Frühling für Palästina?
Der arabische Aufbruch zwingt Hamas und Fatah zur Versöhnung und eröffnet neue Perspektiven nach außen von Alain Gresh
Die Bilder von demonstrierenden Palästinensern, die am 15. Mai an den Grenzen Israels aufmarschierten, waren für die einen ein Traum und für die anderen ein Albtraum. Am 63. Gründungstag des jüdischen Staats – der für die Palästinenser die nakba („Katastrophe“) brachte, weil sie zu Hunderttausenden vertrieben wurden – zogen palästinensische Demonstranten aus Syrien1 und dem Libanon, aus Jordanien und Gaza in Richtung des gelobten Landes.
Sie waren nur ein paar tausend, doch angesichts dieser Bilder fragte sich die ganze Welt: Was wird passieren, wenn demnächst Millionen von Flüchtlingen friedlich anrücken, um Grenzen und Mauern niederzureißen. Haben diese Flüchtlinge, die noch in den 1960er Jahren die Keimzelle des palästinensischen Erwachens waren, dann allerdings seit dem Oslo-Abkommen von 1993 von der palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) vergessen wurden, sich jetzt entschlossen, ihr Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen?
In den Straßen von Ramallah hängen große Spruchbänder, die zu einer Neugründung der PLO aufrufen und die Wahl eines Nationalrats fordern – und zwar durch alle Palästinenser, egal ob im Westjordanland, in Gaza, Beirut oder Amman. Das Gremium soll die Gesamtheit des zerstreuten Volks repräsentieren. Ist das ein neuer Schritt des Befreiungskampfs? Die brutale Antwort Israels – am 15. Mai wurden 14 unbewaffnete Palästinenser getötet – zeugt vom Ausmaß der Besorgnis der Regierung Netanjahu.
Dieses einmalig ambitionierte Projekt der „palästinensischen Straße“, das im Kontext mit den arabischen Revolutionen zu sehen ist2 , entzieht sich der Kontrolle von Fatah wie Hamas. Das hat die beiden verfeindeten Organisationen dazu gebracht, am 4. Mai in Kairo zusammen mit elf weiteren palästinensischen Fraktionen ein Versöhnungsabkommen zu unterzeichnen. Darin ist unter anderem vorgesehen: die Bildung einer technokratischen Regierung, die Freilassung der Gefangenen beider Organisationen in Gaza und im Westjordanland, die Durchführung von Parlaments- und Präsidentschaftswahlen innerhalb eines Jahres, die Reform der PLO und die Fusion der zahlreichen Sicherheitsorgane nach strikt professionellen Prinzipien. An erster Stelle steht jedoch der Wiederaufbau im Gazastreifen, der weiterhin unter der Blockade leidet.
Dass man in Israel auf die Versöhnung der Palästinenser negativ reagierte, war keine Überraschung. Regierungschef Benjamin Netanjahu erklärte sofort, die Fatah müsse sich zwischen dem Frieden und der Hamas entscheiden. Er versäumte freilich zu erwähnen, dass israelische Regierungsvertreter ihre Weigerung, sich mit Mahmud Abbas zu einigen, seit Monaten damit begründet hatten, dieser repräsentiere nur die Hälfte der Palästinenser. In kalkulierter Zuspitzung bezeichnete Netanjahu die Hamas sogar als „lokale Version von al-Qaida“.3
US-Präsident Obama hat diese Unnachgiebigkeit abgesegnet. In seiner Rede vom 19. Mai in Washington sprach er von „tiefen und legitimen Fragen für Israel“ und sagte wörtlich: „Wie kann man mit einer Partei verhandeln, die sich unwillig zeigt, dein Existenzrecht anzuerkennen?“4 Dabei kennen Netanjahu und Obama die Texte der Oslo-Verträge, auf die sie sich immer wieder beziehen, sehr gut: Diese ermächtigen einzig die PLO (und nicht die palästinensische Regierung), mit Israel über den endgültigen Status der besetzten Gebiete zu verhandeln – allerdings ist die Hamas kein Mitglied der PLO. Zudem ignorieren die beiden Staatschefs die Erklärungen von Chaled Meschal, dem Chef des Hamas-Politbüros. Der hat wiederholt seine Unterstützung für die Errichtung eines palästinensischen Staates in Gaza und im Westjordanland mit Ostjerusalem als Hauptstadt zugesagt, und versichert, in diesem Fall werde die Hamas den bewaffneten Kampf aufgeben.
