10.06.2011

Setzen Sie auf Uruguay

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Setzen Sie auf Uruguay

Das regierende Linksbündnis in Montevideo will mit allen ins Geschäft kommen von Karl-Ludolf Hübener

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Die einen stünden „für Vergesellschaftung“, die anderen seien „kaum als progressiv“ zu bezeichnen. Ein sichtlich genervter Präsident reagierte damit auf interne Spannungen in Uruguays „Frente Amplio“. Ideologische und persönliche Gegensätze sind in der „Breiten Front“ offen ausgebrochen. Das Bündnis, ein Spiegelbild des breit gefächerten linken Spektrums in Südamerika, reicht von Sozialdemokraten über Kommunisten bis hin zur MPP, der Partei der ehemaligen Stadtguerilla der Tupamaros. Der gegenwärtige Präsident José „Pepe“ Mujica stammt aus deren Reihen. Mujica ist mit Venezuelas Präsident Hugo Chávez befreundet, während sein Vizepräsident Danilo Astori sich eher von der wirtschaftsliberalen Linie der chilenischen Concertación aus Christdemokraten und Sozialisten angezogen fühlt.

„Feiert, Uruguayer! Feiert!“, hatte im Oktober 2004 ein siegestrunkener Tabaré Vázquez den ausgelassen feiernden Frente-Anhängern zugerufen. Damals hatte zum ersten Mal in der Geschichte des kleinen Landes am Rio de la Plata die Linke gesiegt und das Zweiparteiensystem der beiden Traditionsparteien der Colorados und Blancos durchbrochen. Mehr als eine halbe Million der rund dreieinhalb Millionen Uruguayer war auf die zentrale Avenida 18 de Julio geströmt. Der Jubel kannte keine Grenzen. Raketen krachten, Candombe-Trommeln dröhnten. „Cambio“ – „Veränderung“ – versprach Präsident Tabaré Vázquez. Ein „Cambio“, den führende Politiker der Frente sehr unterschiedlich interpretieren sollten, wie sich bald zeigte.

Auf den Wahlsieg hatte die Frente lange warten müssen. Gegründet vor vierzig Jahren, im Februar 1971, in der Abenddämmerung einer wankenden Demokratie, eroberte sie wenige Monate später auf Anhieb fast 20 Prozent der Stimmen.1 Nach der langen Nacht der Militärdiktatur (1973–1985) wuchs der Stimmenanteil der „Breiten Front“ von Wahl zu Wahl. Bereits 1989 hatte sie die Stadtregierung Montevideos erobert.

Früher hätte die Linke in Uruguay nur wenig Chancen gehabt: In den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts hatte die überragende Figur des Präsidenten José Batlle y Ordóñez aus den Reihen der Colorado-Partei die Fundamente des uruguayischen Wohlfahrtsstaats gelegt. Das auf endlosen Weiten grasende Vieh hatte die Devisenkassen gefüllt und für damalige Zeiten ungeahnte Wohltaten ermöglicht.2

Doch in den 1960er Jahren begann das Modell zu bröckeln. Die neoliberale Phase, die nach dem Ende der Militärdiktatur 1985 ihrem Höhepunkt zustrebte, stellte dann viele soziale Errungenschaften infrage. Die Zahl der Elendssiedlungen verdreifachte sich. Seit dem Ende der Diktatur hat rund eine halbe Million vor allem jüngerer Leute ihre Heimat verlassen. Uruguay ist heute das Land mit der ältesten Bevölkerung in Lateinamerika.

Die verheerende Argentinienkrise 2002 hinterließ auch im Nachbarland Uruguay einen sozialen Trümmerhaufen. Arbeitslosigkeit und Verzweiflung griffen um sich. Die Reallöhne sackten ab. Viele Menschen rutschten von einem Tag auf den anderen ins soziale Abseits. Die soziale Kluft wurde immer breiter. Eine Zeitung schockte mit der Meldung, Kinder müssten Gras essen, um den Hunger zu stillen. Die Kinderarmut hatte die 50-Prozent-Grenze überschritten.

