Sonderfall Russland
Der demografische Niedergang hat nicht nur mit niedrigen Geburtenzahlen zu tun von Philippe Descamps
Man muss nicht erst in unzugängliche Gegenden mit Extremklima reisen, um eine Vorstellung von der demografischen Krise Russlands zu bekommen. Nur 160 Kilometer von Moskau entfernt, im Verwaltungsbezirk Twer, kamen in den letzten Jahren auf jede Geburt mehr als zwei Todesfälle. Nach den ersten Ergebnissen der Volkszählung vom Herbst 2010 leben hier heute nur noch 1,32 Millionen Einwohner, 300 000 weniger als vor 20 Jahren.
In der Regionalbahn, der Elektritschka, aus Moskau verkaufen alte Frauen irgendwelche Küchenutensilien, um ihre magere Rente mit ein bisschen schwarz verdientem Geld aufzubessern. Auf der zugefrorenen Wolga schlagen Fischer Löcher ins Eis. Die bunten Holzhäuser in den Dörfern heben sich ab gegen das Grau der strengen Betonhochhausriegel rund um die Stadt. Die meisten dieser Holzhäuser stehen jedoch seit Langem leer: „In der Hälfte der 9 500 Dörfer in dieser Region wohnen oft weniger als zehn Leute dauerhaft“, erklärt Anna Tschukina, Geografin an der Universität von Twer.
Seit dem Ende der Sowjetunion im Dezember 1991 hat Russland fast 6 Millionen Einwohner verloren. Die Rückkehr von Russen aus den ehemaligen Sowjetrepubliken und ein positiver Migrationssaldo konnten den negativen natürlichen Saldo nicht ausgleichen. Auf einem Gebiet, das mehr als doppelt so groß ist wie China (mit 1,3 Milliarden Einwohnern), leben gerade einmal 142,9 Millionen Menschen.1
Nach den Hochrechnungen der Vereinten Nationen wird die Bevölkerungszahl Russlands bis 2025 im schlimmsten Fall auf 120 Millionen schrumpfen (ein mittleres Szenario kommt auf 128,7 Millionen) und danach schneller sinken. Die russische Statistikbehörde Rosstat geht von 140 Millionen Einwohnern aus.
In seiner Jahresrede vor der Duma im Mai 2006 bezeichnete der damalige Präsident Putin die Bevölkerungsentwicklung als „dringlichste Aufgabe“ und legte die Prioritäten fest: „Zunächst einmal müssen wir dafür sorgen, dass die Sterberate abnimmt. Dann brauchen wir eine vernünftige Einwanderungspolitik und mehr Geburten.“ Gegenüber einer in dieser Hinsicht eher unbesorgten Bevölkerung nahmen fortan die Medien und Entscheidungsträger das Geburtenthema äußerst wichtig – hier herrschte absoluter Konsens. Auf die zunehmende soziale Ungleichheit im neuen Russland wies in diesem Zusammenhang aber niemand hin.
Selbst bei klirrender Kälte begegnen einem auf den verschneiten Bürgersteigen von Twer und an den Ufern der Wolga viele Kinderwagen, auf Rädern oder Kufen. Lydia Samochkina, beim Gesundheitsamt zuständig für die Kinderfürsorge, ist optimistisch: „Man sieht immer mehr Familien mit zwei oder drei Kindern. Seit vier, fünf Jahren sinken die Geburtenraten nicht mehr. Der Wirtschaft geht es jetzt besser. Der Staat hilft den Familien.“
Die neue Bevölkerungspolitik erinnert ein wenig an die Verherrlichung der „sozialistischen Familie“ zu Sowjetzeiten. Mit der Einführung des „Mutterkapitals“ kommen finanzielle Hilfen vor allem Eltern mit mehreren Kindern zugute. Seit 2007 steigt die Geburtenrate wieder. Nachdem sie 1999 auf 8,6 Kinder pro 1 000 Einwohner gefallen war, lag sie 2010 wieder bei 12,6. Die Fertilitätsrate ist von 1,16 auf 1,53 Kinder pro Frau gestiegen.
