08.06.2007

Pudel mit eigener Überzeugung

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Pudel mit eigener Überzeugung

Eine Bilanz von zehn Jahren Tony Blair von Richard Gott

Unlängst zeigte das Fernsehen eine Szene, die sich am 17. Juli 2006 beim G-8-Gipfel in St. Petersburg abgespielt hatte. Man sah US-Präsident George W. Bush, wie er seinen wichtigsten europäischen Verbündeten begrüßte: „Hey Blair, wie geht’s denn so?“ Der anschließende kurze Wortwechsel machte deutlich, wie beiläufig Bush die Ansichten des britischen Premierministers zur Kenntnis nahm. Im Guardian hieß es dazu: „Blair wirkt nicht unbedingt wie der Kopf einer souveränen Regierung, sondern wie ein Bush-Mitarbeiter, der vergeblich darauf wartet, von seinem Boss grünes Licht zu bekommen.“

Vor wenigen Jahren konnte sich Tony Blair auf seine „special relationship“ zum Präsidenten der Vereinigten Staaten noch viel zugute halten, weshalb Blairs Widersacher sich immer wieder über „Bushs Pudel“ mokieren konnten. Die geschilderte Fernsehszene zeigte nun, dass der britische Premier für Bush nur ein Politiker unter anderen ist, mit dem man beliebige Floskeln austauschen muss.

Wenn Tony Blair am 27. Juni aus Downing Street 10 auszieht, blickt er auf eine gut zehnjährige Regierungszeit zurück. Sein Abgang ist auch eine Reaktion auf die Kommunalwahlen vom 3. Mai, die seiner Partei eine herbe Niederlage beigebracht haben: Die Konservativen errangen in 165 von 312 Gemeinderäten die Mehrheit, 39 mehr als bei den letzten Kommunalwahlen, während Labour große Verluste einstecken musste. Das Ausmaß dieser Niederlage zeigt sich am deutlichsten im Verlust der traditionellen Labour-Hochburg Schottland, wo sich die auf Unabhängigkeit orientierte Scottish Nationalist Party (SNP) durchsetzen konnte.

Blairs Unbeliebtheit ist nicht nur für seine Partei ein Desaster. Auch seine persönliche Bilanz als Regierungschef ist in den Augen vieler Briten miserabel, vergleichbar nur mit der von Anthony Eden vor fünfzig und der von Neville Chamberlain vor achtzig Jahren. Auf der Liste der außenpolitischen Katastrophen Großbritanniens steht das Stichwort „Irak“ heute in einer Reihe mit dem „Suez-Abenteuer“ von 1956 und der „Appeasement-Politik“, die 1938 in das Münchener Abkommen mündete.

Wie ist es zu erklären, dass der jungenhaft wirkende, intelligente, attraktive, eloquente, auf die Menschen zugehende Politiker, der Blair vor zehn Jahren war, seinen Nimbus derart verspielen konnte? Wie kommt es, dass dieselben Menschen, die 1997 zur Feier seines Sieges Champagner tranken, zehn Jahre später den Champagner kaltstellen, um Blairs Abgang zu feiern?

1997 war Blair ein unbeschriebenes Blatt. Damals wussten nur seine Schul- und Studienfreunde von seinen schauspielerischen Talenten. Seine Fähigkeit, eine Rolle zu spielen – aber auch seine Umgebung zu täuschen – und einen Text auswendig zu lernen – aber im Bedarfsfall auch von ihm abzuweichen –, sollte zum Hauptmerkmal seiner Karriere werden. Man kannte auch seine religiöse Ader, mit der er eine seltsame Ausnahmeerscheinung unter den europäischen Politikern am Ende des 20. Jahrhunderts darstellt und die man auf der Insel seit dem Konservativen William Gladstone (zwischen 1868 und 1894 mehrfach Premierminister) nicht mehr erlebt hatte.

Großbritannien ist ein weitgehend säkulares Land. Zwar spielen innerhalb der Labour Party Methodisten und Mitglieder anderer protestantischer Freikirchen keine unerhebliche Rolle, doch vor Tony Blair hatten die Parteiführer ihre religiösen Aktivitäten auf die Anwesenheit bei den obligatorischen Zeremonien in den Kathedralen der Church of England beschränkt.