Mit dem Wahlsieg der Frente schien sich eine entscheidende Wende anzubahnen, wie auch in anderen Ländern Südamerikas, in denen ein Linksruck stattfand oder sich abzeichnete, allerdings mit unterschiedlichen ideologischen Tönungen. Grob vereinfacht schälen sich zwei Linien heraus: eine sozialdemokratische, in Europa gern als „gemäßigt“ und „modern“ bezeichnet. Dazu zählen die Sozialisten innerhalb der chilenischen Concertación, die Arbeiterpartei Brasiliens (PT), manchmal auch die Kirchner-Regierungen in Argentinien. Die rote Achse bilden dagegen die Chávez-Regierung in Venezuela, Rafael Correa in Ecuador und Boliviens Aymara-Präsident Evo Morales. Sie haben neue wirtschaftliche und gesellschaftliche Strukturen versprochen, weshalb sie häufig als „radikal“ oder „populistisch“ verteufelt werden. Die erste Regierung der Frente Amplio sonnte sich schon bald in ersten Erfolgen: Das Wirtschaftswachstum kletterte in den folgenden Jahren auf über 7 Prozent. Löhne und Gehälter stiegen, auch weil neben den Tarifparteien nun auch der Staat mit am Tisch sitzt – in den Lohnräten („consejos de salarios“), die in der neoliberalen Phase kaltgestellt worden waren. Die Gewerkschaften gewannen wieder an Macht. Seit 2003 hat sich der Grad gewerkschaftlicher Organisation verdreifacht. Über 300 000 Mitglieder zählt der Gewerkschaftsbund PIT-CNT. Und vom Notplan „Plan de emergencia“ profitierten mehr als eine halbe Million verarmter Uruguayer.3 Eine Gesundheitsreform weitete die medizinische Versorgung auf bisher davon Ausgeschlossene aus, wie die Landarbeiter. Für sie wurde außerdem der Achtstundentag gesetzlich abgesichert. Die Arbeitslosigkeit sank von 20 Prozent im Krisenjahr 2002 auf unter 6 Prozent 2011.

Doch die niedrige Quote verdeckt weniger erfreuliche Tatsachen: Unter den 18- bis 24-Jährigen gibt es dreimal so viele Arbeitslose wie unter den Älteren. Noch immer erhalten mehr als 650 000 von 1,5 Millionen beschäftigten Uruguayern Löhne unter 10 000 Pesos, (rund 400 Euro), manche gar weniger als den Mindestlohn (210 Euro). Viele, vor allem aus den Armenvierteln, den „cantegriles“, leben von Gelegenheitsarbeiten oder verkaufen auf legalen und illegalen Märkten gebrauchte Kleidung, Schrauben, Kabel oder veraltete Haushaltsgeräte.

Umweltfragen bearbeitet das Wohnungsministerium

Mancher zieht am Morgen mit Pferd und einem zweirädrigen Karren los und durchwühlt Mülltonnen auf der Suche nach Essensresten, Plastikabfall oder Altmetall. Wie der 29-jährige Miguel aus einer Armensiedlung in Montevideo. Er sucht nach Plastik, Papier und Flaschen. Zwei Söhne und eine Tochter helfen beim Sortieren. Miguels Traum: „Ich möchte, dass meine Kinder eines Tages studieren und etwas aus ihrem Leben machen können.“ Noch immer wühlen schätzungsweise 20 000 Kinder im Dreck der anderen.

Armut trifft vor allem Kinder und Heranwachsende – das hat die Cepal, die Wirtschaftskommission der UNO für Lateinamerika, festgestellt. Während 38 Prozent der Kinder unter sechs Jahren arm sind, sind es bei den über 65-Jährigen nur 7,4 Prozent. „Uruguay hat die Pyramide auf den Kopf gestellt“, bedauert der Soziologe Gustavo Leal: „In den anderen Ländern sind meist die Älteren die Ärmsten.“ Streit und Spannungen innerhalb der Frente Amplio haben sich im Laufe der Regierungsjahre immer stärker an der Einkommenskonzentration und damit am Wirtschaftsmodell entzündet. Es besteht weiterhin eine große Schere zwischen dem reichsten Fünftel der Bevölkerung, das über 47,7 Prozent des nationalen Einkommens verfügt, und dem ärmsten Fünftel, das sich mit 5,7 Prozent begnügen muss.4

Viele Maurer, Hausangestellte und Soldaten haben seit der Krise ihre Gehälter verdoppelt, um etwa umgerechnet 150 Euro monatlich. In den besseren Vierteln haben sich die Einkommen ebenfalls verdoppelt, aber um 1 400 Euro. Ungleichheit und soziale Segregation prägen zunehmend das Stadtbild von Montevideo. Bessergestellte schotten sich in bewachten, luxuriösen Hochhäusern an der Rambla ab oder wandern ab in „gated communities“ mit eigenen Restaurants, Golf- und Tennisplätzen. Hier bettelt keiner an der Haustür.