Dennoch sind die Demografen skeptisch. Meistens sorgen finanzielle Anreize dafür, dass vorhandene Nachwuchspläne vorgezogen werden. Auch die Geburtenförderung unter dem letzten sowjetischen Generalsekretär Michail Gorbatschow hatte Ende der 1980er Jahre zunächst zu einem Geburtenzuwachs geführt, bevor wieder ein deutlicher Rückgang erfolgte. Die Geburtenrate in Russland hat sich ähnlich wie in den meisten Industrieländern entwickelt.
In Haiti leben Männer länger als in Twer
Seit der kulturellen Revolution der Geburtenkontrolle war die Fertilitätsrate schon ab Mitte der 1960er Jahre unter die für die Erneuerung einer Generation nötige Schwelle (2,1 Kinder pro Frau) gefallen. Der einzige Unterschied zum Westen war die geringe Verbreitung von Verhütungsmitteln: Weil die Behörden das Misstrauen gegenüber der Antibabypille schürten, waren damals Abtreibungen weit verbreitet. Schwangerschaftsabbrüche waren seit 1920 erlaubt, wurden von Stalin 1936 verboten und 1955 erneut legalisiert. Die Statistiken blieben bis 1986 geheim. Schätzungen gehen aber davon aus, dass beispielsweise im Jahr 1965 die Zahl der Abtreibungen in der Russischen Sowjetrepublik bei 5,4, Millionen lag. Bis Mitte der 1970er Jahre wurden im Durchschnitt pro Frau mehr als vier Abbrüche vorgenommen. Erst mit dem Ende der UdSSR wurden Verhütungsmittel verbreiteter. Seit 2007 liegt die Zahl der Schwangerschaftsabbrüche unter der Geburtenrate und ist weiter rückläufig (1,29 Millionen im Jahr 2009).
Die niedrige Geburtenrate fällt nicht aus dem europäischen Rahmen, doch die sehr hohe Sterblichkeit – besonders bei Männern – ist ein russischer Sonderfall. Mit 62,7 Jahren hatten russische Männer (Frauen 74,6 Jahre) 2009 europaweit die niedrigste Lebenserwartung. Selbst weltweit lagen sie damit unter dem Durchschnitt (66,9 Jahre 2008). Während die Bürger der westlichen Industrienationen seit Mitte der 1960er Jahre ein Jahrzehnt an Lebenserwartung hinzugewonnen haben, haben russische Männer heute nicht einmal wieder das Niveau von 1964 erreicht.
In Twer erklären sich die Leute den Einwohnerschwund mit dem Wegzug der Jungen in die etwa 200 Kilometer entfernt liegende Hauptstadt. Tatsächlich zieht es die Jüngeren und Umtriebigeren nach Moskau oder Sankt Petersburg, wo sie ein besseres Gehalt oder eine interessantere Arbeit zu finden hoffen. Aber dieser Verlust wird durch die Immigration aus anderen russischen Regionen oder Zentralasien mehr als ausgeglichen. Hauptgrund für den Bevölkerungsrückgang ist die niedrige Lebenserwartung der männlichen Bevölkerung, die im Jahr 2008 im Verwaltungsbezirk Twer bei 58,3 lag, noch unter der in Benin oder Haiti.2
In den 1950er Jahren machte Russland rasante Fortschritte im Kampf gegen Infektionskrankheiten. Als Leonid Breschnew 1964 Parteichef der KPdSU wurde, hatten die Sowjetrepubliken dank einer verbesserten Gesundheitsversorgung, Impfungen und Antibiotika ihren Rückstand gegenüber den westlichen Ländern fast aufgeholt. Seitdem ist der Abstand allerdings wieder stetig größer geworden, in einem Ausmaß, das heute viel problematischer ist als zu Beginn des 20. Jahrhunderts.
Als die sowjetische Wirtschaft in der Amtszeit Breschnews (1964 bis 1982) eine Phase der Stagnation erlebte, wurde auch der Ausbau des Gesundheitssystems zunehmend vernachlässigt. Zivilisationskrankheiten wie Diabetes, Krebs oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen konnten nicht richtig behandelt werden. Die Pflege kam zu kurz, es fehlten die Mittel für neue Geräte und eine moderne medizinische Ausbildung. Hinzu kam, dass der sowjetische Staat unfähig war, den Bürgern Selbstverantwortung für ihre Lebensweise nahezubringen.
