11.05.2007

Big Pharma forscht im Slum

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Big Pharma forscht im Slum

von Sonia Shah

Nahezu 40 Milliarden US-Dollar geben die multinationalen Pharmakonzerne jährlich für die Entwicklung neuer Medikamente aus. Dabei setzen sie immer mehr herausragende Wissenschaftler und eine immer raffiniertere Medizintechnologie ein.l Bei derart hohen Investitionen sollte man annehmen, dass sie laufend neue Erfolge im Kampf gegen die großen Plagen der Menschheit erzielen. Aber auch 2007 werden weltweit wieder eine halbe Milliarde Menschen an Malaria erkranken – und bis zu drei Millionen werden daran sterben. Und das wirksamste Mittel, mit dem diese Patienten heute behandelt werden können, ist eine tausend Jahre alte chinesische Arznei. Sie ersetzt ein Medikament, das vor fünf Jahrzehnten entwickelt wurde.2

Die Weltgegenden, in denen Seuchen wie die Malaria ihre Opfer fordern, wurden von der Pharmaindustrie keineswegs vernachlässigt. Im Gegenteil: Noch nie haben sich die Hersteller so sehr für die Armen der Welt interessiert wie heute – sie führen nämlich in Entwicklungsländern wie Sambia, aber auch in „billigen“ Ländern wie Bulgarien, Brasilien und Indien zehntausende klinischer Erprobungen durch.

Direkt hinter den rußgeschwärzten Armenvierteln von Mumbai ragt ein strahlend weißes Labor von Novartis in den Himmel. Hier zerbrechen sich die Forscher ihre Köpfe über die Entwicklung neuer Medikamente. Und jenseits der sich endlos ausdehnenden Slums rund um Kapstadt glänzen die Fassaden der Testlabors von Boehringer Ingelheim. In Indien haben Pfizer, GlaxoSmithKline und Astrazeneca in den vergangenen Jahren Einrichtungen für die weltweite Koordinierung klinischer Erprobungen geschaffen, GlaxoSmithKline ließ im letzten Jahr mehr als die Hälfte seiner Praxistests für neue Arzneimittel außerhalb der westlichen Märkte durchführen, und zwar ganz gezielt in „billigen“ Ländern.

Testen statt heilen

Aber die Konzerne sind nicht nach Indien oder Südafrika gekommen, um die Krankheiten der Armen zu kurieren, die sich dort in die Warteschlangen vor ihren blitzsauberen Forschungskliniken einreihen. Es geht darum, das große Reservoir an „Krankengut“ in den Entwicklungsländern zu nutzen, um Medikamente zu erproben, die der immer gesünder werdenden Bevölkerung im reichen Westen das Altern erleichtern sollen: Mittel gegen Herzkrankheiten, Arthritis, Bluthochdruck und Osteoporose. Dieser Trend, Arzneien für die Reichen an den Armen der Welt zu erproben, ist nicht nur eine Verschwendung kostbarer wissenschaftlicher Ressourcen – er bedeutet auch eine Gefahr für die Menschenrechte und die Weltgesundheit.

Der weltweit größte Markt für Arzneimittel sind die USA. Jeder US-Bürger bekommt pro Jahr durchschnittlich zehn Medikamente verschrieben. Seit dem Jahr 2000 erfreut sich die pharmazeutische Industrie einer jährlichen Wachstumsrate von 15 Prozent. Dass sich der Ausstoß von experimentellen Medikamenten von 1970 bis 1990 verdreifacht hat, liegt nicht zuletzt an mehreren Änderungen der rechtlichen Grundlagen in den USA. Die Gesundheitsbehörde Food and Drug Administration (FDA) hatte schon 1984 die Bestimmungen für die Erteilung von Patenten auf neue Medikamente gelockert. Seit 1992 lässt sie sich von den Herstellern für die beschleunigte Prüfung neuer Mittel bezahlen. 1997 hebelte die Behörde die Vorschriften aus, die Fernsehwerbung für neue Medikamente untersagten.

In den USA lässt sich mit Medikamenten viel Geld verdienen – die US-Pharmaindustrie gehört zu den profitabelsten Branchen der Welt. Leider führt das reiche Angebot dazu, dass immer weniger US-Amerikaner bereit sind, an der klinischen Erprobung neuer Medikamente teilzunehmen. Jedes neue Mittel muss an mehr als 4 000 Patienten getestet werden, was in der Praxis bedeutet, dass sich über 100 000 Freiwillige einer Voruntersuchung in einer Testklinik unterziehen müssen.3