„Das spektakuläre Wachstum des Bruttosozialprodukts in den letzten Jahren hat die Ungleichheit erhöht“, muss Alberto Couriel, einer der führenden Politiker der Frente, zugeben. Das gilt auch für einige südamerikanische Nachbarn, die zum linken Spektrum zählen. „Uruguay ist am wenigsten ungleich auf einem Subkontinent, der die brutalste Ungleichheit auf dem Planeten aufweist“, tröstete Isidro Soloaga in einer Studie des UN-Entwicklungsprogramms.5

„Viele singen lauthals das Lied der Linken, doch im realen Leben sind sie auf der rechten Seite“, stimmte die beliebte Karnevalsgruppe „Falta y Resto“ an. Mit Blick auf einige „moderne Sozialisten“ in Europa wie in Lateinamerika meinte der Erzliberale und Nobelpreisträger Mario Vargas Llosa: „Die Regierungen sagen nicht, dass sie liberal sind, verwirklichen aber liberale Reformen, denen sie andere Namen geben.“ Die Frente-Regierung schmückt sich mit dem vagen Adjektiv „progressiv“. Die Mitte-links-Allianz sei in die Mitte gerückt, meint der Soziologe Leal. Das Wort „cambio“ bekommt damit einen anderen Klang: Gewandelt hat sich nicht die uruguayische Gesellschaft, sondern die Frente Amplio. Sie führt die (neo-)liberale Politik ihrer konservativen Vorgänger fort – mit sozialem Anstrich. Wie die demokratischen Regierungen der Concertación, die den von Diktator Pinochet diktierten Wirtschaftskurs im Grundsatz fortsetzte.

Diese Entwicklung geht insbesondere auf das Konto eines Politikers: Danilo Astori, Wirtschaftsprofessor und einst strammer Antikapitalist, der die Auslandsschulden auf keinen Fall bezahlen wollte. Von einem reformerischen Marsch in eine andere Gesellschaft ist im Umfeld dieses ersten Wirtschaftsministers der Frente Amplio nicht mehr die Rede. In einem Interview mit der konservativen Wochenzeitung Búsqueda im August 2005 erklärte er: „Wenn man ernsthaft etwas für die armen Uruguayer tun will, dann müssen wir Abkommen mit dem Internationalen Währungsfonds abschließen. Man muss das Klima für Investitionen fördern, damit Arbeitsplätze geschaffen werden, und so dazu beitragen, die Armut zu verringern und zu beseitigen. Das ist für mich Linkssein.“ Astori hat das geflügelte Unwort Margaret Thatchers verinnerlicht: „There is no alternative.“

Diese Richtung zeichnete sich schon kurz nach dem ersten Wahlsieg der Frente ab. Im Wahlkampf hatte Tabaré Vázquez die Milliardeninvestition des finnischen Zellulosekonzerns Botnia, die sein konservativer Amtsvorgänger Jorge Batlle genehmigt hatte, noch heftig kritisiert: Die entwickelte Welt „investiert hier in Industrien, die unsere Umwelt zerstören“. Kaum an der Regierung, war ihm die Investition plötzlich hochwillkommen. Mit dem Versprechen eines Jobwunders überzeugte der neu gewählte Präsident zahlreiche Kritiker. Tatsächlich waren zeitweise über 5 000 Arbeiter auf der riesigen Baustelle beschäftigt, heute sind es nur noch rund 300 Facharbeiter. Die Arbeitslosigkeit am Standort Fray Bentos liegt inzwischen bei 14 Prozent, es ist die höchste im ganzen Land.