Mit dieser Tradition hat Tony Blair gebrochen, der im Übrigen dem Katholizismus näher steht als der englischen Hochkirche. Dabei gerät er jedoch häufig in Konflikt mit der religiösen Obrigkeit, ähnlich wie sein Freund, der Schweizer Theologe Hans Küng, der sich im Dauerkonflikt mit dem Vatikan befindet. So wurde Blair einmal vom katholischen Erzbischof von Großbritannien gerügt, als der nominelle Protestant an einer katholischen Abendmahlsfeier teilnahm. Und der anglikanische Erzbischof mahnte ihn öffentlich, nicht allzu nah an Rom heranzurücken (Blairs Frau Cherie ist Katholikin). Zudem ignorierte Blair sämtliche Warnungen vor der Invasion im Irak, die der Papst wie das Oberhaupt der anglikanischen Kirche geäußert hatten.

Blairs Kriege irritierten auch das britische Establishment

Der Hauptgrund für Blairs dramatischen Reputationsverlust war seine Außenpolitik. In nur sechs Jahren führte er Großbritannien in fünf Kriege – ein seit den Zeiten des Britischen Empires nicht mehr erreichter Rekord. Britische Truppen waren 1998 an der Operation Desert Fox gegen den Irak und 1999 am Nato-Einsatz im Kosovo beteiligt, sie operierten 2000 in Sierra Leone, 2001 in Afghanistan und erneut im Irakkrieg von 2003. Keine dieser Militäraktionen brachte bislang einen klaren Erfolg. Aus Bosnien sind die letzten britischen Truppen im März 2007 abgezogen; das Kosovoproblem ist noch immer ungelöst; in Sierra Leone ist immerhin Ruhe eingekehrt, doch der Irak und Afghanistan sind nach wie vor akute Konfliktherde und zudem kostspielig und unpopulär, weil immer wieder auch britische Soldaten ums Leben kommen. Diese Kriege1 haben Blairs Popularität nicht nur bei der Labour Party und in der britischen Öffentlichkeit untergraben, sondern auch im britischen „Establishment“, etwa im Außenministerium, in den staatlichen Bürokratien und im Justizapparat sowie neuerdings auch in den obersten Rängen der Streitkräfte. Die Militärs waren es auch, die im Februar 2007 die Entscheidung durchsetzten, ihre Truppen aus Basra und dem Süden des Irak abzuziehen, wo sich eine Niederlage abzeichnete, und stattdessen die britische Präsenz in Afghanistan zu verstärken, wo die USA ihren Krieg gegen die Taliban unter dem Etikett einer Nato-Operation (Operation Enduring Freedom) führen.

Im politischen Leben Großbritanniens ist es bisher kaum je vorgekommen, dass eine Regierung das Vertrauen ihrer eigenen Mitarbeiter derart verspielt hat. Blairs begeisterte Zustimmung zur Invasion der USA im Irak hat die Briten irritiert und maßgeblich dazu beigetragen, dass er immer mehr Anhänger verlor. Sie führte auch dazu, dass er keine nützliche Rolle mehr bei der Weiterentwicklung der Europäischen Union spielen konnte: Weil er so sehr auf die angloamerikanischen Beziehungen fixiert war, vernachlässigte er seine europäischen Verbündeten.

Dabei ist es nicht ganz richtig, Blair als ungeschickten Handlanger von Präsident Bush darzustellen. Die Wahrheit ist noch deprimierender: Dank seiner tiefen außenpolitischen Ignoranz glaubte Blair fest an seine eigene globale Mission, zu der ihn die Amerikaner nicht erst überreden mussten. Wenn Bush gezögert hätte, den Irakkrieg zu beginnen, hätte Blair ihn dazu gedrängt. Viele Amerikaner sind der Auffassung, dass Blair die Gründe für diesen Krieg überzeugender darlegen kann als ihr eigener Präsident.

