10.06.2011

Pakistanische Glaubenskriege

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Pakistanische Glaubenskriege

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Im Juli 2007 erstürmte die pakistanische Armee die Rote Moschee von Islamabad, in der sich radikale Islamisten verschanzt hatten. Wenige Monate später entstand in den Stammesgebieten eine neue „Bewegung der pakistanischen Taliban“. Der damalige Staatspräsident General Pervez Musharraf, der seit 2003 mehrfach das Ziel von Attentaten war, hatte durch seine uneindeutige politische Haltung einen Teil derjenigen islamistischen Milizen, die zuvor mit dem militärischen Geheimdienst ISI zusammengearbeitet hatten, gegen die Staatsführung aufgebracht. Einige der verbotenen Gruppen fanden sich damals mit Musharrafs Kurswechsel ab, zumal sie sich unter anderem Namen neu gründen konnten. Andere rebellierten gegen den Staat, der sich seit 2001 dem von den USA in Afghanistan eröffneten „Krieg gegen den Terror“ angeschlossen und 2004 Gespräche mit Indien begonnen hatte. Und das pakistanische Regime lieferte den USA eine Reihe hochrangiger Mitglieder der al-Qaida aus – nicht allerdings die wichtigsten Führer.

Seit dreißig Jahren hat Pakistan bewaffnete islamistische Gruppierungen unterstützt oder sogar geschaffen, um sie aktiv als Instrument für die eigenen regionalpolitischen Ziele zu nutzen. Das galt für die afghanischen Mudschaheddin im Kampf gegen die sowjetischen Besatzer, für die Widerstandsbewegung Hisb-ul-Mudschaheddin, die in Kaschmir gegen die Inder kämpfte, und für die Dschihadisten der Lashkar-e-Taiba, die nach Kaschmir eingeschleust wurden und Terroranschläge in indischen Städten durchführten. Und auch für die Taliban, die in pakistanischen Koranschulen ausgebildet wurden, um in Afghanistan erneut die Macht zu ergreifen.

Für diese Strategie zahlt Pakistan jedoch inzwischen einen hohen Preis. Die heftigen Konflikte zwischen den verschiedenen islamistischen Gruppierungen Pakistans haben seit langem die Form von „konfessionellen Kriegen“ angenommen. Nach 2000 verschärften die sunnitischen Extremisten von Organisationen wie Lashkar-e-Dschhangvi und Sipah-e-Sahaba Pakistan ihre Angriffe auf schiitische religiöse Einrichtungen. Damals hieß es in diesen Kreisen, die Schiiten hätten nach der iranischen Revolution von 1979 Gelder von den Ajatollahs bezogen. Das Regime hat die Radikalisierung der Sunniten lange Zeit toleriert, weil diese Extremisten mit ihrer nebulösen Programmatik sich gut für die Machtpolitik gegen Indien und Afghanistan missbrauchen ließen. Doch diese Kräfte sind teilweise außer Kontrolle geraten. Die Folge war, dass das Militär 2009 gegen eine Aufstandsbewegung in den Stammesgebieten und der Provinz Swat vorgehen musste und die Welle der Selbstmordanschläge in den Großstädten jedes Jahr tausende Todesopfer forderte.

Eine weitere Verschärfung trat ein, als zum Konflikt zwischen Sunniten und Schiiten auch noch ein Kampf innerhalb des sunnitischen Lagers ausbrach (die meisten Pakistaner sind Sunniten). Hier standen sich zwei Gruppen gegenüber: Zum einen die Anhänger der ultraradikalen Deobandi-Lehre, einer Variante des saudischen Wahhabismus, die in den 1980er Jahren vom damaligen Staatspräsidenten Mohammed Zia-ul-Haq gefördert wurde.1 Zum anderen der sogenannte Volksislam, der in den Augen der orthodoxen Kräfte seit Jahrhunderten vom Hinduismus „kontaminiert“ ist, weil seine Anhänger „Heilige“ verehren und an deren Grabstätten beten.

Angesichts der Kultur der Gewalt, die der Al-Qaida-Terror und die Radikalität der pakistanischen Taliban freigesetzt hatten, verwundert es kaum, dass diese Heiligenstätten zum Ziel von Anschlägen wurden. Die Bilanz: 45 Tote beim Anschlag auf Data Darbar in Lahore, der bedeutendsten heiligen Stätte Pakistans, im Juli 2010; 6 Tote am Mausoleum des Baba Farid im Pandschab im Oktober 2010; 10 Tote am Mausoleum von Abdullah Shah Ghazi in Karatschi im selben Monat; 3 Tote bei der Grabstätte von Ghazi Baba in Peschawar im vergangenen Dezember; 41 Tote am Grab des Heiligen Dera Ghazi Khan in den Stammesgebieten im April dieses Jahres.