Dass so viele Versuchspersonen nötig sind, liegt an einer speziellen Schwierigkeit bei der Entwicklung neuer Medikamente gegen chronische und nicht übertragbare Krankheiten wie Arthritis, Bluthochdruck und Herzerkrankungen: Trotz größter Anstrengungen der Industrie haben sich die meisten neuen Mittel als wenig wirksam erwiesen, manche sind kaum besser als zugleich verabreichte Placebos. „In der Regel findet man kaum einen Unterschied zwischen behandelten und unbehandelten Patienten“, meint ein Experte aus der Forschung. Andere Medikamente brauchen weit weniger Erprobung, weil ihre Wirkung – etwa die des Insulins auf Diabetiker – eindeutig feststellbar ist. Schwach wirkende Mittel, etwa gegen Allergien, Herzbeschwerden oder Entzündungen, müssen dagegen an sehr vielen Testpersonen erprobt werden, um festzustellen, ob sie überhaupt eine Wirkung haben.

Die Pharmaindustrie braucht also reichlich Testmaterial, kann jedoch kaum einen von zwanzig Amerikanern zur Teilnahme an ihren klinischen Tests bewegen. Kein Wunder: Den US-Bürgern bietet sich eine große Auswahl an erprobten Medikamenten – warum sollten sie sich da noch auf Experimente einlassen? Um dieses akute Problem zu lösen, behelfen sich die Konzerne oft mit einer Art Abkürzung. Sie vergleichen die Wirkung der neuen Medikamente nur mit Placebos – eine einfache Standardprozedur, die in kurzer Zeit klare Resultate bringt. Man braucht weniger Testpersonen, und die FDA ist mit dem Nachweis zufrieden, dass ein neues Mittel besser wirkt als gar keines. Aber auch für diese Placebo-Tests müssen sich genügend Probanden finden, das heißt Menschen, die bereit sind, an einem Experiment teilzunehmen, bei dem sie vielleicht überhaupt keine wirksamen Medikamente erhalten.

Inzwischen können die Firmen bei 80 Prozent ihrer klinischen Erprobungen nicht genügend Testpersonen gewinnen, um ihren vorgegebenen Zeitplan einzuhalten. Und jeder Tag, um den sich die Einführung eines neuen Medikaments verzögert, bedeutet hohe Einnahmeverluste und die Gefahr, künftige Marktanteile zu verlieren.

Medikamente in den Entwicklungsländern zu testen, wäre natürlich nicht interessant, wenn die Menschen dort nur an Malaria oder an der Schlafkrankheit litten. Selbst wenn jeder Malariakranke einen Dollar für ein Medikament aufbringen könnte – was nicht der Fall ist – wäre dieser Markt nicht lukrativ genug, um die Forscher an die Arbeit zu setzen. Gegenüber der Weltgesundheitsorganisation (WHO) erklärten Vertreter der Pharmaindustrie, dass die Branche sich erst ab einem erhofften Umsatz von 200 Millionen Dollar für einen Markt zu interessieren beginnt.

Aber das tut nichts zur Sache, denn inzwischen leiden die Menschen in den Entwicklungsländern nicht mehr nur an Malaria oder Tuberkulose, sondern haben auch alle die Krankheiten, deren Medikation auf den westlichen Märkten für die Konzerne profitabel ist. Nach Angaben der WHO entfallen heute 80 Prozent der Todesfälle durch chronische nicht ansteckende Krankheiten, wie Herzkrankheiten oder Diabetes, auf die Entwicklungsländer. In einigen Teilen Afrikas ist jeder Fünfte zuckerkrank, und etwa 20 Millionen Afrikaner leiden an Bluthochdruck.

Auf die Gesundheitssysteme wird diese Entwicklung nach Meinung der WHO „gravierende“ Auswirkungen haben, die „sich bereits jetzt zeigen“. Kaum einer der Patienten wird wegen dieser Beschwerden behandelt – sie sind arm und haben andere und akutere gesundheitliche Probleme. Folglich ergeben sich bei den chronischen Krankheiten mehr Komplikationen als bei gut versorgten Patienten im Westen.

Hier liegt die Chance für die Pharmaindustrie: Um etwa die Wirksamkeit eines Herzmittels zu belegen, genügt es nachzuweisen, dass bei Menschen, denen es nicht verabreicht wird, mehr „Erkrankungsfälle“ – also Herzinfarkte oder Tod – auftreten als bei denen, die das Mittel erhalten. In seinem Vortrag bei einer Tagung über die Vorzüge armer Länder bei diesen Verfahren erklärte der Vertreter einer Testfirma: „Eine Erprobung kann man eben nur erfolgreich abschließen, wenn es genügend Komplikationen gibt.“

„Südafrika ist das perfekte Land“, erklärt ein anderer Firmenvertreter, der Aidsmedikamente anbietet. Dort finde man eine sehr große Zahl von HIV-Infizierten, die noch nicht mit antiretroviralen Medikamenten behandelt worden seien. Zu oft sind die Hersteller im Westen schon gescheitert, weil ihre Testpersonen so mit Medikamenten voll gepumpt sind, dass sich die Wirkung eines neuen Mittels kaum noch nachweisen lässt. Und das macht „behandlungsfreie“ Patienten als Versuchskaninchen so begehrt.