Schon vor dem Irak-Abenteuer hatte Präsident Bush den „Krieg gegen den Terrorismus“ ausgerufen und dabei in Blair einen begeisterten Gefolgsmann gefunden. Damals tummelten sich in der Labour Party eine Menge junger, idealistischer Juristen – zu denen auch Cherie Blair gehörte –, die entschlossen waren, das Feld der bürgerlichen Freiheits- und Menschenrechte auf internationaler Ebene auszuweiten. Sie sind auf diesen neuen Krieg derart fixiert, dass sie sich sogar stillschweigend mit den Exzessen von Guantánamo und Abu Ghraib abfanden und die repressiven Gesetze absegneten, die im eigenen Land gegen die „terroristische Gefahr“ beschlossen wurden.2

Das Desaster im Irak ist der wichtigste, aber nicht der einzige Grund für die wachsende Kritik an Blair und seiner Regierung. Genauso unpopulär ist sein Versäumnis, eine progressive Alternative zu der neoliberalen Politik zu entwickeln, die auf Margaret Thatcher zurückgeht. Eine solche Alternative war allerdings, wie man im Rückblick leicht erkennt, auch nie sein Ziel. Blair wollte die Politik der „Eisernen Lady“ keineswegs überwinden, sondern sich zu ihrem Erben machen. Fast alles, was Blair innenpolitisch unternommen hat, war eine Fortschreibung der konservativen Politik zwischen 1979 und 1997.

Im Bildungs- wie im Gesundheitswesen, in der Innen- und Sicherheitspolitik wie bei der Nordirlandfrage trat Blair in die Fußstapfen von Margaret Thatcher. Eigenständige Leistungen waren nur wenige seiner Projekte. Selbst seine erfolgreiche Nordirlandpolitik, die zum Karfreitagsabkommen vom April 1998 und im April dieses Jahres zur katholisch-protestantischen Koalitionsregierung in Belfast führte, war die Umsetzung des politischen Traums seines konservativen Vorgängers John Major.

Die Politik der Dezentralisierung, die zur Gründung von Regionalparlamenten in Schottland und Wales führte, trug hingegen die Handschrift von John Smith, Blairs Vorgänger als Parteivorsitzender. Und seine Bildungspolitik beruhte ausnahmslos auf Vorschlägen seiner konservativen Vorgänger. Das gilt für die Gründung von Fachhochschulen und Akademien, für die Beibehaltung der Grammar Schools – der elitären Privatschulen, die nach wie vor eine Bastion der betuchten Mittelklasse darstellen – und für die Einführung zusätzlicher Studiengebühren zur Finanzierung der Universitäten.

Auf wirtschaftspolitischem Gebiet hat Blair zwar 1999 Mindestlöhne eingeführt3 und auch neue Arbeitsplätze im öffentlichen Sektor geschaffen, aber insgesamt betrieb er eine Politik der Privatisierung und des Rückzugs des Staates aus der Wirtschaft. Die wichtigste, ganz auf der Linie des Thatcherismus liegende Reform war jedoch die sogenannte Private Finance Initiative (PFI): die Beteiligung privater Firmen am Bildungs- und Gesundheitswesen, das bis dahin exklusiver Aufgabenbereich der öffentlichen Hand gewesen war. Die PFI war ursprünglich eine Idee der konservativen Regierung Major, deren Finanzminister Norman Lamont auf diesem Wege den Bau von Krankenhäusern und Schulen durch private Unternehmen finanzieren lassen wollte. Diese sollten die Projekte auf eine Dauer von bis zu fünfzig Jahren managen und in diesem Zeitraum ihre vorgeschossenen Gelder über jährliche Belastungen des Steuerzahlers wieder eintreiben.

Die Konservativen initiierten zwar die ersten PFI-Projekte, aber zu einem richtigen System entwickelte sich die Sache erst, als Blairs Finanzminister Gordon Brown 1997 seine Begeisterung für die PFI entdeckte. Brown hatte die Regierung dazu vergattert, stärker in den öffentlichen Sektor zu investieren und zugleich die Staatsverschuldung in engen Grenzen zu halten. In dieser Situation bot sich die PFI als Lösung für ein schier unlösbares Problem an: Der Staat konnte sich Geld für Investitionen beschaffen, das er erst in der Zukunft zurückzahlen musste.