Das Abkommen zwischen Fatah und Hamas hat alle Beobachter überrascht. Wie weit es wirklich umgesetzt werden wird, ist schwer zu sagen: Viele Punkte bleiben unklar, und das gegenseitige Misstrauen ist tief verankert. Doch es sind mächtige Faktoren, die beide Seiten zu dieser Einigung gedrängt haben. Manche davon sind auf palästinensischer Ebene zu suchen, andere in der regionalen Entwicklung.
Beide Parteien sahen sich einer wachsenden Protestbewegung im Westjordanland und sogar in Gaza gegenüber. Die Parole lautete allerdings nicht, wie in den anderen arabischen Ländern: „Wir wollen den Sturz des Regimes“. Stattdessen riefen tausende junger Leute: „Das Volk will das Ende der Spaltung!“ Weder Hamas noch Fatah konnte die Forderungen der Bevölkerung ignorieren, umso mehr, als beide Parteien in einer strategischen Sackgasse stecken.
Der Friedensprozess, auf den die Fatah seit 1993 alles gesetzt hat, ist schon vor Jahren gestorben. Nachdem dessen oberster Schirmherr Husni Mubarak gestürzt war, kamen auch Abbas und seine Fatah nicht mehr umhin, den Totenschein zu unterschreiben. Und die unentwegt vorangetriebene Kolonisierung – selbst am Tag von Obamas Nahost-Rede kündigte die israelische Regierung den Bau von 1 550 neuen Wohnungen in Ostjerusalem an – führt den Dialog mit Israel ad absurdum.
Mubarak sah Gaza vor allem als Sicherheitsproblem
Die Hamas definiert ihre Politik immer noch als „Widerstand“, hält sich aber an den unerklärten Waffenstillstand mit Israel und setzt diesen auch gegenüber anderen palästinensische Fraktionen durch – wenn nötig mit Gewalt. Dabei bekommt sie es in Gaza unversehens mit salafistischen Gruppierungen zu tun, von denen manche Verbindungen zu al-Qaida unterhalten. Diese radikalen Gruppen werfen der Hamas vor, sich nicht am bewaffneten Kampf gegen den „zionistischen Feind“ zu beteiligen und nicht genügend für die Islamisierung der Gesellschaft zu tun. Die Ermordung des propalästinensischen italienischen Aktivisten Vittorio Arrigoni durch Extremisten in Gaza im April war ein erster Warnschuss. Der Einfluss der Hamas wird aber auch durch die fortdauernde israelische Blockade des Gazastreifens und durch die Alltagsnöte der Bevölkerung ausgehöhlt.
Tatsächlich stecken beide Parteien in einer Legitimationskrise. Ihre autoritäre, auf Korruption und Klientelismus beruhende Herrschaft unterscheidet sich kaum von anderen Regimes der Region und provoziert ähnliche Proteste und Freiheitsbestrebungen.
Aber natürlich wurde der Kompromiss zwischen Fatah und Hamas auch durch die Umwälzung in der Region erzwungen. Die Fatah hat mit Mubarak ihren engsten Verbündeten verloren. Und die Demonstrationen in Syrien und deren gewaltsame Unterdrückung haben das Assad-Regime geschwächt, das der Hamas-Exilführung seit ihrem Rauswurf aus Jordanien 1999 Unterschlupf gewährt hatte und seitdem ihre wichtigste Stütze war. Scheich Yusuf al-Qaradawi, einer der einflussreichsten sunnitischen Prediger und Adept der Muslimbruderschaft (aus der die Hamas hervorging), hat am 25. März das Regime von Baschar al-Assad scharf verurteilt und erklärt, die Baath-Partei sei nicht mehr in der Lage, das Land zu führen. Trotz des Drucks aus Damaskus hat sich die Hamas bisher gehütet, das syrische Regime zu verteidigen.