Doch entscheidend bleibt die schnelle Abwicklung. Geschwindigkeit ist alles in der Branche: Es geht stets darum, das neueste Insulininhalat oder Markenantidepressivum noch vor der Konkurrenz auf den Markt zu bringen. Aber in den westlichen Ländern kann es Monate oder gar Jahre dauern, die nötige Anzahl von Testpersonen zusammenzubringen. Anders in den Entwicklungsländern: Quintiles schaffte es in Südafrika, innerhalb von 9 Tagen 3 000 Patienten zur Teilnahme an einer Testimpfung zu bewegen. Bei einer anderen Testreihe brauchte die Firma nur 12 Tage, um 1 388 Kinder als Versuchspersonen zu gewinnen. Im Westen springen 40 bis 70 Prozent der Probanden wieder ab, sind unzufrieden, beklagen sich vielleicht über Nebenwirkungen oder finden einfach die Anfahrt zur Klinik zu lang. In Indien dagegen melden die Firmen für ihre Testpersonen eine Durchhaltequote von 99,5 Prozent.

Ganz problemlos gelingt es den westlichen Pharmafirmen allerdings nicht, ihre Testreihen in die armen Länder zu verlagern. Unterlagen müssen übersetzt werden, häufig brauchen Kliniken und Krankenhäuser vor Ort erst einmal größere Investitionen, das Personal muss geschult werden, der Umgang mit einer fremden und oft korrupten Bürokratie will gelernt sein. Aber für die Mehrheit der großen Pharmakonzerne sind die Testreihen in Entwicklungsländern trotz solcher Schwierigkeiten inzwischen unverzichtbar, und längst ist eine florierende Branche von Consulting-Unternehmen entstanden, die dabei ihre Unterstützung anbieten.

Firmen wie Quintiles und Covance, die auf klinische Erprobungen spezialisiert sind – auch Contract Research Organizations (CRO) genannt –, haben überall in den Entwicklungsländern ihre Büros und Kliniken aufgemacht. Quintiles unterhält Einrichtungen in Chile, Mexiko, Brasilien, Bulgarien, Estland, Rumänien, Kroatien, Litauen, Südafrika, Indien, Malaysia, den Philippinen und Thailand. Und Covance hat 25 000 Kliniken in mehr als einem Dutzend Ländern im Angebot. In der Fachpresse finden sich Berichte mit Titeln wie „Erfolgreich in Polen testen“ oder „Indien bietet Milliardengewinne im Bereich der klinischen Forschung“ oder auch, fast wie eine Tourismuswerbung, „Entdecken Sie Russland für die klinische Forschung“. Und ein anderer Anbieter von Tests in armen Ländern wirbt mit dem Slogan: „Skifahren, wo noch Schnee liegt – machen Sie Ihre Tests, wo es Patienten gibt.“4

Aber was gibt es eigentlich einzuwenden? Schließlich haben es die kranken Armen in den Testkliniken besser als in den normalen Krankenhäusern, wo sie oft tagelang warten und kaum Pflegepersonal vorfinden. Und offenbar sehen sie das auch selbst so, denn wie anders wäre der Andrang zu den klinischen Erprobungen zu erklären? Auch für die Kliniken und Krankenhäuser ergibt sich ein Nutzen: Sie erhalten Zugang zur neuesten Technologie und häufig können sie die Geräte, die ihnen für die Tests zur Verfügung gestellt werden, auch für ihre Zwecke verwenden. „Wir haben einiges an Ausrüstung bekommen“, berichtet eine Medizinforscherin in Indien, „und wir durften die Geräte behalten.“

Dass die Menschen im Westen sich nicht mehr als Versuchkaninchen zur Verfügung stellen wollen, könnte ja auch eine Chance für die Armen der Welt bedeuten. Wir haben Sweatshops und Chemiefabriken exportiert – warum nicht auch Einrichtungen für klinische Tests? „Man hat mir vorgeworfen, nur meinen Vorteil zu suchen“, beklagt sich ein kommerzieller Forscher, der für seine Geschäfte mit Tests in armen Ländern kritisiert wurde, „aber ohne die Testreihen wären alle diese Kinder gestorben!“ In der gnadenlosen Kosten-Nutzen-Rechnung, die in den USA ständig aufgemacht wird, erscheint der Export schwieriger klinischer Erprobungen in diese Länder jedenfalls als sinnvolle Maßnahme.

