Zu viele Menschen?
Kleine Geschichte demografischer Theorien von George Minois
Sind wir zu viele? Ist es unter gewissen Umständen nötig, die Geburtenzahlen zu kontrollieren? Sollten nur diejenigen zum Kinderkriegen ermutigt werden, die entsprechende biologische, soziale und erzieherische Voraussetzungen mitbringen? Hat der Mensch das Recht, in den Zeugungsprozess einzugreifen? Diese Fragen stellen sich, seit es organisierte Staaten mit kulturellen und moralischen Normen gibt.
Als 2008 Nahrungsmittel vorübergehend knapp wurden und die Umweltzerstörung immer schneller voranschritt, tauchte wieder das Schreckgespenst der Überbevölkerung auf. Der Blick auf die Zahlen ist alles andere als beruhigend: Täglich sind weltweit 218 000 Mäuler zusätzlich zu stopfen, 80 Millionen jedes Jahr, insgesamt leben inzwischen fast 7 Milliarden Menschen auf der Erde, die immer mehr verbrauchen. Die Bevölkerung scheint zu zahlreich für die Ressourcen unseres Planeten.
Die Menschheit hat nicht erst jetzt angefangen, sich wegen der Überbevölkerung Sorgen zu machen. Vier Jahrhunderte vor unserer Zeitrechnung, als es auf der ganzen Welt weniger als 200 Millionen Einwohner gab, empfahlen Platon und Aristoteles den Staaten, die Geburtenzahlen streng zu reglementieren: Die Vorstellung von Überbevölkerung ist eher eine Frage der Kultur als der tatsächlichen Menge. Seit dem biblischen „Seid fruchtbar und mehret euch“ tun die einen das Reden von der Überbevölkerung als bloße Chimäre ab, die anderen, Fürsprecher der Geburtenkontrolle, warnen vor deren Konsequenzen.
Sehr lange Zeit gab es dazu keine Statistiken. Mangels verlässlicher Zahlen wurde die Debatte vor allem philosophisch, religiös oder politisch geführt. Auch heute noch, trotz einer Flut von Daten, bestimmen ideologische und religiöse Orientierungen die Diskussion. Von Überbevölkerung zu sprechen, berührt die fundamentalen Überzeugungen vom Wert des Lebens. Daher die Leidenschaft, mit der das Thema behandelt wird.
Jahrtausendelang fürchtete man vor allem zu geringe Geburtenzahlen. Dennoch gab es zu bestimmten Zeiten regional – wie in Europa Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts – eine deutliche, freilich relative Übervölkerung, die sogar die Überzeugungen der Theologen ins Wanken brachte. Moralische Betrachtungen über Keuschheit und die „Vorzüge der Jungfräulichkeit“ gingen ebenso in die Debatte ein wie die Frage, ob Verhütung zulässig sei. Auch das aus der Bibel abgeleitete Onanieverbot (Onans „Vergehen“ war, dass er seinen Samen auf die Erde fallen ließ) war Teil der Diskussion.
Man meint, vor 40 000 Jahren, als auf der ganzen Erde nicht mehr als eine halbe Million Menschen lebten, könne Überbevölkerung noch keine Gefahr gewesen sein. Die Jäger waren jedoch auf einen Lebensraum angewiesen, der ihnen die Versorgung mit Wild sicherte: Erforderlich waren dazu durchschnittlich 10 bis 25 Quadratkilometer pro Person, was der Größe einer Gruppe Grenzen setzte. Umfasste eine Gruppe, die ausschließlich vom Jagen und Sammeln lebte, mehr als 25 bis 50 Personen, ergaben sich erhebliche Versorgungsschwierigkeiten. Der Begriff Überbevölkerung ist abhängig von variablen Größen und verfügbaren Ressourcen.
Zahlen werden schnell zur Obsession. Die gebirgige Landschaft Griechenlands zwang die antiken Stadtstaaten, sich abzuschirmen. In den Becken und Senken organisierten sich voneinander unabhängige Städte wie geschlossene Zellen von beschränkter Größe, in denen die Enge sehr spürbar war. Diese Situation begünstigte die Bewusstwerdung des demografischen Faktors. Das politische Klima war daher wenig geburtenfreundlich.
