Die Briten schlafen nicht mehr
von Tony Wood
Großbritannien wurde in den letzten Monaten von einer Woge der Empörung überrollt, deren Ausmaß und Intensität viele überrascht hat. Alles begann im vergangenen Herbst mit Protesten von Studierenden gegen die Pläne der neuen Regierung, die Bildungsausgaben zu kürzen und die Studiengebühren deutlich zu erhöhen.1
Das war jedoch nur der Auftakt zu zahlreichen Demonstrationen gegen ein ganzes Bündel von Sparmaßnahmen der konservativ-liberaldemokratischen Koalition, das bis 2015 Einsparungen von knapp 80 Milliarden Pfund (gut 12 Prozent) in fast allen öffentlichen Bereichen vorsieht, davon allein 18 Milliarden bei den Sozialleistungen und 36 Milliarden beim öffentlichen Dienst. Diese tiefen Einschnitte werden von leichten Steuererhöhungen und einer Mehrwertsteuererhöhung auf 20 Prozent flankiert – eine insgesamt atemberaubend rückschrittliche Mixtur.
Bereits im Herbst gewann der Widerstand gegen die Kürzungen nach und nach an Schwung: Studenten versammelten sich auf dem Parliament Square und besetzten ihre Universitäten.2 Ein breites Bündnis von gesellschaftlichen Kräften mobilisierte so erfolgreich gegen den beabsichtigten Ausverkauf der staatseigenen Wälder, dass die Regierung sich im Februar genötigt sah, die Idee wieder fallen zu lassen.
Auch auf lokaler Ebene gab es Versuche, die geplanten Privatisierungen zu verhindern: In Dover stimmte die Bevölkerung im März mit überwältigender Mehrheit gegen den Verkauf des Hafens. Die Aktionen gegen die Sparbeschlüsse weiteten sich mehr und mehr aus. Als die Ratsversammlungen die Kürzungen der öffentlichen Dienstleistungen absegneten, besetzten im Februar und März Gewerkschaften, Studentengruppen und Bürgerinitiativen die Stadtparlamente von Leeds und der Londoner Bezirke Haringey und Lambeth. Der Widerstand gipfelte schließlich im sogenannten Marsch für die Alternative am 26. März in London, an dem 500.000 Menschen teilnahmen.
Die Kampagne gegen Steuerflucht macht auch mit
Die Gewerkschaften hatten landesweit zu dieser Großkundgebung aufgerufen, die auch von Rentnern, Anarchisten, Sozialisten und sogar der Kampagne gegen die Steuerflucht von Unternehmen unterstützt wurde und von zahlreichen Besetzungen, etwa des Luxuskaufhauses Fortnum & Mason, begleitet war.
Wie kommt es, dass ein Land, dessen Traditionen des Widerstands seit über einer Generation verschüttet waren, auf einmal wieder rebellisch wird? Margaret Thatchers vernichtender Sieg über die Bergarbeiter 1984/85 besiegelte das Ende der letzten großen Runde von Arbeitskämpfen, die zehn Jahre zuvor begonnen hatte und 1978/79 im „Winter der Unzufriedenheit“ gipfelte.
Seitdem hat es die Briten nur zweimal auf die Straße getrieben: 1990 protestierten sie gegen die poll tax (Kopfsteuer), und 2003 kam es zu Großdemonstrationen gegen den bevorstehenden Einmarsch im Irak. Von diesen Ausnahmen abgesehen blieben Proteste im Vereinigten Königreich – anders als in Frankreich, Italien oder Griechenland – unbedeutend und selten.
Zum Teil lässt sich das Wiederaufleben der Proteste auf das schiere Ausmaß der beabsichtigten Einschnitte zurückführen. Schätzungen zufolge handelt es sich bei den von Schatzkanzler George Osborne im letzten Oktober angekündigten Kürzungen um „die schärfsten Einschränkungen der gesamten staatlichen Ausgaben seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs“.3 Man muss sich außerdem vergegenwärtigen, dass dieser Angriff auf den öffentlichen Sektor nach den von Thatcher und Blair durchgeführten Privatisierungen und marktradikalen Reformen erfolgt, die den Wohlfahrtsstaat bereits weitgehend ausgehöhlt und zerschlagen haben.
