Arbeitskampf in Dongguan
Der Traum von einem sozialdemokratischen China von Han Dongfang
Dongguan in Südchina ist ein wichtiges Industriezentrum: Computer, Textilien und um die 2 000 Schuhfabriken. Auch einer der größten Schuhproduzenten weltweit, die Firma Yue Yuen, lässt dort für große westliche Marken wie Nike, Adidas und Converse arbeiten. Im April dieses Jahres streikten in diesem Betrieb über 40 000 Beschäftigte. Der Arbeitskampf begann, als die Arbeiter entdeckten, dass der taiwanische Mutterkonzern von Yue Yuen, Pou Chen, seit zehn Jahren keine Arbeitgeberbeiträge zur Sozialversicherung mehr gezahlt hatte. Die Beiträge werden normalerweise an einen Fonds überwiesen, den die örtliche Verwaltung kontrolliert. Die Bezirksregierung von Dongguan wusste also Bescheid. Aber sie hatte beide Augen zugedrückt und gehofft, dass niemand es merken und, falls doch, keine Scherereien machen würde.
Doch es kam anders: Als ein paar Arbeiter Wind von der Sache bekamen, geriet die Situation schnell außer Kontrolle. Die Behörden wussten bald nicht mehr, was tun: Zwar gab es fast jeden Tag einen Ausstand in der Stadt, aber der Streik bei Yue Yuen war sehr viel größer als alle bisherigen und zog die Aufmerksamkeit der nationalen und internationalen Medien auf sich. Die Bezirksregierung verfügte über keinerlei Instrumente, einen solchen Konflikt beizulegen. Es gab in der Fabrik zwar eine Gewerkschaft, aber die rührte sich nicht. Die Arbeiter hatten keine offiziellen Vertreter, die Beschwerden bei der Direktion vorbringen oder Verhandlungen hätte fordern können. Eine chinesische NGO, das Shenzen Chunfeng Labour Dispute Center, das für Arbeiterrechte eintritt, half den Arbeitern, die Wahl von Delegierten zu organisieren und eine Liste mit Forderungen zu erarbeiten. Doch die Proteste wurden schnell so groß und vielfältig, dass die lokale Gruppe mit ihren drei Mitgliedern überfordert war.
Die Streikenden baten daraufhin die Provinzgewerkschaft um Hilfe, die zum Gesamtchinesischen Gewerkschaftsverband (All-China Federation of Trade Unions, ACFTU) gehört. Der Verband hat 900 000 hauptamtliche Mitarbeiter und verfügt über beträchtliche Ressourcen. Wider Erwarten reagierte die Provinzgewerkschaft positiv und versprach über Weibo (Chinas Twitter) Unterstützung. Doch um Zehntausende Arbeitnehmer vertreten und soziale Konflikte lösen zu können, die leicht eskalieren, braucht man viel Erfahrung – und die besitzen Gewerkschaftsfunktionäre in China nicht. Außerdem hatten die Arbeiter von Dongguan kein wirkliches Vertrauen zur Gewerkschaft.
Die Bezirksregierung brachte immerhin die Geschäftsführung von Yue Yuen dazu, die ausstehenden Sozialversicherungsbeiträge zu bezahlen und die Arbeiter zusätzlich für die höheren Arbeitnehmerbeiträge zu entschädigen. Die Behörden hielten das für einen gelungenen Kompromiss – im Gegensatz zu den Streikenden selbst, die systematisch von allen Verhandlungen ausgeschlossen blieben.
Einer der Arbeiter erklärte: „Das Problem mit der Sozialversicherung war nur der Auslöser. Die Arbeiter haben das Thema aufgegriffen, um ihrem Ärger Luft zu machen. Aber im Grunde geht es um die Löhne.1 Jedes Mal, wenn die örtlichen Behörden den Mindestlohn erhöht haben, hat Yue Yuen unsere Zulagen um denselben Betrag gekürzt. Lange Zeit haben wir unsere Wut hinuntergeschluckt.“2 Die Bezirksregierung ignorierte den Unmut der Belegschaft und setzte sie unter Druck, die Vereinbarung mit dem Arbeitgeber anzunehmen: Sie ließ die Streikenden durch Polizisten umzingeln und in der Fabrik festhalten, bis sie schließlich wieder an die Arbeit gingen.
Rückblickend hat es hier nur Verlierer gegeben: Die Arbeitnehmer konnten ihre Forderungen nicht durchsetzen, die Firma musste 37 Millionen Dollar Bußgeld plus die rückständigen Sozialbeiträge zahlen, und die lokale Regierung hat jegliches Vertrauen bei den Arbeitern verspielt. Ein solches Ergebnis wäre vermeidbar gewesen, hätte es eine funktionierende Arbeitnehmervertretung gegeben.