Für das Unternehmen, das inzwischen vom UPM-Konzern übernommen wurde, war es ein lohnendes Geschäft. Der Multi kann seine Gewinne problemlos ins Ausland transferieren. An Steuern muss er jedenfalls keinen Peso abführen, produziert er doch in einer steuerfreien Freihandelszone. Zwar pumpt das Unternehmen jährlich fast 100 Millionen Dollar in die uruguayische Wirtschaft, über Löhne, für Transport, Zulieferer, Reparaturen. Andererseits finanziert der uruguayische Staat die Infrastruktur für das gigantische Werk am Uruguay-Fluss: Unterhalt und Ausbau von Straßen und Zufahrten. Der uruguayische Schriftsteller Eduardo Galeano sieht darin eine Entwicklung „ganz nach kolonialem Vorbild“. Er hatte schon kurz nach dem Frente-Wahlsieg vor Entscheidungen gewarnt, „die in fünfzehn oder zwanzig Minuten getroffen werden, deren Konsequenzen jedoch Jahrhunderte währen“.

Das gilt auch für die „Holzzuchtanstalten“ (Galeano) der Zellulosekonzerne, die sich über das ganze Land ausbreiten. Der ungehinderte weite Blick über ein sanft hügeliges Weideland wird immer häufiger von Mauern aus Eukalyptus und Pinien versperrt. Kostbares Wasser werde für die Wassersäufer verschwendet, die Böden würden ausgelaugt und mit Pestiziden verseucht, klagen Umweltverbände. Doch diese werden in Uruguay als Feinde angesehen, das Umweltbewusstsein ist hier nicht sonderlich ausgeprägt. Uruguay hat auch kein eigenes Umweltministerium. Umweltfragen werden vom Wohnungsbauminister bearbeitet. Und Bedenken werden in Politikerkreisen schnell vom Tisch gefegt – nach dem altlinken Motto: Die Schlote müssen erst einmal rauchen. Wie auch im Fall eines neuen Milliardenprojekts: Ein indisches Konsortium will im küsten- und strandnahen Rocha im offenen Tagebau Eisenerz abbauen. Noch wirbt das kleine Land mit dem Slogan „Uruguay natural“. Der Tourismus ist inzwischen zum wichtigsten Wirtschaftszweig aufgestiegen.

Aber auch andere Monokulturen, die sich in die uruguayische Landschaft fressen, könnten den Ruf des „natürlichen Uruguays“ beschädigen: Mit Soja, Mais und Reis lassen sich derzeit blendende Geschäfte machen. Die Grundbesitzer freuen sich über starke Steuererleichterungen. Die Konzentration hat zugenommen. Moderne Latifundisten, Holz- und Sojaproduzenten, teilen das Land unter sich auf – das Nachsehen haben die Kleinbauern. Von einer Agrarreform, einst fester Bestandteil des Frente-Programms, reden nur noch ein paar „Radikale“.6

Selbst wenn eine Regierung tatsächlich aus der umstrittenen Plantagenwirtschaft aussteigen wollte – sie müsste sich auf teure Konsequenzen einstellen. Bei einem Verstoß gegen Investitionsschutzabkommen, wie sie mit Finnland und den USA geschlossen wurden, drohen Klagen wegen entgangener zu erwartender Gewinne – vor einem Schiedsgericht, das alles andere als neutral und bei der Weltbank in Washington angesiedelt ist: dem „Internationalen Zentrum zur Beilegung von Investitionsstreitigkeiten“ (ICSID). Ausgebliebene Gewinne können sich schnell auf Milliarden summieren. Derartige Knebelverträge sind auch andere „progressive“ Regierungen der Region eingegangen. Nur die Regierung Boliviens kehrte dem Schiedsgericht den Rücken.

Doch auch für Astori lief nicht alles nach Wunsch: Der Freihandelsvertrag mit den USA stieß in den eigenen Reihen auf heftigen Widerstand. Und die Gegner hatten überzeugende wirtschaftliche Argumente. Die wichtigsten Handelspartner Uruguays sind nach wie vor die Nachbarn Argentinien und Brasilien. Mit beiden Mercosur-Partnern hätte es im Falle eines Vertrags mit den USA Schwierigkeiten gegeben. Stattdessen setzte Uruguays Regierung im Januar 2007 ihre Unterschrift unter das Trade and Investment Framework Agreement (Tifa), eine Art Freihandelsvertrag light.