Viele Bürger befürchten, dass die Regierung Cameron eine weitere dramatische Demontage des öffentlichen Sektors ins Werk setzt, die den Wohlfahrtsstaat endgültig zum Verschwinden bringen wird: In Lewisham und Edinburgh haben örtliche Gruppen und Gewerkschaften den öffentlichen Dienst schon in publikumswirksamen Aktionen zu Grabe getragen. Cameron faselt derweil von einer „großen Gesellschaft“, in der private Initiativen die entstehenden Löcher stopfen sollen. Aber viele Leute durchschauen längst, dass die schönen Worte nur weitere Zumutungen für die Allgemeinheit zugunsten weniger Reicher verdecken sollen.
Eine weitere Erklärung für die Renaissance einer außerparlamentarischen Opposition sind die allgemeinen wirtschaftlichen Verhältnisse. Camerons Sparprogramm ist Teil einer Systemkrise und hartnäckigen Rezession: Die britische Wirtschaft, die im ersten Quartal 2011 um lediglich 0,5 Prozent expandierte, hat seit dem Crash von 2008 nur sehr zaghafte Ansätze von Wachstum vorzuweisen, und die Zahl der Arbeitslosen liegt zurzeit bei knapp 2,5 Millionen. Angesichts dieser Tatsachen wächst die Skepsis gegenüber den angeblichen Segnungen des Finanzkapitalismus (was einer der Gründe für die große Resonanz der Proteste gegen Unternehmenssteuerflucht sein dürfte).
All dies geschieht zu einer Zeit, wo die Einkommensunterschiede so hoch sind und die soziale Mobilität so niedrig ist wie zu keinem anderen Zeitpunkt in in den letzten 50 Jahren. Laut der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung OECD verdienten die obersten 10 Prozent der Bevölkerung Großbritanniens 1980 knapp dreimal so viel wie die untersten 10 Prozent. 2008 war es 3,6-mal so viel. Die durch den Gini-Koeffizienten4 gemessene Einkommensungleichheit beträgt im Vereinigten Königreich derzeit 0,33 im Vergleich zu 0,28 in Frankreich, 0,29 in Deutschland und 0,32 in Kanada.
Labour-Premier Brown als Retter der Londoner City
Die britische Öffentlichkeit empfindet das Vorhaben der jetzigen Regierung, die Kosten für die Rettung des Londoner Finanzplatzes (insgesamt 955 Milliarden Pfund an Hilfsgeldern, Bürgschaften und für geldpolitische Stützungsmaßnahmen) auf die gesamte Bevölkerung und gerade auch auf die Ärmsten und Schwächsten abzuwälzen, als schreiende Ungerechtigkeit. Kein Wunder, dass Osborne mit seiner Behauptung, wir säßen alle im selben Boot, bereits vor seinem Amtsantritt nur Hohn und Spott erntete.
Solche Äußerungen nähren das alte, noch aus Thatcher-Zeiten stammende Misstrauen gegenüber der Konservativen Partei, das auch die 13 Jahre Labour-Herrschaft überlebt hat. Womit wir beim nächsten Aspekt der Proteste wären: Obwohl eine Labour-Regierung für die massive Expansion der Finanzwirtschaft in den 1990er und 2000er Jahren verantwortlich war und obwohl ein Labour-Premierminister, Gordon Brown, 2008 die City freikaufte, werden die Kürzungen jetzt von einer konservativ-liberalen Regierung durchgesetzt.
Viele linksliberale oder im weitesten Sinn progressiv eingestellte Bürger machen nun ihrem Unmut viel vehementer Luft, als sie es unter Labour getan hätten. Dies betrifft insbesondere die Gewerkschaften, die trotz der unübersehbaren Geringschätzung, mit der sich Labour in den letzten Jahren über die Belange der britischen Arbeiter hinweggesetzt hat, noch immer der Labour Party verbunden sind. Browns letzter Haushalt vom April 2010 sah Kürzungen von 52 Milliarden Pfund vor – ob der Gewerkschaftsdachverband TUC eine ähnlich große Protestkundgebung auf die Beine gestellt hätte wie die im März, wenn es Brown gewesen wäre, der die letzten Wahlen gewonnen hätte?