Der Kodex der unbedingten Freiwilligkeit

„Ich glaube, dass die Teilnahme an klinischen Erprobungen den Menschen in aller Regel nützt“, meint Robert Temple, Leiter der medizinischen Abteilung bei der FDA. „Die Hälfte von ihnen bekommt wirksame Medikamente und eine bessere Gesundheitsversorgung. Und die andere Hälfte … eben nur eine bessere Versorgung.“ Aber seinen Körper für wissenschaftliche Versuche zur Verfügung zu stellen, ist noch etwas anderes, als am Fließband zu stehen. Selbst die Arbeiter in Sweatshops dürfen sich einen, wenn auch mageren Verdienst ausrechnen. Bei den klinischen Tests gibt es keine Verdienstgarantie. Auch wenn die Forscher im Rahmen der jeweiligen Teilnehmergruppen die Risiken und Vorteile insgesamt abwägen können – ob dem einzelnen Teilnehmer geholfen oder geschadet wird, bleibt offen: Der Klärung dieser Frage soll das Experiment ja gerade dienen.

Weil Risiken nie auszuschließen sind, bleibt die entscheidende ethische Forderung bei medizinischen Versuchen am Menschen, dass die Testpersonen über ihre Teilnahme aus freien Stücken und auf der Grundlage genauer Informationen entscheiden sollten. Dieses Prinzip ist in unzähligen Entschließungen bekräftigt worden, unter anderem in der Erklärung von Helsinki der World Medical Association und dem Nürnberger Kodex von 1947. Der Kernpunkt ist die Freiwilligkeit: Der Proband darf nicht unter Druck gesetzt werden, auch nicht indirekt – das heißt, man darf ihm auch keine ungewöhnlich hohe Vergütung oder den Zugang zu besonderer medizinischer Versorgung anbieten, um ihn zur Teilnahme an einem medizinischen Experiment zu bewegen. Der Forderung von Aktivisten der Anti-Aids-Bewegung, jedem Probanden, der sich bei einer Impfungs-Testreihe infiziere, müsse eine lebenslange medizinische Versorgung garantiert werden, begegneten die Vertreter der Industrie mit dem Hinweis auf das Prinzip der Freiwilligkeit.

Inzwischen mehren sich die Hinweise, dass die Menschen in den Entwicklungsländern durchaus nicht freiwillig an den medizinischen Versuchen teilnehmen. Bioethiker untersuchen die Zahl der Probanden, die ihre Einwilligung zurücknehmen oder die Tests abbrechen. Dies ist in der Tat ein Beleg dafür, dass sie die Freiwilligkeit ihrer Teilnahme begreifen. Im Westen beträgt der Anteil von Aussteigern und Verweigerern bis zu 40 Prozent. Bei einer anonymen Umfrage der National Bioethics Advisory Commission unter Testpersonen in Entwicklungsländern erklärten dagegen 45 Prozent der Befragten, keine ihrer Zielpersonen habe je die Teilnahme an den Tests abgelehnt. Auch die rasche Anwerbung – 3 000 Teilnehmer an einer Testimpfung innerhalb von 9 Tagen, 1 300 Kinder für einen anderen Test innerhalb von 12 Tagen – deutet darauf, dass hier kaum jemand Nein sagt.5

Aber woran kann das liegen? Eine Studie unter Teilnehmern an einem HIV-Vorbeugungsversuch in Südafrika zur genauen Art und Weise ihrer Zustimmung hat gezeigt, dass mehr als 80 Prozent der Befragten glaubten, sie hätten nicht das Recht, den Versuch abzubrechen. Zu ähnlichen Ergebnissen kam eine Studie in Bangladesch.6

Allein diese Belege für – zumindest inneren – Zwang sollten Grund genug sein, in diesen Ländern weniger Versuche durchzuführen, aber die Testfirmen machen aus der Tatsache, dass in den Entwicklungsländern so wenige Nein sagen, sogar noch ein Werbeargument. So schreibt ein Autor in der Fachzeitschrift Applied Clinical Trials ganz begeistert, dass russische Testpersonen „stets pünktlich erscheinen und alle Pillen vorschriftsgemäß einnehmen … Sie ziehen ihre Einwilligung nur sehr selten zurück … Die Russen halten sich genau an die Anweisungen der Ärzte – wirklich erstaunlich!“ Auch in einem Bericht von CenterWatch über Versuchsreihen in China wird festgestellt: „Die Chinesen sind nicht so emanzipiert wie US-Bürger. Sie zeigen sich eher bereit, Versuchskaninchen zu spielen.“