Dass eine andere Entwicklung möglich ist, bewies die Vázquez-Regierung mit dem Alur-Zucker-Komplex in Bella Unión. Sie päppelte mit Staatsgeldern die heruntergekommene Industrie auf, schuf zahlreiche Arbeitsplätze und half damit einer entlegenen verarmten Provinz wieder auf die Beine. Alur ist allerdings eine Ausnahme. Kritiker vermissen bislang ein klar umrissenes Entwicklungsmodell und einen starken Staat, der die Industrialisierung diversifizierter und innovativer Produkte fördert und sich nicht nur auf Auslandsinvestitionen verlässt.

Mancher enttäuschte Frente-Wähler schöpfte neue Hoffnung, als sich José „Pepe“ Mujica, der unter Tabaré Vázquez Landwirtschaftsminister war, 2009 als Kandidat der Frente durchsetzte. Seine polemischen, scharfzüngigen und auch witzigen Auslassungen, gespickt mit Worten der Umgangssprache, hatten ihm insbesondere in der jungen Wählerschaft Sympathien eingetragen. Er gilt als bescheiden und nicht korrupt. Auf seinem kleinen Bauernhof am Stadtrand züchtet er Blumen – auch als Präsident. Zur ersten Sitzung im Abgeordnetenhaus fuhr er 1995 auf einem klapprigen Motorrad vor.

Hoffnungsträger Pepe Mujica

Als er 1985 aus der jahrelangen brutalen Kerkerhaft entlassen wurde, hatte er der bewaffneten Revolution abgeschworen und sich für einen reformerischen Umbruch entschieden. Dafür sei er bereit, „einige Kröten zu schlucken“. Und er fügte hinzu, dass in Uruguay erst einmal ein „richtiger Kapitalismus“ realisiert werden müsse, bevor man an einen tiefgreifenden Wandel denken könne: „Sozialismus kann man nicht in einer armen, unwissenden Gesellschaft verwirklichen.“ Dennoch hofften viele auf einen Linksruck.

Im Wahlkampf trat „El Pepe“ auch in der Funsa-Fabrik auf. Funsa ist eine alteingesessene Reifenfabrik, die nach der Pleite im Krisenjahr 2002 von einem Teil der Belegschaft übernommen wurde. Das selbstverwaltete Unternehmen kam mit einer Finanzspritze aus Venezuela wieder auf die Beine. Den Funsa-Arbeitern machte der Kandidat Mut: „Es gilt Dinge anzupacken, die wir noch nicht beherrschen: Die Arbeiter müssen lernen, ihr eigener Chef zu sein und nicht von den Entscheidungen anderer abzuhängen. Das hat dieses Land bitter nötig, es mangelt doch an Initiativen. Wer Geld hat, verschiebt es ins Ausland. Es gibt hier eine kleinmütige Bourgeoisie, die nichts riskiert.“

Mujicas Wahlsieg war erst möglich geworden, als er Astori, den unterlegenen Gegenkandidaten, als seinen Vize präsentierte. Das hatte seinen Preis: Die Wirtschaftspolitik liegt nun weitgehend in Händen von Astori-Vertrauten. Deshalb war der Auftritt Mujicas vor geladenen Vertretern von ausländischen Unternehmen im luxuriösen Seebad Punta del Este nicht für alle eine Überraschung. Der frisch gebackene Präsident sicherte die Fortführung des bisherigen Wirtschaftsmodells zu: „Wir bitten Sie, setzen Sie auf Uruguay!“ Vor allem argentinische Kapitalisten waren begeistert. Sie konnten aufatmen, weil auch die neue Regierung am Bankgeheimnis nicht rütteln, geschweige denn Banken nationalisieren würde. Für argentinische Steuerflüchtlinge ist Montevideo weiterhin ein sicherer finanzieller Hafen.

Der linke Flügel der Frente drängt allerdings darauf, die Steuern auf Unternehmensgewinne zu erhöhen, damit Geld für staatliche Entwicklungsprojekte fließt. Uruguay liegt mit 25 Prozent unter dem regionalen Durchschnitt (34 Prozent).