Eine wichtige Rolle spielen auch die Generationsunterschiede: Heute betreten junge Leute die politische Bühne, die viel radikaler sind als ihre Vorgänger. Wer heute studiert, ist in einer Zeit aufgewachsen, die durch die Auswirkungen des Kriegs gegen den Terror und der Besetzung Afghanistans und Iraks auf die heimische politische Kultur geprägt war, also in einem politisch viel brisanteren Klima, als es die 1990er Jahre waren, in denen der Neoliberalismus seine größten Triumphe feierte.
Nach 2000 fassten auch in Großbritannien globalisierungskritische Bewegungen Fuß. Alljährlich am 1. Mai riefen sie zu neuen Aktionsformen auf und wurden von der Londoner Polizei manchmal stundenlang eingekesselt und festgehalten. Für viele, die sich an den aktuellen Protesten beteiligen, waren dies wertvolle Vorerfahrungen.
Als die Regierung von Gordon Brown 2010 ihrem Untergang entgegentrudelte, votierten viele Leute – aus einer instinktiven Abneigung gegen die Konservativen heraus – für die Liberaldemokraten. Doch kaum war Nick Clegg in die Koalition eingetreten, wurden ihre Hoffnungen enttäuscht. Da viele junge Leute alle drei großen Parteien ablehnen, griffen sie zu außerparlamentarischen Methoden, wie es sich zuvor kaum jemand hätte träumen lassen.
Obwohl sich der Widerstand gegen die Sparmaßnahmen der Regierung bereits im letzten Sommer zu formieren begann, hat letztlich erst die Revolte der Studierenden im Winter, ihre Bereitschaft, gegen die enormen Studiengebühren auf die Straße zu gehen, die anderen Bereiche der Gesellschaft elektrisiert.5 Inzwischen engagieren sich viele unterschiedliche Gruppen in den Auseinandersetzungen. Die Gewerkschaften, insbesondere des öffentlichen Diensts, stellen die größte Gruppe. Sie organisieren den Widerstand entweder direkt oder über Aktionsbündnisse wie die im August 2010 gegründete „Coalition of Resistance“.6
Es gibt Initiativen von Studierenden und zahllose Ad-hoc-Gruppen, die sich für bestimmte Aktionen bilden. UK Uncut zum Beispiel entstand im Oktober 2010, als ein paar Londoner Aktivisten Protestaktionen gegen die Steuerflucht von Vodafone organisierten. Sie prangerten das rechtswidrige Vorgehen an, indem sie beim Twittern über Hashtags (Schlagwörter) eine Verknüpfung mit dem Sparpaket der Regierung herstellten. Seither benutzen die verschiedensten Gruppen im ganzen Land den Namen UK Uncut für ihre Proteste gegen die Kürzungen; es gibt keine zentralisierte Organisation und auch keine feste Mitgliedschaft. Diese Mischung aus Taktiken der direkten Aktion und Reformforderungen mag auf den ersten Blick widersprüchlich scheinen, aber so ungewöhnliche Kombinationen sind geradezu ein Charakteristikum des gegenwärtigen Widerstands im Vereinigten Königreich.
Die Durchsetzung der Kürzungen hat die Koalition aus Tories und Liberaldemokraten zum großen Teil auf die Lokalregierungen abgewälzt, indem sie ihnen Etatkürzungen von bis zu 25 Prozent aufzwang – deshalb hat auch der Widerstand auf dieser Ebene seine tiefsten Wurzeln geschlagen. Vor allem in den Ballungsräumen sprießen ständig neue Bürgerinitiativen aus dem Boden, die sich dem Schutz der öffentlichen Dienstleistungen verschrieben haben.7
Auch hier kommen die Mitglieder – und das Engagement, das sie verbindet – zum großen Teil aus der Arbeiterbewegung, aber auch aus Bürgerinitiativen und von einzelnen Aktivisten. „Lambeth Save Our Services“ zum Beispiel, die Organisation, die im Februar die Besetzung des Stadtparlaments im Londoner Bezirk Lambeth anführte, entstand im Juli 2010 aus dem Zusammenschluss der Bezirksgruppe von Unison (der größten Gewerkschaft des öffentlichen Dienstes) und einer Reihe von Bürgerinitiativen, in denen Rentner, Behinderte sowie schwarze und lateinamerikanische Anwohner organisiert sind. Das Verhältnis zwischen Gewerkschaftsaktivisten und Anwohnergruppen ist derzeit ungefähr halbe-halbe.