Zusätzlich genährt wurde dieser blutige Konflikt durch ein Gesetz, das Pakistan aus dem britischen Strafgesetzbuch für Indien von 1860 übernommen hat. Das stellt Gotteslästerung unter Strafe, und der betreffende Paragraf wurde sogar noch zweimal (1986 und 1991) verschärft. Deshalb kann für Blasphemie heute auch die Todesstrafe verhängt werden. Zwar wird dieses Gesetz nicht mit aller Härte angewandt, aber es gibt trotzdem zahlreiche fragwürdige Fälle. Zum Beispiel die 2010 verhaftete Christin Asia Bibi.2 Das Urteil gegen sie wurde zwar von pakistanischen Reformern angefochten, doch zwei ihrer prominentesten Verteidiger (Salman Taseer, der Gouverneur des Bundesstaats Pandschab, und Shabaz Bhatti, der einzige christliche Minister im Kabinett) fielen im Januar und im März 2011 Attentaten zum Opfer. Der Mörder von Taseer, sein eigener Leibwächter, wird inzwischen von vielen rechtgläubigen Mittelschichtspakistanern wie ein Held verehrt. Diesen Leuten scheint die mit Intoleranz gepaarte Hinwendung zu einer extremen Glaubensauffassung eine Orientierung zu bieten, die sie im sozialen und politischen Leben nicht mehr finden. Und das gilt heute nicht nur für die Deobandi-Anhänger, sondern auch für die Vertreter des sunnitischen Barelvi-Islams, der dem Sufismus nahesteht. Die liberalen Kräfte Pakistans haben im öffentlichen Raum immer weniger zu melden, während die Regierung offenbar vor den radikalen Strömungen kapituliert hat.

Der Staatsgründer Pakistans, Mohammad Ali Dschinnah, wollte ursprünglich ein demokratisches und tolerantes Gemeinwesen schaffen. Aber für viele war Pakistan von Anfang an das gelobte Land der Muslime auf dem indischen Subkontinent. Der Islam wurde bereits sehr früh zum Gründungsprinzip des Staats, als die Verfassunggebende Versammlung 1949 die Staatsziele festlegte. In dieser „Objectives Resolution“, die dann 1973 als Artikel 2 in die Verfassung übernommen wurde, heißt es einleitend: „Die Souveränität über das gesamte Universum liegt bei Allah dem Allmächtigen allein, und die Autorität, die ER dem Staat Pakistan überantwortet hat, damit sie durch das Volk im Rahmen der von IHM festgelegten Grenzen ausgeübt werde, ist ein heiliges Vermächtnis.“3

Doch das stets kontroverse Verhältnis von Staat und Islam und die geopolitische Verblendung des pakistanischen Regimes, die einen grenzüberschreitenden Dschihad genährt hat, führte am Ende zur fitna, einem destruktiven Glaubenskrieg, der die Muslime des Landes bis heute spaltet.4 Dieser Konflikt ist nicht mehr nur ein nationales Problem, er untergräbt die Existenz der Nation selbst. Der Islam, der das Land einst einen sollte, droht nun es zu entzweien. Auch hier braucht Pakistan eine grundsätzliche Neuorientierung. Jean-Luc Racine

Fußnoten: 1 General Mohammed Zia-ul-Haq (1924–1988) war Oberkommandierender der Landstreitkräfte, als er im September 1978 durch einen Militärputsch die Macht übernahm. Die islamische Deobandi-Rechtsschule entstand in den 1880er Jahren in Indien; sie vertrat einen Islam, der sich an den Ursprüngen orientiert und alle indischen Einflüsse abstreifen wollte. In Pakistan radikalisierten sich ihre Anhänger und übernahmen die Lehren des saudischen Wahhabismus. Für die weitere Verbreitung dieser Ideologie sorgten die aus der arabischen Welt nach Pakistan eingesickerten Dschihadisten, die sich in den 1980er-Jahren am Kampf gegen die Sowjets in Afghanistan beteiligten. Vgl. auch: Peter Pannke, „Enthüllung des Verschleierten“, Le Monde diplomatique, März 2011 2 Die junge Frau wurde nach einem Streit mit einer Nachbarin verhaftet. 3 Siehe: www.pakistani.org/pakistan/constitution/annex_objres.html. 4 Siehe Gilles Kepel, „Fitna. Guerre au coeur de l’Islam“, Paris (Gallimard) 2007. Aus dem Französischen von Edgar Peinelt

Le Monde diplomatique vom 10.06.2011, von Jean-Luc Racine