Vor allem die Sojabauern haben überdurchschnittliche Gewinne eingefahren. Von höheren Abgaben wollen sie nichts wissen. Es sei „Steueropportunismus“, wetterte auch Vizepräsident Astori, wenn man einen Sektor, „dem es gut geht, mit Steuern bestraft“. Man könne die Spielregeln der Wirtschaftspolitik doch nicht so einfach ändern, ergänzte der Astori-Vertraute Asti. Diese sei der Garant für den derzeitigen Wirtschaftsboom und das gute Investitionsklima. Recht gaben ihm die renommierte brasilianische Getúlio-Vargas-Stiftung und das deutsche ifo-Institut in ihrem kürzlich erschienenen, von fast zweihundert Experten erarbeiteten „Index des Wirtschaftsklimas“: Uruguay sei das beste Land in Lateinamerika, um Geschäfte zu machen.7

Auf wenig Gegenliebe der gemäßigten Frente-Parteien stößt auch der Vorstoß für eine verfassunggebende Versammlung, wie sie im Regierungsprogramm gefordert wird. In Venezuela, Ecuador und Bolivien sollen neue Verfassungen den Weg für tiefgreifende Veränderungen frei machen. Sie sehen darin einen Meilenstein auf dem Weg zum „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“, wofür die alten Verfassungen nur geringe Voraussetzungen boten. Die reformierten Grundgesetze setzen mehr auf direkte politische Partizipation, erkennen die Rechte der indianischen Völker an und erweitern den Spielraum für ökonomische Alternativen, beispielsweise durch verschiedene gleichberechtigte Eigentumsformen: private, kooperative und staatliche, sowie indianisches Gemeinschaftseigentum.

Bolivien gewann so die staatliche Kontrolle über wichtige Wirtschaftszweige wie die Gas- und Erdölindustrie zurück. Dadurch fließt mehr Geld in die Staatskasse. Bei der Agrarreform musste die Morales-Administration allerdings Abstriche machen: Die riesigen Ländereien der mächtigen Sojalobby im reichen östlichen Tiefland blieben praktisch unangetastet.

Der antikapitalistische Durchbruch ist noch fern. Sozialismus ist unter den drei als populistisch verschrienen Regierungen nicht mehr als eine Baustelle, voller Wunschvorstellungen und mit zahlreichen Fehlentwicklungen behaftet. Hindernisse, die von den tief sitzenden kapitalistischen Strukturen herrühren, wurden unterschätzt. Doch trotz aller politischen Differenzen ist ein loser Block linker und Mitte-links-Regierungen entstanden, die gegenüber den USA erstmals selbstbewusster auftreten. Auch die Mujica-Regierung setzt mit Nachdruck auf die Integration des Subkontinents und wendet sich damit vom Kokettieren der Vázquez-Regierung mit Washington ab.

Dieser politische Aufschwung lässt sich nicht ohne den anhaltenden Wirtschaftsboom erklären. Allen „gemäßigten“ wie „radikalen“ Linken in Lateinamerika ist gemeinsam, dass sie vor allem ihre Rohstoffe ausbeuten – ob im Bergbau oder in der Landwirtschaft.8 Uruguay ist da keine Ausnahme. Und: Wenn die Weltmarktpreise fallen, sind auch die zahlreichen Sozialprogramme gefährdet. Nur wenige Rohstoffe und Agrargüter werden im Land verarbeitet. Allein Bolivien versucht das alte extraktivistische Modell zu durchbrechen, beispielsweise beim Lithium, dem begehrten Rohstoff für Elektroautos, und will sogar die Batterien in Eigenregie entwickeln. Doch die angestrebte Industrialisierung stellt das Land vor ungeahnte finanzielle und technologische Herausforderungen.

Dass es in Uruguay erst gar nicht zu Experimenten wie in Bolivien und Venezuela kommt, dafür könnte Tabaré Vázquez sorgen. Der ehemalige Präsident, der erneut Ambitionen auf das höchste Staatsamt durchblicken ließ, wagte jüngst einen Vorstoß für eine andere Reform. Er möchte ideologischen Ballast abschütteln: „Das 20. Jahrhundert ist vorüber, wir leben in einem neuen Jahrhundert, in einer neuen Realität? Ich respektiere enorm das Denken der Compañeros der Kommunistischen Partei und ihre allen bekannte Position, die eindeutig und aufrichtig ist. Aber ich glaube, die Realität zwingt uns, darüber zu diskutieren, ob die Praxis dieser Ideologie noch der Realität unserer Zeit entspricht.“ Danilo Astori pflichtete ihm bei.