In den ersten Jahren nach dem Zerfall der Sowjetunion, zwischen 1991 und 1994, haben die Russen im Durchschnitt sieben Jahre an Lebenserwartung eingebüßt. Zwar stieg in dieser Zeit in allen ehemals kommunistischen Ländern die Sterberate, doch heute stellt sich die Lage, je weiter man nach Osten kommt, desto hoffnungsloser dar. Diese Entwicklung nahm ihren Ausgang in der Jelzin-Ära (1991–1999), als, so schrieb Fréderic Clément in dieser Zeitung, „die Apparatschiks des Präsidenten, die neue Oligarchie und ihre US-amerikanischen Mentoren das Land ruiniert haben“.3 Und der Ökonom Jacques Sapir meint: „Die Menschen erlitten einen Schock, der sich nur mit dem vergleichen lässt, was die sowjetische Bevölkerung zwischen 1928 und 1934 erlebt hatte.“4
1998 war das Bruttoinlandsprodukt im Vergleich zu 1991 um 40 Prozent und der Umfang der Investitionen um 70 Prozent gesunken. Das durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen im kapitalistischen Russland war am Ende der nuller Jahre so hoch wie am Ende der Sowjetzeit.5 Damals wurde zugunsten einer kleinen Gruppe Privilegierter, die größtenteils der alten Nomenklatura entstammten, Raubbau an den öffentlichen Gütern und den natürlichen Ressourcen betrieben. Führungskräfte kamen an die Macht, die, beraten von Ökonomen aus dem Westen wie dem Amerikaner Jeffrey Sachs und den Franzosen Daniel Cohen und Christian de Boissieu (Vorsitzender des Conseil d’analyse économique), aus Russland das Land der größten sozialen Ungleichheit Europas machten.
Auf den wirtschaftlichen Niedergang folgte die Zunahme tödlicher Gewalt. Heute verzeichnet Russland weltweit die zweithöchste Suizidrate bei Männern, europaweit die meisten Verkehrstoten (33 000 im Jahr) und die meisten Tötungsdelikte.6 Viele Russen sind aus der Bahn geworfen, die Ängste haben zugenommen. Soziales Kapital ging verloren, die alten Beziehungsnetzwerke lösten sich auf. Nirgendwo auf der Welt sind heute so wenig Menschen in Vereinen aktiv wie in Russland – selbst im Sportbereich, erzählt die Journalistin Anna Piunowa, die online für ein Bergsteigerportal schreibt: „Mit Ausnahme der Reichen kümmern sich die Russen nicht mehr um Fitness. Russland ist wegen seiner elitären Sportpolitik und frühen Auslese bei Wettkämpfen immer noch gut vertreten, aber es gibt keinen Breitensport mehr.“
Der Wodkakonsum bleibt das Gesundheitsproblem Nummer eins. Nach den Restriktionen unter Gorbatschow hat der Konsum in den 1990er Jahren wieder deutlich zugenommen. Der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zufolge stirbt einer von fünf Männern an den Folgen von Alkohol (im weltweiten Durchschnitt einer von 16). Nirgendwo in Europa wird so viel hochprozentiger Alkohol konsumiert wie in Russland, dazu in Mengen, die mehr als einen gewöhnlichen Rausch auslösen.
Um sich ein Bild von den extremen Klassenunterschieden im neuen Russland zu machen, muss man mit dem Hochgeschwindigkeitszug Sapsan (Wanderfalke) nach Moskau fahren. Alle anderen quetschen sich in die heruntergekommenen Elektritschkas, doch die „Neuen Russen“ rasen mit ihren Laptops vor der Nase mit 250 Stundenkilometern nach Moskau. Sie sparen 30 Minuten Fahrtzeit und zahlen dafür den sechsfachen Preis. Und während diese neue Nomenklatura im Sommer 2010 ihre Ferien an der Côte d’Azur oder am Schwarzen Meer verbrachte, starben in der Region Moskau und im Süden des Landes 55 000 Menschen mehr als im vorangegangenen Sommer, weil das öffentliche Gesundheitswesen der Hitzewelle nicht gewachsen war.
Für ihre Bildung und Gesundheit können die Neuen Russen teure, aber qualitativ hochwertige private Angebote nutzen, wohingegen die große Mehrheit auf den stark geschwächten öffentlichen Sektor angewiesen ist. Im Gesundheitsranking der Vereinten Nationen rangiert die Russische Föderation auf Platz 122 und steht damit noch schlechter da als 1970.