In seinen beiden wichtigen Dialogen „Der Staat“ und „Die Gesetze“ definiert Platon die optimale Bevölkerung in Abhängigkeit von Raum und vorhandenen Ressourcen und beschreibt, durch welche sozialen Organisations- und Funktionsweisen sie zu erreichen sei.
Dasselbe unternimmt Aristoteles in seinem Werk „Politik“: „Ein großer Staat ist nicht der, auf dessen Grund und Boden sich viele Menschen aufhalten.“1 Und weiter: „Es ist auch aus der Erfahrung klar, dass es schwer, ja sogar unmöglich sei, einer Stadt, die zu viele Menschen enthält, gute Gesetze zu geben oder sie darin zu Vollziehung zu bringen. […] Eine Stadt, die aus zu vielen Menschen bestünde, […] würde mehr ein Volk als ein städtisches gemeines Wesen sein. Wie wäre es möglich, bei einer solchen übergroßen Menge, bürgerliche Ordnung und Verfassung einzuführen. […] Hinzu kommt, dass, wenn die Anzahl der Menschen übermäßig groß ist, es Fremden und Miteinwohnern leicht wird, die Rechte der Bürger zu usurpieren und sich in die Staatsverwaltung zu mischen, da sie sich leicht unter einer so großen Menge verbergen können.“
Und wo viele Menschen sind, gibt es auch viele Arme und die Gefahr, dass sie aufbegehren. Aristoteles macht sich weniger Sorgen um die Ressourcen und die Nahrungsmittel als um die Aufrechterhaltung der Ordnung. Der demografische Diskurs im antiken Griechenland enthielt bereits die Schlüsselworte, die auch die Debatten der Moderne und Gegenwart bestimmen. Er war eugenisch, malthusianisch und … xenophob.
Mit der Ausdehnung der römischen Herrschaft änderte sich der Maßstab, aber nicht unbedingt die Mentalität. Die Politik förderte eher die Geburten. Das war neu, aber auch bezeichnend für eine Niederlage; denn die römische Geburtenrate blieb im Vergleich zu der anderer Zivilisationen stets niedrig. Der Historiker Titus berichtet in seiner Römischen Geschichte: „Unter seiner [des Königs Ambigatus] Regierung gab es in Gallien so reiche Ernten und so viele Menschen, dass die ungeheure Zahl kaum mehr regierbar schien. Da der König bereits in vorgerücktem Alter war und sein Reich von der Belastung durch die Menschenmenge befreien wollte, erklärte er seine Absicht, den Bellovesus und den Segovesus, die beiden Söhne seiner Schwester, zwei tatkräftige junge Männer, in die Wohngebiete zu entsenden, die ihnen die Götter durch Vorzeichen anweisen würden.“2 Das war politische Propaganda: Die allzu zahlreichen Gallier griffen ihre Nachbarn, die Römer, an. Und die antworteten darauf mit der Invasion Galliens.
Unter dem Einfluss des Christentums gaben die Machthaber Europas zwischen dem 3. und 5. Jahrhundert unserer Zeitrechnung ihren Interventionismus auf. Die Fortpflanzungsfrage wechselte vom staatsbürgerlichen, politischen Feld auf die religiös-moralische Ebene. Eine lebhafte Debatte entfachte sich um die jeweiligen Vorzüge der Jungfräulichkeit, die als höchster Wert gepriesen wurde, der Ehe, die gegenüber der Askese favorisiert wurde, und der Möglichkeit einer zweiten Heirat, die unter Strafe stand.
