Die Macht kommt aus den Pipelines
Das Große Spiel um die Energiereserven in Zentralasien von Régis Genté
Das neue „Große Spiel“ ist in vollem Gange. Und diesmal geht es um Gas und Erdöl. Am 12. Mai ging dabei der russische Präsident Wladimir Putin in die Offensive, als er mit Kasachstan und Turkmenistan einen Vertrag über den Bau einer Gaspipeline von Turkmenistan nach Russland unterzeichnete. Der Kampf, den sich die Supermächte um die Vorkommen in den ehemaligen Sowjetrepubliken Zentralasiens und des Kaukasus liefern, erklärt sich nicht allein aus ihrem Energiebedarf. 1991 war die Region mit dem Fall der Sowjetunion der Kontrolle Moskaus entglitten. Öl und Gas sind auch Mittel im Kampf um Macht und Einfluss in der eurasischen Region. Und die Pipelines sind wie lange Taue, mit denen die Supermächte die acht heute unabhängigen früheren GUS-Staaten der Region an sich zu binden versuchen, wobei die großen Ölkonzerne eine Mittlerrolle spielen.1
Der Begriff „Das Große Spiel“ ist im 19. Jahrhundert durch Rudyard Kiplings Roman „Kim“ populär geworden. Darin beschrieb er den Kampf der Großmächte um ihre Einflusssphären, der in vieler Hinsicht ähnlich wie heute verlief. Damals ging es um das, was unter dem Namen „Vorder- und Hinterindien“ firmierte, um das Kronjuwel des britischen Empire, das die Begehrlichkeiten des zaristischen Russland weckte.2 Der Kampf dauerte fast hundert Jahre und endete 1907, als sich London und Sankt Petersburg auf eine Aufteilung der Einflusssphären verständigten. Zwischen diesen Sphären schufen sie einen Pufferstaat namens Afghanistan.3 Das Abkommen sollte bis 1991 Bestand haben.
„Die Ideen und Methoden, in deren Namen die Großmächte agieren, mögen heute anders sein“, meint Muratbek Imanaliew, der Leiter des Institute for Public Policy in Bischkek und ehemals kirgisischer (und zuvor sowjetischer) Diplomat, „und auch wenn die Akteure nicht mehr dieselben sind, so bleibt das Ziel letzten Endes dasselbe. Es geht den Mächten darum, Zentralasien auf die eine oder andere Weise zu kolonialisieren, um sich gegenseitig in Schach zu halten. Gas und Erdöl sind gewiss als solche begehrt, aber sie sind auch Mittel der Machtpolitik.“
Gleich beim Zusammenbruch der UdSSR sahen die GUS-Staaten im Erdöl ein Mittel, ihre Staatskassen zu füllen und ihre Unabhängigkeit gegenüber Moskau zu stärken. Ende der 1980er-Jahre warf der US-Konzern Chevron ein begehrliches Auge auf die Ölvorkommen von Tengis, einem der weltweit größten Ölfelder im Westen Kasachstans. 1993 erwarb Chevron 50 Prozent der Anteile. Auf der gegenüberliegenden Seite des Kaspischen Meers unterzeichnete der aserbaidschanische Präsident Hejdar Alijew einen „Jahrhundertvertrag“ mit ausländischen Ölkonzernen zur Ausbeutung der Felder von Aseri-Tschirag-Guneschli. Russland war hoch erzürnt, weil das kaspische Öl seiner Kontrolle entglitt. Moskau machte gegenüber Baku geltend, der rechtliche Status des Kaspischen Meers sei nicht eindeutig, denn man könne es als Binnensee oder als Meer sehen. Moskau hatte gehofft, mit Alijew, der schon zu Sowjetzeiten Aserbaidschans KP-Chef war, besser zurechtzukommen als mit dessen Vorgänger, dem antirussisch gesinnten Abulfaz Eltschibey. Der erste Präsident des unabhängigen Aserbaidschan war 1993, wenige Tage vor der Unterzeichnung wichtiger Verträge mit angelsächsischen Ölmultis, durch einen Putsch gestürzt worden.