Um in Europa oder den USA einen klinischen Test durchzuführen, muss ein Pharmakonzern zunächst die Aufsichtsbehörden informieren und alle Daten aus vorangegangenen Labor- und Tierversuchen vorlegen. Außerdem verlangen die Behörden genaue Auskunft über die geplante experimentelle Verabreichung eines Medikaments an Menschen. Versuchsreihen in der übrigen Welt werden dagegen kaum überwacht. Man akzeptiert die Resultate, aber in Europa wie in den USA besteht vorab keine Informationspflicht über diese Versuche – es müssen lediglich die Bestimmungen der Erklärung von Helsinki oder eventuell weiter gehende örtliche Schutzvorschriften beachtet werden. Bleibt eine Versuchsreihe erfolglos und das getestete Medikament kommt nicht auf den Markt (90 Prozent der klinisch erprobten Produkte werden nicht zugelassen), interessiert sich für die Tests keiner mehr: Die Erprobungen in den armen Ländern werden nicht erfasst, als hätte es sie nie gegeben.

Eigentlich könnte die Erklärung von Helsinki ausreichend Schutz bieten. Die Einhaltung ihrer Bestimmungen zu überwachen, ist vor allem Aufgabe der sogenannten Ethikkommissionen – sie sollen die Tests genehmigen und die Rechte der Probanden schützen. Da sich die Herkunftsländer der Firmen nicht darum kümmern, bleibt diese Überwachung tatsächlich alleinige Aufgabe lokaler Komitees und Aufsichtsbehörden. Doch in manchen Ländern sind offenbar die Strukturen nicht vorhanden, die diese ethischen und administrativen Anforderungen erfüllen könnten.

Ein gutes Beispiel ist Indien. Hier sehen die zuständigen Regierungsvertreter in den Aktivitäten der Medikamententester vor allem eine Devisenquelle. Einige von ihnen äußerten die Hoffnung, dass sich die Jahresumsätze der Branche von 70 Millionen auf eine Milliarde Dollar vergrößern ließen. Man hat bereits eine Reihe von Vorschriften gelockert, um die Durchführung der klinischen Erprobungen zu erleichtern: Die Einfuhr der Testmedikamente ist jetzt zollfrei; abgeschlossene Erprobungen in der „Phase 3“ (siehe Kasten links) sind nicht länger Voraussetzung für Tests in Indien. Es braucht auch keinen Nachweis mehr, dass die Medikamente „von besonderem Interesse“ für Indien sind. Und alle Firmen, die in Indien Investitionen im Bereich von Forschung und Entwicklung tätigen, erhalten zehn Jahre lang Steuererleichterungen.7

Aus indischer Sicht gilt die Branche als guter Geschäftspartner. In der führenden Wirtschaftszeitung Economic Times heißt es: „Das Potenzial ist gewaltig, die Multinationalen sind sehr interessiert und die indischen Unternehmen sind bereit. Wir haben das Know-how, wir haben die Menschen, und diesen Vorsprung wird China vermutlich niemals aufholen. Und das Beste: Gegen diese Art von Outsourcing dürften auch die US-amerikanischen Arbeiter nicht protestieren.“

Eine Nachbesserung der Vorschriften zur Kontrolle der Tests wäre zwar denkbar. An der Situation in Indien würde das jedoch nur wenig ändern, weil es hier leider viel zu wenig gesetzliche Bestimmungen für den Bereich der medizinischen Forschung gibt. Das fängt schon in der Ausbildung an: In einigen Fällen haben medizinische Ausbildungsstätten Dozenten nur auf dem Papier eingestellt, um die staatlichen Inspektoren zu täuschen, Studienplätze verkauft oder Diplome meistbietend versteigert. Hat ein Arzt erst einmal seine Zulassung, muss er keinerlei Weiterbildung nachweisen. Auch hat der indische Ärzteverband Indian Medical Association keine ethischen Grundsätze festgeschrieben. Als bei einem Ausbruch der Pest in der Stadt Surat drei von vier Ärzten das Weite suchten – obwohl sie die Seuche durch Antibiotika hätten eindämmen können – drückten sich die Verbandsvertreter um eine Stellungnahme.