Doch auch unter diesen rigiden Vorgaben stellte sich die Frage: Bevölkerung oder Entvölkerung? Fruchtbarkeit oder Abstinenz? Für die Christen konnte die Antwort nur in der Bibel zu finden sein. Aber die Heilige Schrift enthält widersprüchliche Aussagen. Die Aufgabe der Kirchenväter war es, mithilfe rhetorischer Tricks und komplizierter Exegese zu beweisen, dass es keine Widersprüche gab und Gottes Wort eindeutig war, selbst wenn er Adam und Eva befiehlt, fruchtbar zu sein und sich zu vermehren, aber den Apostel Paulus im Neuen Testament sagen lässt: „Es ist gut für den Mann, keine Frau zu berühren.“
Die relative Überbevölkerung im Mittelalter hatte sehr konkrete Auswirkungen. Ab Ende des 11. Jahrhunderts wurden die Abendländer ihrer numerischen Überlegenheit gewahr und formten sie zur Waffe. Papst Urban II. schickte im Jahr 1095 Horden von Rittern (samt Gefolge) nach Jerusalem. Die Kreuzzüge bedeuteten einen ständigen Menschenstrom von West nach Ost und wären ohne den Bevölkerungsüberschuss in den christlichen Ländern nicht möglich gewesen.
In der westlichen Welt lösten Kleriker, Intellektuelle, Theologen, Philosophen und Gelehrte einander ab beim Theoretisieren über die demografische Frage und navigierten zwischen der Angst vor dem Zuviel und dem Trauma der großen Leere, zwischen den populationistischen Utopien und dem unerschütterlichen Glauben an die göttliche Ordnung als regulative Kraft, die die Anwesenheit des Menschen auf Erden bestimmt. Vulgum pecus, das gemeine Volk, wurde abwechselnd als Plage oder als Reichtum betrachtet. Jeder entwickelte seine Erklärungen und formulierte seine Empfehlungen, obwohl das Werkzeug der Statistik noch sehr mangelhaft war. Bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurde die Auseinandersetzung geführt zwischen denen, die eine zu geringe Bevölkerung als größere Gefahr für das Überleben der menschlichen Gattung hielten, und jenen, die die Überbevölkerung bedrohlicher fanden.
Thomas Malthus’ am Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert entstandenes Werk „Das Bevölkerungsgesetz“ markiert eine Wende in der Geschichte der demografischen Theorien. Die Bevölkerung, so behauptet der britische Ökonom und Pastor, wachse viel schneller als die Lebensmittelproduktion, was zwangsläufig zu Überbevölkerung und Hungersnot führe. Man könne die Entwicklung laufen lassen, dann aber seien die Konsequenzen brutal und schmerzhaft, weil die Natur den „Überschuss an Menschen“ vernichten würde. Man könne die Geburtenrate jedoch auch dadurch kontrollieren, dass man den Armen jede Hilfe verweigere. Das würde sie verantwortliches Verhalten lehren, das darin bestünde, nicht zu heiraten und keine Kinder zu bekommen, wenn man sie nicht auch ernähren und erziehen könne. Nach Malthus ist die rapide Ausbreitung der Armut vor allem eine Gefahr für die Menschheit, sie gehört also ausgemerzt.
Warum der Mensch kein Tier ist
Pierre-Joseph Proudhon, der französische Ökonom und frühe Anarchist, hielt Malthus entgegen, dass das Problem der Überbevölkerung gar nicht existiere. Wenn sich die Armut ausbreite, dann nur wegen des inhumanen Systems von Eigentum und Besitz, das den einen ungerechte Macht über andere gebe. Karl Marx, der sich eigentlich wenig für die demografische Frage an sich interessierte, hielt Malthus für einen Feind der Arbeiterklasse. Er diene sich, schreibt er in „Das Kapital“, der herrschenden Klasse an, versündige sich an der Wissenschaft und diffamiere die menschliche Gattung. Marx wirft Malthus vor, an ein „Bevölkerungsgesetz“ als ein absolutes Naturgesetz zu glauben, das immer und überall gelte und dafür sorge, dass die Bevölkerung stets schneller zunehme als die Ressourcen. Aber: „Ein abstraktes Populationsgesetz existiert nur für Pflanze und Tier, soweit der Mensch nicht geschichtlich eingreift.“ Was zähle, sei nicht die Anzahl der Menschen, sondern die Verteilung der Reichtümer.