Der neue Präsident Hejdar Alijew führte als gewiefter Kenner des sowjetischen Politsystems – er war früher KGB-General und Mitglied des Politbüros –Geheimverhandlungen mit russischen Ölkonzernen. Man einigte sich darauf, dass Lukoil 10 Prozent Anteile an dem Konsortium Aseri-Tschirag-Guneschli erhielt. Damals begann die Konkurrenz zwischen Ost und West um die Ölvorkommen der Region.
Um ihren Vorstoß ins Kaspische Becken zu rechtfertigen, hatten die USA schon in den 1990er-Jahren ihre Schätzungen über den Umfang der Vorkommen an fossilen Brennstoffen in der Region enorm aufgebläht. Von 243 Milliarden Barrel Öl war da die Rede – kaum weniger als in Saudi-Arabien! Heute schätzt man diese Reserven auf 50 Milliarden Barrel Öl und 9,1 Trillionen Kubikmeter Gas, das entspricht 4 bis 5 Prozent der globalen Reserven.
Die USA riskierten diesen enormen Bluff, weil sie „um jeden Preis die Ölpipeline Baku-Tiflis-Ceyhan (BTC) bauen wollten. „Sie wollten Russland zuvorkommen und die Ausweitung des russischen Einflusses erschweren. Ich weiß nicht, bis zu welchem Grad sie bewusst übertrieben haben“, sagt Steve Levine, ein US-Journalist, der diese Fragen seit fast zwanzig Jahren verfolgt.4
US-Präsenz im Namen des Kriegs gegen den Terror
Nach dem 11. September 2001 hat sich diese Konkurrenz um Einflusssphären noch zugespitzt. Zur Unterstützung des „Kriegs gegen den Terrorismus“ hat das US-Militär auf dem Gebiet der ehemaligen UdSSR Fuß gefasst. Mit dem Segen des geschwächten Russland installierte Washington Militärbasen in Kirgisien und Usbekistan, allerdings unter der Zusicherung, man werde wieder abziehen, sobald das islamistische Krebsgeschwür beseitigt sei. „Bush hat die militärische Präsenz der USA in Zentralasien dazu genutzt, den Sieg über Russland im Kalten Krieg abzusichern, den Einfluss Chinas einzudämmen und den Iran umklammert zu halten“, meint der ehemalige Kriegsberichterstatter Lutz Kleveman.5
Washington spielte auch eine entscheidende Rolle in den „bunten Revolutionen“ in Georgien (2003), der Ukraine (2004) und Kirgisien (2005), die allesamt schwere Rückschläge für Moskau bedeuteten.6 Durch diese Umstürze verschreckt, kehrten einige Autokraten der Region den USA den Rücken und näherten sich Russland oder China an. In der Tat ist das Spiel in dem Maße komplizierter geworden, wie Peking in Zentralasien auf den Plan trat und Europa infolge des russisch-ukrainischen Gaskriegs Anfang 2006 seine Pläne zur Gewinnung des kaspischen Erdgases forcierte. Um im Großen Spiel zum Zug zu kommen, muss man auf mehreren Ebenen gleichzeitig spielen: Der Kampf geht um Öl und um Sicherheit, um Einflusssphären und um Ideologien.
Anfänglich hatte Russland in diesem Kräftemessen einen soliden Vorteil: 1991 kontrollierte es noch sämtliche Leitungen, durch die die GUS-Staaten ihre Rohstoffe transportieren. Die in Zentralasien zu Staatspräsidenten aufgerückten Apparatschiks dagegen waren darauf bedacht, Russland nicht zu viel Macht zu überlassen. Seit dem Fall der UdSSR wurde ein halbes Dutzend Ölleitungen gebaut, die nicht über das Gebiet des Großen Bruders laufen: Moskau verlor zunehmen an politischem und ökonomischem Einfluss in seinem ehemaligen Hinterhof.