Die MPP, stärkste Kraft in der Linkskoalition, gab dagegen auf ihrem Kongress im Dezember 2010 „das strategische Ziel der nationalen Befreiung und des Sozialismus“ vor. Weder sehr langsam noch sehr eilig wollen die Genossen dafür kämpfen, „den Kapitalismus zu überwinden und zu einer Gesellschaft ohne Klassen, ohne Ausbeutung, ohne Unterdrückung überzugehen“.

Pepe Mujica beeilte sich, zu versichern, er wolle keinesfalls das Huhn schlachten, das goldene Eier lege. „Ich bin ein Freund der Bosse, ich muss doch den Reichtum meines Landes vermehren!“ Wenig später outete er sich – und wohl nicht zufällig in Caracas – „als zutiefst sozialistisch“. Von ihm stammt allerdings auch der Satz: „Sage ich dir das eine, so sage ich dir auch das andere.“ Das scheint auch das irritierende Motto anderer Regierungen in der Region zu sein. Vielleicht spiegelt es auch nur den Widerspruch zwischen Reformwillen und kapitalistischer Realität. Pragmatisch? Opportunistisch? Auf jeden Fall ein gewagter Seiltanz.

Fußnoten: 1 Das „oligarchische Geflecht“ entmachten wollte ihr Präsidentschaftskandidat Líber Seregni, ein ehemaliger General. Deshalb sollten Außenhandel und Banken nationalisiert und eine Agrarreform durchgeführt werden. Die Frente Amplio verstand sich damals als „antioligarchisch“ und „antiimperialistisch“. Sie hat sich jedoch nie insgesamt für Sozialismus ausgesprochen, eine Mehrheit der Mitgliedsparteien aber schon. Die Tupamaros, die ihre revolutionären Forderungen bewaffnet durchzusetzen versuchten, signalisierten aus Gefängnis und Untergrund ihre „kritische Unterstützung“, auch wenn „wir nicht glauben, dass die Revolution durch Wahlen erreicht werden kann“. 2 Der Achtstundentag war fortan gesetzlich abgesichert, Arbeitslose wurden vom Staat unterstützt und eine Altersrente ab dem 60. Lebensjahr gewährt. Die Analphabetenrate sank auf europäisches Niveau. Noch 1956 hatte Uruguay das höchste Pro-Kopf-Einkommen in Südamerika. Die Kindersterblichkeit war so gering wie sonst nirgendwo auf dem Subkontinent. 3 Als Reaktion auf die neoliberalen Verwüstungen legten auch die anderen „progressiven“ Regierungen Sozialprogramme auf – „Null Hunger“ und „Bolsa Família“ in Brasilien oder „Jefes y Jefas de Hogar“ in Argentinien. 4 Nach Zahlen des Instituts des Gewerkschaftsbunds PIT-CNT „Cuesta Duarte“. Ungleichheit zeigt sich auch beim Wohnen, bei Gesundheit und Erziehung. Beispielsweise beenden nicht einmal 70 Prozent der ärmsten Kinder die Grundschule. 5 Zitiert nach La diaria, Montevideo, 20. Oktober 2010. 6 „Früher gab es einen Aufschrei, wenn ein Großgrundbesitzer 10 000 Hektar besaß“, erinnert sich der kommunistische Senator Eduardo Lorier. 250 000 Hektar Baumplantagen besitzt Montes del Plata, ein Zusammenschluss des schwedisch-finnischen Zellulosekonzerns Stora Enso und der umstrittenen chilenischen Unternehmensgruppe Arauco. 7 Zitiert nach La República, Montevideo, 22. Februar 2011. 8 „Das ist wie ein Potosí des 21. Jahrhunderts“, fürchtet der Soziologe Gustavo Leal: Der Silberberg in Bolivien machte die Kolonialmacht Spanien reich, hinterließ im Andenland aber nur bittere Armut. Karl-Ludolf Hübener arbeitet als Freier Journalist für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk in Deutschland. Er lebt in Montevideo. © Le Monde diplomatique, Berlin

Le Monde diplomatique vom 10.06.2011, von Karl-Ludolf Hübener