Frankreich: Das Unwort Quote
von Dominique Vidal
Das italienische Wortspiel „Traduttore, traditore!“ erklärt den Übersetzer zum Verräter, weil er dem Original nie gerecht wird. Um einen derart unvermeidlichen Verrat handelt es sich, wenn die amerikanischen Begriffe affirmative action oder positive action1 , die in den USA politische Strategien gegen die Benachteiligung von Frauen und Minderheiten bezeichnen (siehe Beitrag auf S. 16), als „positive Diskriminierung“ übersetzt werden. Was immer man von der Sache halten mag, so kann man sich doch zunächst nur schwer vorstellen, wie sich eine demokratische Bewegung für Diskriminierung einsetzen soll.
Am 20. November 2003 bekannte Innenminister Nicolas Sarkozy in der Talkshow „100 minutes pour convaincre“ („100 Minuten, um zu überzeugen“), er denke über das Amt des französischen Präsidenten nach, und zwar nicht nur morgens beim Rasieren. Anschließend sprach er sich für „positive Diskriminierung“ aus. Diese Formulierung gewann eine sehr spezielle Bedeutung, als Sarkozy ein paar Wochen später die Berufung eines „muslimischen Präfekten“ effektvoll in Szene setzte. Seitdem sah sich jeder Politiker veranlasst, für oder gegen die „positive Diskriminierung“ Stellung zu beziehen, während Sarkozy, inzwischen Präsidentschaftskandidat der konservativen UMP (Union pour un mouvement populaire), diese Formel längst in seinen wahltaktischen Spielzeugschrank zurückgelegt und nur bei seinen seltenen Kurzauftritten in den Vorstädten wieder hervorgeholt hatte.
Vielleicht handelt es sich dabei um eine typisch französische Scheindebatte, denn obwohl die „positive Diskriminierung“ damals durch alle Medien geisterte, hat sie eigentlich keine Anhänger: Außer dem Institut Montaigne (dessen Präsident Claude Bébéar zuvor den „Selbstmord“ der „weißen Rasse“2 beklagte und sich jetzt um das Schicksal der Schwarzen und Araber kümmert) kämpft lediglich der Dachverband der Schwarzenorganisationen Frankreichs (CRAN, Conseil représentatif des associations noires de France) dafür.
Patrick Lozès, Gründer des Dachverbands, erklärt: „Eigentlich gibt es keine Rassen, aber die französische Gesellschaft verhält sich so, als ob es sie gäbe: Niemand kann leugnen, dass die Hautfarbe ein diskriminierender Faktor ist, den es zu überwinden gilt.“ Deshalb kämpft der CRAN an zwei Fronten: „Zunächst müssen wir unseren Mitbürgern die Realität der Diskriminierungen vor Augen führen, die Menschen aus Afrika und von den Antillen gleichermaßen treffen. Außerdem müssen wir Kompensationsstrategien für die Bereiche Arbeit, Wohnung, Schule usw. entwickeln.“ Der CRAN möchte jedoch kein „schwarzer CRIF3 “ oder ein Verein für „Schwarze im Kampf gegen Weiße“ sein: „Wir sind wie die Frauenbewegung oder die Lesben und Schwulen, wir fordern nur die in der Verfassung garantierte Gleichheit – aber wir wollen auch nicht bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag darauf warten.“ Im Verlauf unseres einstündigen Interviews fällt kein einziges Mal das Wort „Quote“.