Der indische Arzneimittelmarkt ist berühmt für seine unregulierte Vielfalt. Mehr als 70 000 Markenprodukte sind im Angebot. Eine Studie hat ergeben, dass über 70 Wirkstoffkombinationen verkauft werden (unter mehr als 1 000 verschiedenen Markennamen), die nachweislich wirkungslos oder schädlich sind. Es gibt Medikamente gegen so zweifelhafte Beschwerden wie „geistiger Verfall“, „soziale Auffälligkeit“ oder „Verhaltensstörung“. 2003 kam eine Untersuchung in einer Fachzeitschrift zu dem Schluss, dass jedes vierte Medikament auf dem Markt entweder minderwertig oder wirkungslos ist. Im selben Jahr fanden die staatlichen Kontrolleure heraus, dass in der Stadt Patna sieben von neun Apotheken keine Zulassung hatten und dass man in ihnen alles kaufen konnte. Selbst verschreibungspflichtige Medikamente gehen überall problemlos über die Ladentheke.8 Der prominente Arzneimittelexperte Chandra Gulhati, Chefredakteur der Zeitschrift Monthly Index of Medical Specialities in Indien, stellt fest: „Wenn eine Firma mal bei illegalen Geschäften ertappt wird, kommt sie mit einer Verwarnung davon …“ Amar Jesani, der führende Bioethiker des Landes, meint: „Indien fehlt es an einer entwickelten medizinischen Berufsethik.“

Aber auch die USA haben mehr als 30 Jahre gebraucht, um gesetzlich festzulegen, dass Testpersonen über Versuche aufgeklärt werden und ihnen explizit zustimmen müssen. Dieser Grundsatz wurde erstmals 1947, nach dem Nürnberger Ärzteprozess, formuliert. Und es dauerte abermals Jahrzehnte, bis sich dieser Standard in der medizinischen Forschung der USA durchgesetzt hatte. Länder wie Indien, wo noch 2003 keine einzige medizinische Fakultät eine Vorlesung über Ethik und Medizin im Lehrplan hatte, stehen erst am Anfang dieser Entwicklung. Zwar hat man Ethikkomitees zur Überwachung der Medikamententests eingerichtet, aber Sandhya Srinivasan, eine Aktivistin der Gesundheitsbewegung, ist überzeugt, dass sie nicht dem Schutz der Probanden dienen, sondern nur „Persilscheine“ ausstellen sollen.

Natürlich gab es auch reichlich Skandale in der medizinischen Forschung und Praxis des Landes. In den 1970er-Jahren wurde hunderttausenden von Frauen das nicht zugelassene Anti-Malaria-Medikament Quinacrine verabreicht, das sie unfruchtbar machte. Viele der Frauen, die zumeist Analphabetinnen waren, erklärten später, man habe sie mit falschen Angaben zur Einnahme überredet. Auch die Dorfbewohner, an denen in den 1980er-Jahren ein bereits vom Markt genommenes Verhütungsmittel erprobt wurde, versicherten nachträglich, sie hätten „gar nicht gewusst, dass sie an einer Versuchsreihe teilnahmen“. Und die Teilnehmer an der vom Staat 1991 bis 1999 durchgeführten Erprobung eines Mittels gegen Lepra waren nach ihren Angaben nicht informiert worden, dass es sich um einen Doppelblindtest mit Placebos handelte.

Ende der 1990er-Jahre entschieden staatliche Forscher, bei mehr als 1 100 Frauen mit Brustkrebs im Frühstadium, auch sie Analphabetinnen, die Behandlung auszusetzen, um die Entwicklung der Krankheit zu beobachten. 2001 geriet ein Forscher der Johns Hopkins University in Baltimore in die Schlagzeilen, weil er an Krebspatienten in Kerala Versuche mit einem Medikament durchführte, das noch nicht die Phase der Tierversuche durchlaufen hatte. Und 2003 erhielten mehr als 400 Frauen, die schwanger werden wollten, ein experimentelles Anti-Krebs-Medikament, das sich als schädlich für Embryos erwies.9

Auch in den Ländern des Westens gibt es reichlich Skandale dieser Art. Besonders drastisch sind die von der US-Gesundheitsbehörde in Tuskegee im ländlichen Alabama durchgeführten Forschungen zur Syphilis. Dutzenden von Männern aus der armen schwarzen Bevölkerung wurde dabei über Jahrzehnte jede Behandlung verweigert. Dass die Studie 1974 an die Öffentlichkeit kam, führte in den USA zu den ersten rechtlichen Regelungen zum Schutz von Versuchspersonen. In Indien wurden die erwähnten skandalösen Fälle allesamt in der Presse verhandelt – doch Schutzbestimmungen existieren noch immer nicht.

Der US-Gesundheitsbehörde FDA ist das alles nicht neu, aber man vertraut eben auf die Fähigkeit der Testpersonen, sich nach entsprechender Aufklärung autonom zu entscheiden und eventuell auch ihre Zustimmung zurückzuziehen. In Ländern wie Indien dagegen ist das Machtgefälle zwischen Klinikpersonal und Probanden wesentlich größer als im Westen. Nicht einmal 1 Prozent der indischen Bevölkerung ist krankenversichert. Die meisten Menschen müssen im Voraus bezahlen, wenn sie eine Behandlung brauchen, und so etwas wie ein Hausarzt ist fast unbezahlbar. Landesweit kommt ein Arzt auf 2 000 Einwohner. Für Farhad Kapadia, Forscherin am Hinduja Hospital in Mumbai, bedeutet das in der Praxis, dass nur Menschen, die „wirklich keine Alternative haben“, sich den Hightech-Versuchen der Pharmaindustrie anvertrauen.