Ein typisches Beispiel ist Turkmenistan: Von den im Jahr 2006 geförderten 50 Milliarden Kubikmeter Gas verkaufte der kaspische Anliegerstaat vier Fünftel nach Russland. Es gab keine andere Wahl. Abgesehen von einer kleinen, 1997 in Betrieb genommenen Gasleitung, die Turkmenistan mit dem Iran verbindet, verfügt das Land nur über die CAC-4-Pipeline, die nach Russland führt – eine veritable energiepolitische Fessel. Im April 2003 konnte Präsident Putin seinem Ende 2006 verstorbenen turkmenischen Partner Saparmurad Nijasow einen Vertrag aufzwingen, der eine jährliche Liefermenge von 80 Milliarden Kubikmeter Gas für 25 Jahre zum lächerlichen Preis von 44 Dollar pro 1 000 Kubikmeter vorsieht.
Schon bald versuchte Nijasow, die Bedingungen zu ändern, indem er die Lieferungen einstellte. Im Winter 2005 rang Moskau sich dazu durch, 65 Dollar für 1 000 Kubikmeter zu zahlen, weil es vor allem für eine preisgünstige Energieversorgung seiner Bevölkerung auf das turkmenische Gas angewiesen ist. Im September 2006 unterzeichnete Gazprom mit Turkmenistan einen Vertrag, in dem sich das Unternehmen für den Zeitraum von 2007 bis 2009 verpflichtet, 100 Dollar pro 1 000 Kubikmeter zu zahlen. Fünf Monate zuvor hatte Nijasow mit dem chinesischen Präsidenten Hu Jintao ein Abkommen unterzeichnet, nach dem Turkmenistan ab 2009 China 30 Jahre lang je 30 Milliarden Kubikmeter Naturgas liefern und zu diesem Zwecke eine 2 000 Kilometer lange Gasleitung bauen wird. Damit war klar, was Gazprom bewogen hatte, sein Preisangebot aufzubessern.
Will Turkmenistan die Preise nun noch weiter in die Höhe treiben? Im April lud der neue Staatschef Gurbanguly Berdymuchammadow nach seiner Rückkehr von seinem Antrittsbesuch in Moskau den Chevron-Konzern auf, sich an der Entwicklung des turkmenischen Energiesektors zu beteiligen. Sein Vorgänger hätte es nie gewagt, eine solche Einladung an einen Ölmulti zu richten. Und auch für europäische Avancen hinsichtlich eines transkaspischen Korridors ist der neue Präsident durchaus aufgeschlossen. Das erweckt den Eindruck, als wolle er die westlichen Staaten ins Spiel bringen, damit Gazprom bereit ist, noch höhere Preise zu zahlen. Tatsächlich verkauft er sein Gas an Europa für 250 Dollar pro 1 000 Kubikmeter. Dennoch hat Putin vorgeschlagen, die CAC-4-Pipeline zu erneuern und noch eine weitere Gasleitung zwischen beiden Ländern zu bauen.
Der russische Journalist Arkadi Dubnow, der die GUS-Saaten seit langem beobachtet, meint dazu: „Russland will den Turkmenen beweisen, dass es bereit ist, viel für sie zu tun. Moskau hofft, sie von Verhandlungen mit den Chinesen und dem Westen abzubringen. Der Kampf, den Moskau mit Turkmenistan auszustehen hat, demonstriert, dass Russland weit davon entfernt ist, in den Exsowjetrepubliken allmächtig zu sein und dass derzeit der ökonomische Pragmatismus Putins und seiner Umgebung dominiert.“
Und dieser Pragmatismus zahlt sich aus. Am 12. Mai unterzeichnete Putin mit dem kasachischen und dem turkmenischen Präsidenten eine Vereinbarung über die Instandsetzung der CAC-4 und den Bau einer weiteren Pipeline, durch die turkmenisches Erdgas nach Russland gelangen soll. Um dieses Projekt unter Dach und Fach zu bringen, fuhr Putin rasch noch nach Turkmenbaschi, denn zur selben Zeit hatten Polen und weitere Anliegerstaaten Russlands ein Treffen organisiert, auf dem sie rivalisierende Pipelines beschließen wollten.