Seit den 1990er-Jahren wächst in Frankreich das öffentliche Bewusstsein für die massiven sozialen, regionalen und ethnischen Ungleichheiten. Im März dieses Jahres kam dann eine Studie der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO), die 4 880 Bewerbungen auf Stellenanzeigen in Lille, Lyon, Marseille, Nantes, Paris und Straßburg untersucht hatte,4 zu den folgenden Ergebnissen: In nahezu vier von fünf Fällen hatten französische Arbeitgeber Bewerber „französischer Herkunft“ gegenüber Bewerbern „schwarzafrikanischer Herkunft“ vorgezogen, in drei von fünf Fällen wurden Bewerber „maghrebinischer Herkunft“ benachteiligt, ebenfalls in drei von fünf Fällen hatten Frauen gegenüber Männern das Nachsehen. In der ILO-Studie heißt es weiter: „Fast neun Zehntel der Diskriminierung fand statt, bevor die Arbeitgeber unsere beiden Testpersonen überhaupt zu einem Gespräch geladen hatten.“
Wie lassen sich die offenbar hartnäckigen Ungleichheiten bekämpfen, deren Opfer die Kinder der Immigranten sind? Muss man gesetzliche Maßnahmen treffen, und wenn ja, welche? In Artikel 1 der Verfassung von 1958 heißt es, die Französische Republik „garantiert die Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz ohne Unterschied der Herkunft, Rasse oder Religion“. Damit verbietet die Verfassung den Rückgriff auf ethnische oder religiöse Kriterien. Staatliche Maßnahmen, die an andere Kriterien gebunden sind, werden damit jedoch nicht ausgeschlossen. So hat der Staatsrat im Jahr 1996 bereits bestehende Maßnahmen positiver Diskriminierung für zulässig erklärt, „deren Ziel die Verringerung tatsächlicher sozialer Benachteiligungen ist“5 .
Dieser Bericht schuf nicht etwa neue Fakten, sondern bestätigte auf sozialen und geografischen Kriterien beruhende Gesetze, die lange zuvor von verschiedenen französischen Regierungen erlassen worden waren: zunächst die Steuerprogression, dann die Gesetze der 1960er-Jahre, die Rückkehrer aus Nordafrika bei der Stellenvergabe im öffentlichen Dienst bevorzugten, die Anreize zur Einstellung von Franzosen aus den Überseegebieten und im Jahre 1987 die Einführung einer Quote, nach der 6 Prozent der Arbeitsplätze im öffentlichen Dienst Behinderten vorbehalten sind. In diesem Sinne bestätigte der Verfassungsrat nach einigem Hin und Her schließlich auch das Gesetz zur Geschlechterquotierung in politischen Parteien im Jahre 1999.
Das Paradebeispiel für Vorzüge und Grenzen einer Minderheitenpolitik sind natürlich die sogenannten bildungspolitischen Prioritätsgebiete (ZEP, zones d’éducation prioritaires), eine Kategorie, die auf Initiative von Alain Savary 1982 eingeführt wurde. Bruno Meir, im Vorstand der Lehrergewerkschaft Snes für die Sekundarstufe I zuständig, verteidigt den Ansatz: „Es geht darum, nicht Einzelpersonen, sondern ganze Stadtviertel zu unterstützen, und zwar nach sozioökonomischen und nicht nach ethnischen Kriterien.“ Ohne diese Bildungszonen wäre in den sogenannten sensiblen Stadtgebieten (ZUS, zones urbaines sensibles6 ) längst der Notstand eingetreten, „wie im jüngsten Bericht der zuständigen Aufsichtsbehörde zugegeben wird“.
Meir, der selbst im Problemviertel Val Fourré in Mantes-la-Jolie unterrichtet, gibt jedoch zu, dass die Bilanz der bildungspolitischen Prioritätsgebiete „gemischt ausfällt, vor allem weil es an finanziellen und pädagogischen Mitteln fehlt. Anstatt wesentlich mehr Mittel zur Verfügung zu stellen, hat Bildungsminister de Robien mit seiner Reform vom Dezember 2005 lediglich das vorhandene Geld und damit auch den Erfolgsdruck auf die Hälfte der betroffenen Schulen konzentriert.“ Meir empfiehlt das genaue Gegenteil: „Im Kampf gegen die Verarmung und Diskriminierung sind die Prioritätsgebiete nur dann legitim, wenn sie alle zum Erfolg führen wollen, das heißt, wenn sie ausreichend Geld und Personal einsetzen können, um die soziale Durchmischung zu sichern.“ Alle Studien laufen auf dasselbe Ergebnis hinaus: Nur mit höheren Bildungsausgaben könnte man mehr Lehrer besser bezahlen und die Schüler in kleineren Klassen unterrichten, in denen sie die notwendige soziale Unterstützung hätten.