New Labour als Kampfbegriff gegen die eigene Partei

Die Kehrseite der Medaille war natürlich, dass die vorgeschossenen Summen letztlich mit einem gewaltigen Aufpreis abzuzahlen sind, der weit höher liegt als bei konventionellen Investitionen. Bis Ende 2005 hatte die Regierung Blair Verträge über einen Kapitalwert von fast 50 Milliarden Pfund (zirka 75 Milliarden Euro) abgeschlossen, die den Steuerzahler verpflichteten, mindestens zwanzig Jahre lang bis zu 7,5 Milliarden Pfund jährlich an private Unternehmen abzuführen. Die fällige Gesamtsumme wird also am Ende bei 150 Milliarden Pfund liegen. Das PFI-Programm wurde später noch erweitert, inzwischen auch auf die Finanzierung von Straßen und Gefängnissen oder von Investitionen in die Informationstechnologie. Auch kommunale Verwaltungen finanzieren nach dem PFI-Modell ihre Wohnungen und Bibliotheken und sogar die Straßenbeleuchtung. Die größten PFI-Projekte wurden jedoch vom Verteidigungsministerium betrieben.

Inzwischen weisen sogar die Konservativen die Urheberschaft von Blairs PFI-System weit von sich. Und sein ursprünglicher Erfinder Norman Lamont erklärte 2002, das Programm sei nie als Methode zur Erschließung alternativer Finanzierungsquellen gedacht gewesen. Er selbst hält es für gefährlich, „weil in Wirklichkeit die private Finanzierung teurer kommt“. Zu den Nutznießern der PFI-Verträge gehörten zahllose Berater der vier Consulting-Giganten Price Waterhouse Coopers, KPMG, Deloitte Touche und Ernst & Young. Des Weiteren profitierten die Firmen Accenture, Booz Allen Hamilton und McKinsey. Von den 50 Milliarden Pfund, die bis Ende 2005 für Investitionen vorgesehen waren, gingen etwa 5 Milliarden Pfund für Beraterhonorare drauf.

Einer der ehrgeizigsten Pläne Blairs war die „Modernisierung“ der staatlichen Verwaltung; er selbst sprach von „zielorientierter Reform des öffentlichen Dienstes“. Die Grundidee war, das United Kingdom wie ein großes Privatunternehmen zu betreiben, und zwar mit Hilfe teurer Managementberater. Immer mehr private Consulting-Firmen wurden mit Aktivitäten betraut, die vorher die staatlichen Bürokratien selbst erledigt hatten. Die traditionellen Staatsdiener sollten fortan als Projektmanager auftreten, waren aber für diese Aufgabe natürlich nicht ausgebildet – weshalb man ihnen die Consulting-Leute vor die Nase setzte.

Das ganze Blair’sche Projekt erwies sich am Ende als Fehlschlag und zudem als höchst unpopulärer. Die hochgesteckten PFI-Ziele wurden nicht erreicht, die Reformen im IT-Sektor stellten sich als teuer und verfehlt heraus, das Krankenhauspersonal und die Lehrer gingen auf die Straße. Ein ehemaliger Regierungsberater sprach kürzlich vom „Versagen des McKinsey-Staates“, andere kritisierten den „Drehtüreffekt“, also die hohe Fluktuation zwischen öffentlichem Dienst und Privatwirtschaft: Auf der einen Seite werden professionelle Berater mit Regierungsprojekten beauftragt, auf der anderen Seite lassen sich Staatsbeamte vorzeitig pensionieren, um in Consulting-Firmen einzusteigen. Die politischen Parteien streiten nicht mehr über Ideen, sondern über die Handhabung des Staatsapparats. Und die Wähler können nur noch darüber befinden, welchen Politikern sie die Reformierung des Verwaltungsapparats am ehesten zutrauen.