Langer Marsch zum Rechtsstaat
Wie so etwas aussehen kann, zeigte sich in der Kleinstadt Changde, 900 Kilometer nördlich von Dongguan, wo sich etwa zeitgleich mit dem Streik bei Yue Yuen eine Gruppe von Angestellten, die ihre Arbeit bei Walmart verloren hatten, zur Wehr setzte. Es mag überraschen, dass der mächtige US-Konzern, der als Feind jeder gewerkschaftlichen Organisation bekannt ist, überhaupt Belegschaftsvertreter in seinen chinesischen Supermärkten zuließ. Doch bei Walmart wusste man, dass die von der ACFTU entsandten Gewerkschafter nicht die Arbeitnehmer verteidigen, sondern eher der Firmenleitung dienen würden. In den ersten acht Jahren funktionierte das auch. Walmart konnte nach Belieben Supermärkte eröffnen oder schließen, Personal einstellen oder entlassen, ohne dass die Gewerkschaftsvertreter einen Finger rührten.
Am 5. März 2014, als die Filiale Nr. 2 024 in Changde geschlossen werden sollte, wurde den Beschäftigten wie üblich mit einer Frist von nur zwei Wochen gekündigt; sie hatten die Wahl zwischen einer lächerlichen Abfindung und einem Job in einem anderen, über 100 Kilometer entfernten Supermarkt. Dem Gewerkschafter Huang Xingguo wurde dagegen ein neuer Arbeitsplatz und eine gute Übergangsprämie angeboten. Zur Überraschung der Firmenleitung lehnte Huang nicht nur das Angebot ab, sondern berief auch eine Belegschaftsversammlung ein. Die fasste den Beschluss, in den Streik zu treten. Huang und seine Kollegen bildeten Streikposten und forderten auf Transparenten eine „gerechte und angemessene“ Abfindung.3 Außerdem forderte Huang in seiner Funktion als Gewerkschaftsvorsitzender ganz offiziell Tarifverhandlungen.
Die örtlichen Behörden erklärten, der Schließungsplan von Walmart sei gesetzmäßig, die Aktion der Angestellten dagegen illegal. Huang berichtet von Einschüchterungsversuchen: „Mein Chef erklärte mir, dass mich die Polizei jederzeit festnehmen könne, wenn ich mich nicht an das Gesetz halte, wenn ich die Sache zum Platzen bringe und den Umzug der Filiale behindere. ‚Sie sind der Anführer‘, sagte er, ‚Sie haben die Verantwortung.‘ Genauso ist es: Ich habe Verantwortung übernommen. Ich habe mich entschlossen, die Rechte der Arbeiter bis zum bitteren Ende zu verteidigen.“4 Als die Polizei kam, um die Streikenden vor die Tür zu setzen, stellten sie sich draußen auf und posteten regelmäßig ihre Aktionen in den sozialen Netzwerken.
Am Ende bekamen Huang und seine Kollegen zwar nicht die Abfindungen, die sie sich gewünscht hatten. Dennoch haben sie einen wichtigen Sieg davongetragen: Sie haben den Beweis erbracht, dass in China Beschäftigte und Gewerkschaften gemeinsam vorgehen können, selbst wenn die Gewerkschaft zu dem oft verspotteten Dachverband ACFTU gehört.5
China hat sich verändert. Wie die Streiks bei Yue Yuen, Walmart und andere Arbeitskämpfe zeigen, sind die Arbeiter inzwischen nicht mehr nur Opfer politischer Unterdrückung, sondern selbst handelnde Akteure, die diese Veränderung vorantreiben können.6 Dem werden sich Gewerkschaften, Arbeitgeber und Behörden notgedrungen anpassen müssen. Die Staatsmacht wird begreifen müssen, dass sie die Probleme nicht lösen kann, indem sie die Protestierenden einsperrt – Streikführer wandern meist für ein paar Tage hinter Gitter, manche auch für länger7 – und die Ursachen der Konflikte weiterhin ignoriert. Die Unternehmen werden lernen müssen, zu verhandeln und ihren Beschäftigten auf Augenhöhe zu begegnen; und die Gewerkschaften den Arbeitern die Unterstützung in Arbeitskämpfen zu bieten, die diese brauchen.