Wegen chronischen Geldmangels und Misswirtschaft im Gesundheitswesen beschloss die Jelzin-Regierung 1993 das staatliche, zentralisierte System der obligatorischen Krankenversicherung, das durch Arbeitnehmerbeiträge finanziert wurde, zu reformieren. Doch der darauffolgende unkontrollierte Wettbewerb unter den neugegründeten Privatversicherungen machte die Gesundheitsversorgung nur noch teurer und ineffizienter. Während viele Industrieländer aufgrund der wachsenden Anforderungen in Pflege und Behandlung die öffentlichen und privaten Ausgaben im Gesundheitswesen erhöhten, geschah in Russland das Gegenteil: In den meisten entwickelten Ländern liegt der Anteil bei über 10 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (knapp 11 Prozent in Deutschland, 16 Prozent in den USA), doch in Russland, wo er schon vor 1991 sehr niedrig war, sank er im Jahr 2000 auf 2,7 Prozent (2010 ist er wieder auf 4,5 Prozent angestiegen).7
Der Ferne Osten kämpft gegen die Leere
Die wirtschaftliche Sanierung der letzten Jahre und die Rückkehr des Staats haben sich bereits positiv bemerkbar gemacht. Dank spezieller Programme für eine bessere und zunehmend flächendeckende medizinische Versorgung konnten Herz-Kreislauf-Erkrankungen sowie die Zahl der Verkehrstoten reduziert werden. Die Kindersterblichkeit wurde in 15 Jahren halbiert, 2010 lag sie bei 10,3 Sterbefällen auf 1 000 Lebendgeburten. In Twer ist das Perinatalzentrum zur Versorgung von Früh- und Neugeborenen gut ausgerüstet. Außerdem wird ein Zentrum für Herz-Kreislauf-Erkrankungen eingerichtet – fünf sind für die Region insgesamt eingeplant.
In der russischen Gesundheitspolitik vollzieht sich gerade die lang erwartete Wende. Am 1. Januar 2011 wurden die Beiträge zur Krankenversicherung von 3,1 auf 5,1 Prozent des Gehalts erhöht: „Diese Maßnahme wird der nationalen Krankenversicherung zusätzlich 460 Milliarden Rubel (11,5 Milliarden Euro) einbringen. Das Geld wird in erster Linie für die Sanierung und Computerisierung der Gesundheitszentren und dann für die Verbesserung der Behandlungsstandards verwendet werden“, erklärt Sofja Malawina, Beraterin beim russischen Gesundheitsministerium. Ein wichtiger neuer Baustein ist die geplante Einrichtung von 500 Diagnostikzentren für Vorsorgeuntersuchungen. In Russland gilt zukünftig die freie Arztwahl, ohne dass die Patienten dafür ein Vermögen ausgeben müssen.
Im Bereich Prävention steht eine ganze Fülle von Aufgaben an: Die Arbeitsmedizin wurde schon aufgewertet, mit einem Gesundheitsausweis können sich Jugendliche regelmäßig durchchecken lassen, und in „Gesundheitsschulen“ werden alte Menschen beraten. Im April 2011 veranstaltete die WHO in Moskau sogar die erste globale Ministerkonferenz über „gesunde Lebensführung und die Bekämpfung nicht übertragbarer Krankheiten“ (wie Diabetes, Fettleibigkeit oder Osteoporose).
Medizinische Programme allein werden aber nicht ausreichen, damit es den Russen gesundheitlich besser geht. Es müssen sich auch die sozialen Verhältnisse ändern. Maßnahmen wie staatliche Unterstützung für die Ärmsten (Alleinstehende, Rentner und die Landbevölkerung) und steuerliche Umverteilung „von oben nach unten“ scheinen bislang allerdings nicht auf der Agenda zu stehen.
Mit Ausnahme von ein paar Ölregionen in Sibirien und von Moskau, das „Weltmetropole“ sein will und in den letzten 20 Jahren 1,5 Millionen Einwohner hinzugewonnen hat (nach der letzten Zählung leben in der Hauptstadt insgesamt 11,5 Menschen), verzeichnet allein der Süden wachsende Bevölkerungszahlen. Besonders viele kinderreiche Familien gibt es unter den Bergvölkern im Nordkaukasus, denen die Russen seit den Tschetschenienkriegen mit ängstlichem Respekt begegnen.