Das gescheiterte politische Projekt, das heute unter Blairismus firmiert, wurde anfangs optimistisch als „Dritter Weg“ proklamiert: ein eher vage definierter Mittelweg zwischen Sozialismus und Kapitalismus, den es nach dem Ende des Kalten Krieges einzuschlagen galt. Im Juni 1999 sprachen Blair und sein deutscher Amtskollege Gerhard Schröder explizit von einer „Neuen Mitte“, als sie ein gemeinsames Programm für die Mitte-links-Regierungen vorstellten, die damals in Europa ein kurzes Comeback erlebten. Doch im Grunde war der „Dritte Weg“ eine Idee, die von der Demokratischen Partei der USA in der Clinton-Ära stammte.

Die Demokraten träumten damals von einer Staatsphilosophie, die auf internationaler Ebene den Regierungen von Klientenstaaten innerhalb des US-Imperiums als Orientierung dienen sollte. Im besten Fall tauge sie als rationale Antwort auf die neuen sozio-ökonomischen Gegebenheiten der Globalisierung, die man als dauerhafte und unwandelbare Entwicklung unterstellte. Und da die einzelnen Regierungen in der globalisierten kapitalistischen Welt die Marktbewegungen kaum beeinflussen können, sollten sie sich auf das konzentrieren, was sie tatsächlich bewerkstelligen können, also ihre Arbeiter mittels Ausbildung konkurrenzfähig machen und die entsprechende Infrastruktur in Form von anständigen Schulen, Krankenhäusern und Kommunikationsnetzen bereitstellen.

Damit wurden die praktischen Möglichkeiten der Regierungen jedoch stark überschätzt. Das Programm eines „Dritten Wegs“ blieb im Wesentlichen Rhetorik. In seiner britischen Fassung firmierte es in den 1990er-Jahren zunächst unter „New Labour“. Mit dem Etikett wollte Blair sich und sein Projekt von „Old Labour“ absetzen, also von den Genossen und Aktivisten der traditionellen Labour-Partei, die er als unbelehrbare Gewerkschafter und altmodische Klassenkämpfer hinstellte. Diese alten und neuen Linken hatten nach Meinung des Blair-Lagers den Kontakt zur Realität verloren und würden es nie schaffen, die sich neu formierende Mittelklasse und die individualistischen Aufsteiger – also die Erben der Thatcher-Ära – für sich zu gewinnen.

Die Blair-Leute wählten einen anderen Ansatz, und ihr Boss investierte viel Zeit und Energie in den Kampf gegen seine eigene Partei, die er häufig einfach links liegen ließ. Die alljährlichen Parteikongresse, auf denen die Aktivisten traditionellerweise die Politik der Labour-Regierung diskutierten, wurden kaltgestellt, indem die demokratisch gefassten Beschlüsse schlicht übergangen und durch die Blair’sche Regierungspolitik ersetzt wurden.

Auch deshalb konnte die Ideologie von „New Labour“ in der Partei selbst nie populär werden. Das spüren auch führende Labour-Politiker, die neuerdings innerparteiliche Diskussionen fördern, von denen man in den letzten zehn Jahren nichts gesehen hat.

Der Begriff „New Labour“ wird heute kaum mehr benutzt; an seiner Stelle hat sich das Wort „Blairismus“ eingebürgert. Was einmal als Mittelweg zwischen Sozialismus und Kapitalismus gesehen wurde, definieren die „Blairisten“ heute als Verbindung von freier Marktwirtschaft und sozialer Gerechtigkeit. Blair selbst spricht nur von „ökonomischer Effizienz“, da der „freie Markt“ eher mit den Konservativen assoziiert wird. Aber er hört sich auch gern von „sozialer Gerechtigkeit“ reden. So verkündete er beim Parteikongress im Oktober 2006, dass „ökonomische Effizienz und soziale Gerechtigkeit … zu Partnern werden“ müssten.

Ein so verstandener „Blairismus“ ist heute zum gemeinsamen Nenner rechter und linker Politiker in ganz Europa geworden – von Ségolène Royal bis Nicolas Sarkozy, von Blair bis David Cameron, dem neuen Chef der britischen Konservativen. Der hat sogar eine Beratergruppe zum Thema „soziale Gerechtigkeit“ gegründet, um seiner Partei ein „fürsorglicheres“ Image zu verleihen.