„Auf einmal reden alle von ‚positiver Diskriminierung‘, als müsste hier etwas völlig Neues erfunden werden“, sagt François Vourc’h, Soziologe am Nationalen Forschungsinstitut CNRS. Wenn der Staat sich am Ende dazu entschließe, „Ungleichbehandlung zu verordnen“, so doch nur, weil diese „viel weniger koste als radikale Langzeitreformen“. Für Vourc’h ist die „positive Diskriminierung“ nur ein „Feigenblatt“, denn sie kaschiert „die Anstrengung, die nötig wäre, um der rassistischen Gesellschaftsordnung ein Ende zu setzen. So wie es beim Kampf für die Gleichberechtigung angelaufen ist.“ Selbstverständlich sei die Unterstützung für Opfer von Diskriminierung nicht abzulehnen, aber man müsse dabei stets „die Suche nach dauerhaften Lösungen betonen“.
Hoffnung für unsichtbare Musikerinnen
Vourc’h zeigt anhand vieler Beispiele, dass dies keine bloße Theorie ist. In einem Viertel im Norden von Marseille wurde ein großes Kaufhaus aufgefordert, sein Personal vor Ort zu rekrutieren. „Aber man musste darauf achten, dass nicht zuerst Weiße, dann Araber und ganz zum Schluss Schwarze eingestellt wurden.“ Die Zusammenarbeit der Elitehochschule Sciences-Po mit den bildungspolitischen Prioritätsgebieten (ZEP) findet er gut, denn sie öffne Türen für viele junge Menschen aus Problemvierteln, und „sie wirkt in zwei Richtungen, indem sie am unteren Ende Gymnasien, Lehrer und vor allem Schüler mobilisiert und am oberen auf alle Eliteuniversitäten erweitert werden könnte“.
Für einen ebenso wichtigen Reformschritt hält der Forscher den anonymisierten Lebenslauf, der „die betroffenen Menschen überhaupt erst in die Lage versetzt, an einen Job zu kommen“. Er erinnert an einen Bericht von Hyacinthe Ravet7 über die Einstellung von Musikern in ein Orchester: Erst nachdem die Kandidaten hinter einem Vorhang vorspielten, wurden auch Musikerinnen ausgewählt. Man dürfe jedoch nicht vergessen, dass „der Kampf gegen die Diskriminierung bei der Einstellung für das gesamte Berufsleben fortgesetzt werden muss, denn die Diskriminierung verläuft überall nach dem gleichen Muster“.
Der Soziologe Smaïn Laacher spricht sich für jede Maßnahme aus, die „Männern oder Frauen“ hilft, „die wegen ihrer Hautfarbe, ihres Namens und/oder ihres Geburtsorts, drei lebenslänglichen Identitätsmerkmalen, diskriminiert werden“. Er fürchtet jedoch, man könnte „die öffentliche Aufmerksamkeit und Spendenbereitschaft nur gegen die Auswirkungen mobilisieren, statt sich den Ursachen zuzuwenden“.
„Früher“, fährt Laacher fort, „sorgte die Schule sowohl für eine Trennung (von der eigenen ethnischen Gruppe) als auch für eine Verbindung (zu anderen sozialen Gruppen). Durch die Ghettoisierung und die fehlenden Mittel kann sie dieser Aufgabe immer weniger nachkommen.“ Angesichts dieser Herausforderung erscheint ihm die „positive Diskriminierung“ als ebenso pathetisch wie lächerlich.
Fußnoten:
Aus dem Französischen von Sabine Jainski