Diese Debatten hielten bis Mitte des 20. Jahrhunderts an. Dann kam es zu einem sprunghaften Bevölkerungsanstieg: 1950 lebten 3 Milliarden Menschen auf der Erde, 2000 waren es schon 6 Milliarden. Das war kein Wachstum mehr, das war eine Explosion. Die Demografen, Wirtschaftswissenschaftler und Geografen ebenso wie die Philosophen, Historiker, Ethnologen und natürlich die Politiker stritten um die Deutung des Phänomens. Den Verfechtern von „Seid fruchtbar und mehret euch“, unabhängig von der Lebensqualität, standen die Realisten gegenüber, die Geburtenkontrolle für unabdingbar hielten. Die einen stellten die Vorstellung der Überbevölkerung in Abrede und sprachen stattdessen von Entwicklungsungleichgewichten. Die andern schimpften über den mörderischen Irrsinn der Geburtenförderer, die den Hungertod von zig Millionen Menschen in Kauf nähmen. Ab den 1980er Jahren begannen auch Umwelt- und Ökologiefragen die Debatte zu beeinflussen.
Angesichts des sich vollziehenden demografischen Übergangs (siehe Glossar) zur Jahrtausendwende gaben sich die Antimalthusianer beschwichtigend: Die Geburtenraten brachen überall ein, sogar in den armen Ländern. Diese Entwicklung gab Adolph Landry recht, der schon 1934 die „demografische Revolution“ vorausgesagt und behauptet hatte, mit der enormen Zunahme der Güterproduktion werde sich in Zukunft das Problem des Verhältnisses zwischen Bevölkerung und Ressourcen erübrigen. Von da an müsse die optimale Bevölkerung auf die Verwirklichung von „Glück“ zielen, was nun ein kultureller, qualitativer und kein quantitativer Begriff mehr ist.
Schlechte Aussichten für den Siebenmilliardsten
Um 2050 wird die Weltbevölkerung bei geschätzten 9 Milliarden Menschen, um 2150 bei 10 Milliarden liegen. Wie kann es sein, dass, wie die Mehrheit der Demografen versichert, unser Planet 10 Milliarden Menschen ernähren könnte, aber bereits mit 7 Milliarden „überbevölkert“ ist? Wenn es auf der Erde eine Milliarde Unterernährte und doppelt so viele Arme gibt, dann kann das letztendlich nur an einer schlechten Verteilung der Ressourcen liegen. Aber ist es überhaupt wünschenswert, eine solche Bevölkerungszahl zu erreichen? Selbst wenn 10 Milliarden Menschen genug zu essen haben, bleibt es ein Gedränge.
1997 schrieb Salman Rushdie einen „Brief an den sechsmilliardsten Weltbürger“3 , der in jenem Jahr zur Welt kommen sollte: „Als jüngstes Mitglied einer besonders neugierigen Gattung wirst Du Dir bald die 64 000-Dollar-Frage stellen [damals lag das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf in den USA ungefähr bei 64 000 Dollar], die sich die anderen 5 999 999 999 schon seit einiger Zeit stellen: Wie sind wir hierher gekommen? Und, da wir nun mal hier sind, wie werden wir hier leben? Man wird Dir sicher einreden, dass Du, um eine Antwort auf die Frage nach dem Ursprung zu finden, an ein unsichtbares, unsagbares Wesen „da oben“ glauben musst, an einen allmächtigen Schöpfer, den wir armen Kreaturen nicht erfassen und noch weniger verstehen können. […] Wegen dieses Glaubens war es in vielen Ländern unmöglich, einen alarmierenden Bevölkerungsanstieg zu verhindern. Die Überbevölkerung auf der Erde ist zumindest teilweise dem Wahnsinn der geistigen Führer der Menschheit verschuldet. Im Lauf Deines Lebens wirst Du zweifellos die Ankunft des neunmilliardsten Weltbürgers erleben. Zu viele Menschen werden zum Teil deshalb geboren, weil sich die Religionen der Geburtenkontrolle widersetzen, und es sterben auch viele Menschen wegen der Religionen.“
Dreizehn Jahre später, 2011 oder Anfang 2012, erwarten wir die Ankunft des siebenmilliardsten Weltbürgers. Für ihn stehen die Chancen 7:10, dass er in einem armen Land in eine benachteiligte Familie hineingeboren wird. Sollte man ihm eine Willkommens- oder eine Entschuldigungskarte schicken?