Auch eine andere Verschiebung innerhalb des regionalen Gefüges beunruhigt die Führer der islamistischen Partei. Die Unterdrückung der Demokratiebewegung in Bahrain und die Brutalität der von den Saudis angeführten antischiitischen Kampagne in der gesamten Golfregion haben die Spannungen in den Beziehungen zum Iran verschärft. Die Allianz zwischen Teheran und der Hamas wird von der Geschäftswelt am Golf, die an der Finanzierung der Partei beteiligt ist, ohnehin nicht gern gesehen. Das erklärt auch das Interesse der Hamas an engeren Beziehungen mit der sunnitischen Macht Ägyptens, was durch den Wandel der Kairoer Außenpolitik nach dem Sturz Mubaraks erleichtert wird.
Ägypten löst sich tatsächlich aus seiner Unterordnung unter die Interessen Israels und der USA, ohne allerdings einen Bruch mit Amerika zu riskieren oder den Friedensvertrag mit Israel infrage zu stellen. Expräsident Mubarak hatte sich vor allem deshalb gegen eine Einigung zwischen Hamas und Fatah gestellt, weil er den Einfluss der Muslimbrüder im eigenen Land fürchtete. Für ihn war Gaza zuallererst ein Sicherheitsproblem, weshalb er auch die Blockadepolitik mitmachte. Da aber die ägyptischen Muslimbrüder an den Wahlen im September teilnehmen – und sich danach vielleicht sogar an der Regierung beteiligen –, sind solche Befürchtungen nicht mehr aktuell. Im Übrigen erlaubt das neue demokratische Klima in Ägypten auch Bekundungen der Solidarität mit den Palästinensern, die von der neuen Regierung in Kairo nicht ignoriert werden können.
Der inzwischen zum Generalsekretär der Arabischen Liga gewählte zwischenzeitliche ägyptische Außenminister Nabil al-Arabi hat Ende April die Öffnung des Grenzübergangs in Rafah angekündigt und dabei die israelische Blockadepolitik des Gazastreifens als „beschämend“ bezeichnet.5 Und Generalstabschef Sami Anan mahnte auf seiner Facebook-Seite, die israelische Regierung solle sich in Sachen Friedensverhandlungen zwischen den beiden palästinensischen Fraktionen zurückhalten: „Sie sollte sich nicht in innerpalästinensische Angelegenheiten einmischen.“6
Ägyptens ehemaliger Botschafter in Damaskus, Mahmud Chukri, fasst die Situation so zusammen: „Mubarak war stets auf der Seite der USA. Jetzt herrscht eine völlig andere Denkweise. Wir wollen eine Modelldemokratie in der Region aufbauen und sicherstellen, dass Ägypten endlich selbst Einfluss nimmt.“7
Die Rede Obamas vom 19. Mai – zwei Jahre nach seiner Kairoer Ansprache an die arabische Welt – war als Reaktion auf die neue Lage in der Region gedacht. Und auch als Antwort auf das Scheitern seiner Vermittlungsbemühungen im israelisch-palästinensischen Konflikt, das durch den Rücktritt des US-Sondergesandten für den Friedensprozess, George Mitchell, unterstrichen wurde. Angesichts der regionalen Umbruchsituation wollte Obama deutlich machen, dass sein Land „auf der guten Seite der Geschichte“ stehen will. Dabei erklärte er den Willen der USA, ihre Politik künftig durch Werte wie durch Interessen leiten zu lassen: So verurteilte er die Repressionen der Regierung von Bahrain, wo sich das Kommando der 5. US-Flotte befindet, schwieg aber zugleich über die Rolle Saudi-Arabiens, das dem Regime in Bahrain dabei zur Hand gegangen war.