Die große Herausforderung für die Entwicklung Russlands wird darin bestehen, dass es sich wirtschaftlich nicht ausschließlich auf die Einnahmen aus der Öl- und Gasförderung stützt. Dass der industrielle Sektor zugunsten der Exploration von Bodenschätzen zurückgefahren wurde, hat in Russland die Ungleichheit zwischen den ressourcenreichen und -armen Regionen verschärft.
Die im Polarkreis gelegene Region Murmansk zum Beispiel hat in 20 Jahren ein Viertel seiner Bevölkerung verloren. In der Region Magadan, die durch den Gulag Kolyma traurige Berühmtheit erlangte, leben zwei Drittel weniger Menschen als zu Sowjetzeiten, und der Ferne Osten Russlands, dessen Fläche größer ist als die gesamte heutige Europäische Union, erlebte einen Bevölkerungsverlust von 20 Prozent und zählt nur noch 6,4 Millionen Einwohner. Die Bevölkerungsdichte in dieser Region, die sich in einem „ständigen Kampf gegen die Leere“8 befindet, beträgt noch nicht einmal ein Prozent derer des Nachbarn China.
Was aus den Mono-Industriestädten wird, ist ebenfalls eine offene Frage. Es würde gewaltige Investitionen erfordern, die Kupfergießereien in Berg-Karabach oder die Hochöfen von Magnitogorsk (russ. „die Stadt am magnetischen Berg“) und vieler ähnlicher Städte umweltgerecht zu restaurieren. Die Lage scheint so aussichtslos, dass in regelmäßigen Abständen laut über „Massenumsiedlungen von Arbeitslosen“9 nachgedacht wird, in wirtschaftlich mehr diversifizierte Städte oder regionale Großstädte.
Beim Thema Einwanderung scheut die Regierung eine klare Haltung. Ihre Art und Weise, sich der demografischen Herausforderung zu stellen, besteht vielmehr darin, sich in Zeiten zunehmender Ausländerfeindlichkeit bei ethnischen Nationalisten anzubiedern. So lobt Ministerpräsident Putin die „Rückkehr der Landsleute“ und fordert die gezielte Einwanderung von „Gebildeten und Gesetzestreuen“. Das Potenzial an russischen Rückkehrern ist allerdings seit langem erschöpft: Die Russen, die in den benachbarten ehemaligen Sowjetrepubliken lebten, sind bereits in den 1990er Jahren zurückgekehrt. Die Einwanderer kommen heute in erster Linie aus den armen Gegenden Zentralasiens (Usbekistan, Kasachstan, Tadschikistan) und aus der Kaukasusregion. Sie arbeiten größtenteils unter miserablen Bedingungen im Straßenbau.
„Russland war immer multikulturell“, sagt Alexander Werchowski vom Sova-Zentrum, das sich mit Fremdenfeindlichkeit in Russland beschäftigt. „In der UdSSR gab es eine Staatsbürgerschaft, eine Sprache, in der sich alle verständigen konnten, und einen Bildungskanon. Heute stehen die Migranten, selbst wenn sie aus der russischen Föderation kommen, der zentralrussischen Gesellschaft zunehmend fremd gegenüber. Viele, die nicht russisch aussehen, fürchten, dass man sie irgendwie als Außerirdische betrachtet.“ Die Heuchelei ist besonders eklatant, wenn es um illegale Einwanderung geht. Zwar wird sie einmütig angeprangert, doch es wird weder etwas gegen die Ausbeutung der Illegalen unternommen noch ein vernünftiges Integrationsprogramm entwickelt.
Noch scheint die russische Gesellschaft nicht reif zu sein für eine ambitionierte Einwanderungspolitik. Doch die demografische Entwicklung wird sich nicht umkehren lassen. Und es wird auch nicht ausreichen, sie lediglich abzuschwächen. Russland wird nicht umhinkönnen, gegen seine zum großen Teil bereits jetzt schon unwiederbringliche innere Entvölkerung Maßnahmen zu ergreifen.