Die ACFTU gilt zu Recht als Marionettenorganisation, da sie sich mehr um ihre eigenen Interessen kümmert als um die der Arbeitnehmer, die sie angeblich vertritt. Doch das heißt noch lange nicht, dass man den Verband einfach abschaffen sollte. Am wirkungsvollsten wäre es sicher, wenn die Arbeiter selbst Druck machten, damit sich der Koloss verändert. Diejenigen, die für die Rechte der abhängig Beschäftigten eintreten, stehen also vor der Alternative: Wollen sie zu einer solchen Reform der Gewerkschaften beitragen oder ihr im Weg stehen?
Chinesische Unternehmen funktionieren wie Miniaturmodelle der Gesamtgesellschaft: extrem hierarchisch aufgebaut, streng und autoritär geführt. Das führt unvermeidlich zu Spannungen und manchmal zu Gewalt, denn diejenigen, die Macht besitzen, missbrauchen sie systematisch für ihre eigenen Zwecke und kümmern sich wenig um die Bedürfnisse der Menschen, die im Rang unter ihnen stehen – zumindest so lange, bis diese die Nase voll haben und aktiv werden.
Wenn die Unternehmensstrukturen demokratischer werden, wenn es zu kollektiven Verhandlungen und einer echten gewerkschaftlichen Vertretung kommt, dann wird es natürlich auch weniger Unterdrückung geben. Die Beschäftigten werden mehr Vertrauen entwickeln und eher die Instrumente nutzen, mit denen sie ihre Konflikte friedlich beilegen können, anstatt gleich in die Konfrontation zu gehen.
Dieser Wandel wird sicher langsam, an verstreuten Orten und vielleicht auch chaotisch vonstatten gehen. Aber die Arbeiterbewegung und die Gewerkschaften werden über kurz oder lang Einfluss gewinnen, nicht nur auf die Löhne und Arbeitsbedingungen, sondern auch auf die gesamte Gesellschaft. Es wäre schon sehr viel erreicht, wenn ein Drittel der Arbeitnehmer Chinas – das wären immerhin 200 Millionen Menschen – sich auf die Unterstützung von demokratisch geführten Gewerkschaften verlassen könnte, die ihre Mitglieder wirklich vertreten und in ihrem Interesse Verhandlungen mit den Arbeitgebern führen.
25 Jahre nach dem Ende des Kalten Kriegs kann man die Welt politisch nicht mehr so einfach in Gut und Böse einteilen. In China bleibt viel zu tun. Doch wer Veränderung will, wird mit lauten antikommunistischen Slogans und der Forderung, China zu einer Demokratie nach westlichem Vorbild umzukrempeln, nicht weit kommen. Man muss vor Ort, in der jeweiligen Situation, konkrete Lösungen für die Probleme der Arbeiternehmer finden. Eine starke Gewerkschaftsbewegung, die im Betriebsalltag präsent ist, vermag den Unternehmen den Geist der Demokratie einzuhauchen.
Wenn Firmenleitungen, Gewerkschaften und Beschäftigte dann gemeinsam umdenken lernen und zu neuen Aktionsformen finden, wird dies auch die Demokratisierung der Gesellschaft insgesamt voranbringen und die Autokraten zurückdrängen. So könnte sich ein Sinn für soziale Gerechtigkeit entwickeln; kleine und mittlere Unternehmen könnten geschützt werden, die von staatlichen Mammutfirmen und multinationalen Konzernen an den Rand gedrängt werden; und die Bürger könnten sich verteidigen, sobald ihre Rechte beschnitten werden.
Ähnlich wie bei der europäischen Gewerkschaftsbewegung im 19. Jahrhundert wäre auch in China eine starke organisierte Arbeiterschaft in der Lage, die historische Leistung zu vollbringen und die Grundlagen für eine demokratische Entwicklung schaffen. Natürlich ist das heutige China davon noch weit entfernt. Aber in zehn Jahren, wenn Präsident Xi Jinping in Rente geht,8 wird das Land schon ganz anders aussehen.
Die Arbeiterbewegung kann nicht nur dazu beitragen, dass die Arbeitgeber ihre Beschäftigten angemessen bezahlen, sondern auch die Regierung dazu drängen, vernünftige Schulen, eine allgemein zugängliche Gesundheitsversorgung und verlässliche Sozialleistungen zur Verfügung zu stellen. Mit anderen Worten: China könnte eine Art Schweden werden, wo die Interessen des Einzelnen, der unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen und der gesamten Gesellschaft geschützt und soweit wie möglich harmonisiert werden. Andernfalls besteht jedoch durchaus die Gefahr, dass China ein zweites Russland wird.