Andernorts überwiegt die eine oder andere Fraktion. In „Leeds Against the Cuts“ und der „Leeds Coalition of Resistance“ besitzen die Gewerkschaften deutlich mehr Gewicht, während sie in der „Exeter Anti-Cuts Alliance“ eine kleine Minderheit darstellen. Die Hauptorganisatoren der „Southport Anti-Cuts Coalition“ sind Kat Sumner, Mutter von vier Kindern, und Nina Killen, eine Journalistin mit drei Kindern; beide haben sich aus Empörung über die Kürzung der Kinderbeihilfen und der städtischen Dienstleistungen für Familien den Protesten angeschlossen.
Viele dieser Gruppen sind mit der studentischen Szene verbunden: In Exeter waren von Anfang an Studierende am Bündnis gegen die Sozialkürzungen beteiligt, und in Lambeth haben, obwohl es keine eigene Universität besitzt, die vor Ort lebenden radikalisierten Studenten entscheidenden Einfluss ausgeübt.
Rotstift für Spielplätze, Gesundheit, Nahverkehr
Alle diese Gruppen weisen darauf hin, dass sie breite Unterstützung erfahren – was natürlich mit dem Ausmaß und der Reichweite der Kürzungen zusammenhängt: Ob staatliches Gesundheitswesen oder Bibliotheken, ob Wohngeld oder Spielplätze, ob Nahverkehr oder Beratungsstellen gegen häusliche Gewalt – nichts bleibt vom Rotstift der Regierung verschont. Und es machen sich auch Sorgen über die langfristigen Folgen breit. So weist Kat Sumner beispielsweise darauf hin, dass „die wahren – finanziellen und sozialen – Kosten von vielen Kürzungen erst dann sichtbar werden, wenn diese Regierung schon längst abgedankt haben wird“.
Das Hauptproblem des Widerstands ist seine Zersplitterung. Denn die Kürzungen sind – ähnlich wie Wohlstand und Beschäftigung – geografisch ungleich verteilt. Die Regierung Blair ersetzte viele der seit den 1970er Jahren verschwundenen Industriearbeitsplätze besonders im Norden durch die Ausdehnung des öffentlichen Sektors. Viele dieser Stellen werden nun gestrichen. Die Betroffenen haben, wenn überhaupt, nur sehr geringe Aussichten, eine andere Beschäftigung zu finden. Bei der Umsetzung ihres Sparprogramms orientiert sich die Regierung weitgehend an der sozialen Geografie, wohl in der Hoffnung, dass auch der Widerstand, den sie provoziert, ungleich verteilt und leichter zu zerstreuen und entschärfen sein werde.
Die Herausforderung besteht nun darin, die verschiedenen lokalen Initiativen zu einer nationalen Bewegung zusammenzuschweißen. Mit seiner jüngsten Entscheidung, die Umstrukturierung des staatlichen Gesundheitssystems „auszusetzen“, will Cameron vermutlich verhindern, dass sich die Lunte, die den lokalen und den nationalen Zorn gleichzeitig zur Explosion bringen könnte, überhaupt entzündet.
Außerdem wird es darauf ankommen, sich nicht von der opportunistischen Labour Party vereinnahmen zu lassen. Deren Chef Ed Miliband hat zwar auf der Gewerkschaftskundgebung vom 26. März eine Solidaritätsadresse verlesen, aber als Minister der damaligen Labour-Regierung war er sowohl für das teure Bankenrettungspaket von 2008 als auch für das unselige Wirtschaftsmodell verantwortlich, das damit am Leben erhalten werden sollte. Immerhin geben die Ereignisse der letzten sechs Monate Anlass zu der Hoffnung, dass die neue soziale Bewegung genug Energie und Fantasie hat, Großbritannien aus seinem Dämmerschlaf aufzuwecken.