„Soziale Gerechtigkeit“ ist dabei nur eine rhetorische Floskel ohne jeden Inhalt. Blair selbst hat alle Überlegungen, die in diesem Zusammenhang für eine Umverteilung des Reichtums plädieren, energisch zurückgewiesen. Tatsächlich geht seine Politik in die entgegengesetzte Richtung: Die „Schaffung von Reichtum“ soll unter keinen Umständen behindert werden. Das bedeutet im Grunde, dass man die gewaltigen Einkommensunterschiede akzeptiert, die für Blairs Großbritannien genauso kennzeichnend sind wie für das der Ära Thatcher. Das Land ist noch immer durch Thatchers marktliberale Reformen geprägt, und eine der spürbarsten Folgen dieses neoliberalen Projekts war eben die wachsende Ungleichheit innerhalb der Gesellschaft.

Die Profite der hundert größten börsennotierten Unternehmen (die der FTSE-100-Index der Financial Times abbildet) liegen heute um das Siebenfache über dem Niveau von 2002. Die Reichen sind immer reicher und die Armen immer ärmer geworden – mit katastrophalen Folgen auch für andere Kontinente. Im heutigen Großbritannien verfügt das reichste Hundertstel der Bevölkerung über mehr als 25 Prozent der Vermögenswerte, die ärmere Hälfte dagegen über etwas mehr als 6 Prozent. Und von den 60 Millionen Einwohnern leben 11 Millionen unter Armutsbedingungen. Nach der aktuellen Unicef-Studie „The State of the World’s Children 2007“ ist Großbritannien das Schlusslicht von 21 untersuchten OECD-Ländern, was das Wohlergehen der Kinder angeht.4 Soziale Gerechtigkeit ist für die „Ausgeschlossenen“ nur ein ferner, unrealistischer Traum.

Blairs zehnjährige Amtszeit ist im politischen Leben eine lange Zeitspanne. Doch viele der wichtigen Veränderungen, die sich in einer Gesellschaft abspielen, sind weniger durch die Projekte der jeweiligen Regierungen beeinflusst als das Resultat grundlegender und langfristiger soziopolitischer Trends. Das gilt für Großbritannien so gut wie für den Rest Europas. Anthony Giddens, ehemals Präsident der London School of Economics und einer der Erfinder des „Dritten Wegs“, weist darauf hin, dass in der Europäischen Union von heute nur noch 16 Prozent der Beschäftigten in der Fertigungsindustrie arbeiten, dagegen 80 Prozent in der Wissens- oder Dienstleistungsindustrie, während in der Landwirtschaft „kaum noch jemand“ beschäftigt ist.

Das ist ein sehr tiefgreifender ökonomischer und kultureller Wandel, der sich auch auf die politischen Aktivitäten der Menschen auswirkt. Die Labour Party hatte in den 1950er-Jahren 1 Million Mitglieder, heute sind es nicht einmal mehr 200 000. Die Gewerkschaften haben seit den 1970er-Jahren die Hälfte ihrer Mitglieder verloren; heute sind es noch 8 Millionen Mitglieder, von denen die meisten im öffentlichen Sektor arbeiten.

Die Blair-Ära brachte noch weitere gesellschaftliche Veränderungen. Die Auflösung der traditionellen Arbeiterklasse führte unter anderem zum Verschwinden der alten – männlich dominierten – Pub-Kultur, die aus dem britischen Alltagsleben noch vor einer Generation nicht wegzudenken war. Was früher der Pub war, ist heute das schicke Ess- oder Weinlokal, das sich auf den Bürgersteig ausbreitet, wo die jugendlich gestylten Gäste bei jedem Wetter unter gasbeheizten Wärmeschirmen im Freien sitzen wie in ihrem Ferienort am Mittelmeer.

Zu den neueren Trends gehören auch die Allgegenwart von Mobiltelefonen und die Ausbreitung des Internets, die Einführung einer City-Maut für Privatautos zur Bewältigung der städtischen Verkehrsprobleme, die Mode einer nächtlichen Klubsause, die neue Sitte des „binge drinking“, der wachsende Kokainkonsum, die geisttötende Beschäftigung mit Mode und Sport sowie die billigen Flugtickets, die bislang Unterprivilegierten und sozial schwachen Familien die Möglichkeit verschaffen, ihren Urlaub in fernen Länder zu machen. Zu all diesen Veränderungen im Lebensstil der Menschen fällt den Politikern von New Labour kaum etwas ein, als ob sie völlig unerheblich wären.