Die Probanden seien immerhin keine Höhlenmenschen

Robert Temple, der medizinische Leiter der US-Gesundheitsbehörde FDA, hält es für überheblich, den armen Patienten zu unterstellen, sie könnten sich nicht informieren und eine bewusste Entscheidung treffen. „Man darf doch nicht so tun, als seien sie nicht in der Lage, ihre Interessen wahrzunehmen“, erklärt er im Gespräch. „Sie sind nicht wohlhabend, aber doch keine Höhlenmenschen.“ Damit hat er zweifellos Recht: Eine Zustimmung zu Tests auf der Grundlage von Informationen kann man auch von Menschen erwarten, die ungebildet und des Lesens und Schreibens unkundig sind und in extremer Armut leben. Die Terminologie der klinischen Forschung mag ihnen fremd sein, aber keineswegs völlig unbegreiflich. Allerdings heißt das noch lange nicht, dass sie auch tatsächlich aufgeklärt werden und bewusst in die klinischen Erprobungen einwilligen. Alle Erfahrungsberichte sprechen dagegen.

Medizinanthropologen haben eine einfache Methode, um diese Zustimmung zu überprüfen: Sie verteilen Fragebögen an Probanden, die bereits an einem Test teilnehmen. In Thailand ergab sich bei der Erprobung eines Aids-Impfstoffs, dass 30 der 33 Testpersonen nichts über den Versuch wussten. Ähnlich das Ergebnis beim Test eines Verhütungsmittels in Brasilien: Keine der Probandinnen war informiert. Und auf Haiti zeigte die Befragung von Teilnehmern an einer Versuchsreihe zur Übertragung des HI-Virus, dass 4 von 5 Probanden die Grundvoraussetzungen des Tests nicht begriffen hatten.10

„Die Idee der bewussten und informierten Einwilligung ist ein schlechter Scherz“, erklärte ein Forscher gegenüber der National Bioethics Advisory Commission. Ein anderer bekräftigte: „Man kann doch nicht behaupten, ein Mensch, der noch nie etwas von einem Bakterium oder einem Virus gehört hat, sei angemessen zu informieren.“

Es wäre schon hilfreich, die bestehenden Vorschriften konsequenter durchzusetzen, aber leider geht die Entwicklung in die andere Richtung. Die FDA versucht, sich schrittweise von der als zu streng empfundenen Erklärung von Helsinki abzusetzen. 2001 war die US-Gesundheitsbehörde nicht bereit, eine Neufassung dieser Bestimmungen zu übernehmen, die zusätzliche Auflagen für Placebo-Versuche enthielt. Und 2004 kam von der FDA der Vorschlag, für die Testreihen in Entwicklungsländern nicht mehr die Erklärung von Helsinki, sondern neue Verfahrensregeln zum Maßstab zu machen, die von der Pharmaindustrie und den Behörden in den USA, Japan und Europa gemeinsam zu entwickeln seien.

Im Sommer 2006 äußerte sich dieser neue Zeitgeist überdeutlich: Das wichtigste medizinwissenschaftliche Beratergremium der USA, das Institute of Medicine, empfahl die Aufhebung des Verbots, klinische Erprobungen von Medikamenten unter Strafgefangenen durchzuführen. Die Bedenken wegen der fehlenden bewussten Zustimmung, die Experimente an Gefangenen jahrzehntelang verhindert hätten, seien „kurzsichtige“ Einwände.11

Klinische Erprobungen, die sich nicht an ethische Grundsätze halten, sind nicht nur ein Angriff auf die Menschenrechte, sie bedeuten auch einen schweren Legitimitätsverlust für die Medizin des Westens. Schon heute vertieft sich die Vertrauenskrise zwischen der westlichen Medizin und vielen Menschen in den Entwicklungsländern. In Südafrika verdammen Regierungsvertreter die Aidsmedikamente aus dem Westen als Gift der Weißen, und in Nigeria will die Regierung keine Impfungen gegen Kinderlähmung zulassen. Dass überall kaum kontrollierte Kliniken für die Erprobung von Medikamenten entstehen, wird diese Reaktionen verstärken – und das bedroht die Weltgesundheit insgesamt.

Auch viele Pharmahersteller und Medizinforscher wissen längst, dass Beeinflussung der Probanden, ungenügende Kontrolle und mangelnde Information ein Problem darstellen. Aber in ihren Augen überwiegen die Vorteile: Die biomedizinische Forschung hat eine große Zukunft, und jede Verschärfung der Auflagen für klinische Erprobungen würde den Fortschritt in diesem Bereich behindern und damit vielen Menschen das Leben kosten.

