den Siedlungsneubau in den besetzten Gebieten einzufrieren, und Washington hatte darauf verzichtet, Druck auf Tel Aviv auszuüben.
Zur Intifada verdammt
„Die USA haben seit Oslo kein einziges Abkommen zustande gebracht, und von einer israelischen Regierung, die ganz und gar auf der Seite der Siedler steht, ist nichts zu erwarten“, meint Nabil Shaath, ein hoher Fatah-Funktionär und früherer Chefunterhändler. Er hat an den Friedensverträgen, insbesondere an den Abschnitten über die Sicherheit, mitgeschrieben. „Noch bevor die Gespräche wieder aufgenommen wurden, habe ich Mahmud Abbas meine Vorbehalte dargelegt und ihn gefragt, warum er unter diesen Bedingungen bereit sei, an den Verhandlungstisch zurückzukehren. ‚Ich habe keine Wahl‘, hat er mir geantwortet.“ Auch Hassan Yousef, ein Hamas-Führer im Westjordanland, den wir in Ramallah kurz vor seiner Verhaftung durch die Israelis am 16. Juni 2014 getroffen haben, versichert: „Wir waren absolut gegen die Wiederaufnahme der Verhandlungen. Israel nutzt sie, um uns zu manipulieren und vor Ort vollendete Tatsachen zu schaffen.“
Der Siedlungsbau, die andauernde militärische Besatzung, die gescheiterten Verhandlungen und das schlechte Ansehen der Autonomiebehörde nähren Spekulationen über eine dritte Intifada. Zurzeit sehe es aber nicht danach aus, meint Professor El-Sakka. Das hat drei Gründe: Erstens versuchen die palästinensischen Sicherheitskräfte um jeden Preis zu verhindern, dass ein allgemeiner Aufstand ausbricht, deshalb lassen sie auch vereinzelte Demonstrationen zu. Zweitens ist das palästinensische Lager nach wie vor gespalten. Daran hat auch die im Juni 2014 aus der „Versöhnung“ von Fatah und Hamas hervorgegangene Einheitsregierung nichts geändert. Und drittens fehlt es an konkreten Projekten und politischen Strategien, um die palästinensische Bevölkerung zu mobilisieren. „Unsere einzige Hoffnung ist derzeit die weltweite Kampagne für einen Boykott gegen Israel13 und vielleicht die Möglichkeit, juristische Instanzen wie den Internationalen Strafgerichtshof anzurufen“, meint El-Sakka. „Ein Funken, ein Schlüsselereignis genügt, und es bricht eine neue Intifada aus.“
„Wir sind zur Intifada verdammt“, sagt auch Ayman Abu Sulof, ein früherer Aktivist der PFLP, der zwischen 1989 und 1993 sechsmal im Gefängnis saß. Heute ist er Touristenführer und Dolmetscher. Sein Haus steht in Bait Sahur, einer Kleinstadt östlich von Bethlehem, deren Einwohner mehrheitlich Christen sind. Gegenüber liegt die jüdische Siedlung Har Homa – auf einem Grundstück, das eigentlich zu Bait Sahur gehört. Die Betonfestung erhebt sich auf dem Gipfel des einst bewaldeten Hügels. Hier hat er als Kind gespielt. 1997 haben die Israelis das Gelände besetzt und den Wald abgeholzt.
Bethlehem ist von rund zwanzig jüdischen Siedlungen eingekreist. Und die werden immer größer. „Sie bauen, aber wir bauen auch, und wir werden weiter bauen“, sagt Abu Sulof und schaut auf das Tal voller Olivenbäume. „Wir bleiben hier, auf diesem Land, wo wir geboren sind und wo unsere Vorfahren gelebt haben. Wir klammern uns daran fest, gegen alles und jeden. Dieser Kampf ist unser Alltag.“
Begrenzte Autonomie
Das israelisch-palästinensische Interimsabkommen vom 28. September 1995, bekannt als Oslo II, teilte das Westjordanland in drei Zonen auf:
– Zone A (18 Prozent des Territoriums) untersteht vollständig der Palästinensischen Autonomiebehörde.
– In Zone B (21 Prozent des Territoriums) regelt die Autonomiebehörde alle zivilen Angelegenheiten, für die Sicherheit sind die Israelis zuständig.
– Zone C (61 Prozent des Territoriums) wird ausschließlich von den Israelis kontrolliert. Die jüdischen Siedlungen – außer Ostjerusalem – liegen in Zone C. Die große Mehrheit der Palästinenser lebt in Zone A und B.