Trotz alledem sieht sich Blair am Ende seiner Amtszeit als heroischer nationaler Führer vom Format einer Maggy Thatcher. Was er für richtig hält, zieht er, entgegen aller Warnungen, einfach durch. Seine unbeirrbare Begeisterung für den Irakkrieg, seine strategische Entscheidung für die Stärkung des Bündnisses mit den Vereinigten Staaten und seine Rückkehr zu imperialen Ambitionen im Gewande „humanitärer Interventionen“ waren Blairs eigenen politischen Projekte. Und sie werden auch seine wichtigste Hinterlassenschaft bleiben.

Und eine weitere Neuerung wird die zehn Jahre Blair wahrscheinlich überleben: Eine seiner bedeutendsten Erfindungen ist die Fähigkeit, die Medien im eigenen Sinne zu manipulieren, was man inzwischen allgemein als „spin“ bezeichnet. Die Presse und PR-Aktivitäten der „spin doctors“ wurden derart ausgeweitet, dass die Zahl der von der Regierung eingestellten Pressebetreuer seit 1997 von 300 auf 1 815 aufgestockt wurde.

All diese persönlichen Errungenschaften Blairs stoßen heute auf entschiedene Kritik. Die Kriege im Irak und Afghanistan werden zunehmend als Fehlschläge gewertet; der enge Schulterschluss mit den USA wird heute erstmals seit über fünfzig Jahren von breiten Kreisen in Frage gestellt; der Begriff „humanitäre Intervention“ ist diskreditiert und selbst die bislang fügsamen Medien beginnen gegen das unverschämte Gehabe von Blairs Pressesprechern aufzubegehren.

Blairs relativ dürftiges Abschneiden bei den Parlamentswahlen vom Mai 2005 hatte viel mit der Desillusionierung der traditionellen Labour-Wähler zu tun, die am Ende einsehen mussten, dass ihre Partei von Verfechtern einer fremden Ideologie gekidnappt worden war. In der dritten und letzten von Blair noch einmal knapp gewonnenen Wahl zeigt sich, dass Labour die breiten Gruppen in der Mitte, die die Partei für einen Wahlsieg braucht, nicht mehr an sich binden kann.

Künftige Historiker könnten durchaus zu dem Urteil gelangen, dass sich die unübersehbaren Erfolge Blairs und die Länge seiner Regierungszeit eher aus der phänomenalen Unfähigkeit der konservativen Opposition erklären als aus den Qualität oder Popularität des New-Labour-Unternehmens. Denn die Konservativen waren nach den Thatcher-Jahren erschöpft und intellektuell ausgeblutet, sie haben innerhalb der letzten zehn Jahre drei Parteiführer verschlissen. Nun haben sie als neuen Vorsitzender den jugendlich wirkenden David Cameron gewählt, der wie ein geclonter Blair daherkommt und auf eine schwammige, aber modisch gemäßigte „grüne“ Botschaft setzt, um die vom Blairismus enttäuschte Mittelklasse für sich zu gewinnen.

Nur ein Ereignis könnte dafür sorgen, dass die tragische Ödnis der Ära Blair nachträglich in einem milderen Licht erscheinen mag: eine noch katastrophalere Bilanz seines unmittelbaren – aber wohl eher kurzlebigen – Nachfolgers Gordon Brown.

Fußnoten:

1 Siehe dazu das Buch von John Kampfner, Chefredakteur des New Statesman, „Blair’s Wars“, London (Free Press) 2004. 2 Siehe dazu Tariq Ali, „Speaking of Empire and Resistance: Conversations with Tariq Ali“, London (The New Press) 2005. 3 5,35 Pfund die Stunde, das entspricht 7,88 Euro. 4 www.unicef.org/sowc07/.

Aus dem Englischen von Niels Kadritzke

Richard Gott ist Journalist in London.

Le Monde diplomatique vom 08.06.2007, von Richard Gott