So deutlich wird das Argument kaum je vorgetragen, aber diese Überzeugung ist weit verbreitet und bedeutet einen mächtigen und nicht unproblematischen Aspekt des Problems. Es ist nicht zu leugnen, dass die Teilnehmer an klinischen Tests in den Kliniken der Pharmakonzerne häufig eine bessere Versorgung erhalten als über ihr nationales Gesundheitssystem, und dass auch die beteiligten Mediziner profitieren. Aber die so gewonnenen Daten sind eben nicht gleichbedeutend mit medizinischem Fortschritt. Das kann jeder bestätigen, der einmal irgendwo im Süden eines der Lagerhäuser gesehen hat, in dem billige Impfstoffe verrotten. Dieser Fortschritt hängt nicht nur von den Ergebnissen der Forschung ab, sondern auch davon, dass Regierungen, Krankenversicherungen, Patienten und viele andere die in der Praxis gewonnen Daten sinnvoll nutzen. Als Mindestforderung muss gelten, dass Testpersonen Anspruch auf bereits gesicherte Behandlungsmethoden haben. Nur zu oft erhalten die neuen Mittel nie eine Zulassung in den Ländern, in denen sie getestet wurden, oder die Bevölkerung kann sie nicht bezahlen. Häufig gibt es für bestimmte Medikamente dort auch gar keinen Anwendungsbereich. Weiterhin wäre zu fordern, dass die Zustimmung der Probanden, vor allem die Freiwilligkeit, überprüft wird. Nach diesen Kriterien dürfte so mancher Test eigentlich gar nicht stattfinden.

Fußnoten:

1 Siehe zum Beispiel www.researchandmarkets.com/reportinfo.asp?report_id=364024. 2 Soniah Shah, „The perfect predator“, in: Orion, November/Dezember 2006. 3 Stan Bernard, „The Drug Drought: Primary causes, promising solutions“, in: Pharmaceutical Executive, November 2002, S. 7. 4 Auf ihren Internetseiten werben die CROs mit den Resultaten ihrer Anwerbung von Testpersonen. Siehe etwa www.quintiles.com. 5 National Bioethics Advisory Commission, Ethical and Policy Issues in International Research: Clinical Trials in Developing Countries, April 2001. 6 Q. A. Karim u. a., „Informed consent for HIV testing in a South African hospital: is it truly informed and truly voluntary?“, in: American Journal of Public Health, 1. April 1998, S. 637–640; sowie Niels Lynoe u. a., „Obtaining informed consent in Bangladesh“, in: New England Journal of Medicine, 8. Februar 2001, S. 460–461. 7 Ken Getz von der Consultingfirma CenterWatch berichtete mir, dass er in Indien hofiert wurde wie ein Staatsoberhaupt. Siehe auch: Narayan Kulkarni, „The trials leader“, in: Biospectrum, 10. Juni 2003. 8 Chandra Gulhati, „Irrational fixed-dose combinations: a sordid story of profits before patients“, in: Indian Journal of Medical Ethics, Januar–März 2003. Siehe auch: Arindam Mukherjee, „Pills that kill“, in: Outlook, 22. September 2003, S. 52; sowie: Indian Express, 17. August 2001. 9 Sanjay Kumar, „Sterilization by quinacrine comes under fire in India“, in: The Lancet, 17. Mai 1997; Laxmi Murthy, „Contraceptive research: need for a paradigm shift“, in: One India, One People, Juli 2001; Amit Sen Gulpta, „Research on hire“, in: Indian Journal of Medical Ethics, Oktober/Dezember 2001; Ganapati Mudur, „Johns Hopkins admits scientist used Indian patients as guinea pigs“, in: British Medical Journal (BMJ), 24. November 2001, S. 1 204. 10 P. Pitisuttithum u. a., „Risk behaviors and comprehension among intravenous drug users volunteered for HIV vaccine trial“, in: Journal of the Medical Association of Thailand, Januar 1997, S. 80; Daniel W. Fitzgerald u. a., „Comprehension during informed consent in a less-developed country“, in: The Lancet, 26. Oktober 2002, S. 1 301–1 302. 11 Sonia Shah, „Testing new drugs on prisoners: the easy out“, in: The Boston Globe, 17. August 2006.

Aus dem Englischen von Edgar Peinelt

Sonia Shah (www.soniashah.com) ist Journalistin. Von ihr erschien zuletzt „The Body Hunters. Testing New Drugs on the World’s Poorest Patients“, New York (The New Press) 2006.

Le Monde diplomatique vom 11.05.2007, von Sonia Shah