Wer hört noch auf die Amerikaner
Vor der Rede des Präsidenten im State Department hatte US-Außenministerin Hillary Clinton versichert: „Die Führungsrolle der USA ist wichtiger denn je“. Doch in der Wochenzeitung The Nation stellte Robert Dreyfuss, wie andere Kommentatoren auch, die Frage: „Wird in der Region noch auf die USA gehört?“8 Und kommt dabei, nachdem er auf die Probleme Washingtons mit Kabul und Islamabad verwiesen hat, zu dem Schluss: „Trotz schmerzlicher Sanktionen und wiederholter Drohungen mit militärischer Gewalt verweigert der Iran nicht nur jeden Kompromiss über sein Nuklearprogramm, sondern unterstützt auch weiterhin die anti-amerikanischen Kräfte im Irak, im Libanon, in Palästina und in den Golfstaaten. Der Irak, dessen Regierung ein Produkt der US-Invasion von 2003 ist, hat eine weitere US-Militärpräsenz strikt abgelehnt, und die politische Führung des Landes gratuliert sich zu ihrer neuen Allianz mit dem Iran.“ Die Saudis wiederum äußerten ihren Missmut über die Art und Weise, wie Obama den ägyptischen Präsidenten Mubarak fallen gelassen und die Repression in Bahrain kritisiert hat.
Was Netanjahu betrifft, so hat er die Rückkehr zu den Grenzen vom Juni 1967, die Obama in seiner Rede erneut anmahnte, ohne Umschweife abgelehnt, so wie er sich zuvor bereits der Forderung nach einem Siedlungsstopp widersetzt hatte. Der israelische Regierungschef weigerte sich sogar, diese Grenzen von 1967 als Verhandlungsgrundlage (für einen begrenzten Landtausch) zu akzeptieren, wie es Obama vorgeschlagen hatte. Bei seinem Besuch im Weißen Haus am 20. Mai erteilte Netanjahu mit der Arroganz eines Mannes, der weiß, dass er kein Risiko eingeht, dem US-Präsidenten eine Lehrstunde in Geschichte und Geopolitik. Und trotz all der Medienberichte über die Differenzen zwischen den beiden Männern, konnte Netanjahu nach dem Treffen seinen Beratern versichern: „Ich bin mit einigen Sorgen hineingegangen, und ich bin ermutigt herausgekommen.“9
Obama wiederum würdigte „die einzigartigen Beziehungen zwischen den beiden Ländern“, die in der Tat das einzige unverrückbare Prinzip in der Region darstellen – zugleich aber auch das größte Hindernis für die Errichtung eines palästinensischen Staats. Den hat Obama allerdings schon einmal für 2011 angekündigt – und sein Vorgänger George W. Bush bereits für 2005 und dann für 2008.
Ob Obama einen solchen Staat tatsächlich durchsetzen kann, ist 17 Monate vor den nächsten US-Präsidentschaftswahlen mehr als ungewiss. Sicher ist nur eines: Wenn im September die UN-Vollversammlung über die Aufnahme eines Palästinenserstaats in den Grenzen von 1967 abstimmen sollte, werden die USA dagegen stimmen. So wie sie bislang jeden Druck auf eine Regierung abgewehrt haben, die seit Jahrzehnten gegen alle UN-Resolutionen verstößt – einschließlich solcher, denen auch Washington zugestimmt hat.
Allerdings laufen die USA Gefahr, sich zunehmend zu isolieren, denn die Versöhnung zwischen Hamas und Fatah wie auch die absehbare Bildung einer palästinensischen Einheitsregierung und die israelische Sturheit begünstigen den Plan von Abbas. Zumal mehrere europäische Staaten bereits ihre Unterstützung für die palästinensische Initiative signalisiert haben. Natürlich kann Washington im Sicherheitsrat wieder einmal sein Veto einlegen. Doch eine positive Entscheidung der UN-Vollversammlung würde einem palästinensischen Staat zumindest den Beobachterstatus innerhalb der Vereinten Nationen verschaffen (den bislang nur die PLO innehat) und die Mitgliedschaft in UN-Sonderorganisationen wie der Unesco oder der WHO ermöglichen. Zudem könnten die Palästinenser dann die internationale Gerichtsbarkeit mit dem Problem eines besetzten Staats – und nicht nur eines besetzten „Gebietes“ – konfrontieren. Das wäre nur ein kleiner Schritt nach vorn, aber immerhin ein Schritt.