Wo Russland noch der übermächtige große Bruder ist
Auch der kasachische Präsident sollte dabei sein, sagte aber seine Teilnahme ab, um Putin in Astana empfangen zu können. Offenbar hatte Russland Argumente, die demonstrieren, dass sie in Zentralasien immer noch – und zweifellos auf längere Zeit – die stärkste aller Großmächte ist. In Peking und Brüssel muss man sich um die Pläne einer Gasversorgung aus Zentralasien einige Sorgen machen.
Gegenüber ihren Partnern verhalten sich die Russen häufig brutal rücksichtslos. Das bekamen im Januar 2006 auch die Europäer zu spüren, als zwischen Moskau und Kiew ein Konflikt über die Gaslieferungen ausbrach.7 Damals ging auf dem alten Kontinent, der ein Viertel seines Gasbedarfs aus Russland bezieht, das Schreckgespenst einer Versorgungskrise um. Doch nach Jérôme Guillet, Verfasser eines Berichts über diesen Streit von 2006, sind diese Krisen „eher die Folge von Machtkämpfen, die hinter den Kulissen zwischen Fraktionen im Kreml oder in der Ukraine toben, als ein bewusster Einsatz der ‚Energiewaffe‘.“8
Russland ist als weltweit wichtigster Lieferant für Gas und zweitwichtigster für Erdöl zu neuem Wohlstand gelangt und verfolgt taktische Ziele. Am 15. März unterzeichnete Putin ein Abkommen mit Bulgarien und Griechenland über den Bau einer Ölpipeline Burgas-Alexandroupolis (BAP). Sie ist eine ernstzunehmende Konkurrenz für die BTC und gleichzeitig die erste von Russland kontrollierte Leitung auf europäischem Gebiet. Dennoch: Heute fließt Rohöl durch die 1 740 Kilometer langen Rohre der BTC und auch Gas gelangt durch die Leitung Baku-Tiflis-Erzurum (BTE) in die Türkei. Die Schlagader des westlichen Einflusses auf dem Gebiet der ehemaligen UdSSR hat zu funktionieren begonnen.
Und das hat Folgen. Durch die BTE ist Georgien seit diesem Jahr nicht mehr total von russischen Gas abhängig. So haben die drastischen Preiserhöhungen, die Russland Tiflis aufzwang – innerhalb von zwei Jahren stieg der Preis von 55 auf 230 Dollar je 1 000 Kubikmeter – der georgischen Wirtschaft nicht so sehr geschadet, wie Moskau gehofft hatte. Denn da die Georgier das durch die BTE aus Baku bezogene Gas mit Durchleitungsgebühren verrechnen können und auch die Türkei ihnen einen Teil ihrer bezogenen Gasmenge zu einem Freundschaftspreis abtritt, können sie ihren Gasbedarf zu einem erträglichen Durchschnittspreis decken.9
Noch schlimmer war für Moskau, dass der Versuch, Aserbaidschan zu ähnlich hohen Preisen wie den russischen zu bewegen – in der Hoffnung, dass sie auf die Lieferungen nach Tiflis durchschlagen –, Präsident Ilham Alijew in Harnisch gebracht hat. „Damit erweisen sich die BTC (und die BTE) als der größte außenpolitische Sieg der USA in den letzten 15 Jahren. Denn damit werden die Russen in Schach gehalten und die Unabhängigkeitsbestrebungen der Kaukasusrepubliken unterstützt“, urteilt Steve Levine. Diese Öl- und Gasleitungen eröffnen den USA und Europa die Möglichkeit, mit weiteren Projekten ihre Rohstoffversorgung zu diversifizieren und die GUS-Staaten in ihre politische Einflusssphäre einzubinden.
Zwei Vorhaben sind dabei vorrangig: erstens das Kasachstan Caspian Transportation System (KCTS), das die Ausbeutung der Ölfelder von Kaschagan ermöglicht, der weltweit größten Vorkommen, die in den letzten 30 Jahren entdeckt wurden. Ab 2010 wollen die Aktionäre der Betreibergesellschaft, ein Konsortium aus großen westlichen Ölmultis10 , täglich 1,2 bis 1,5 Millionen Barrel über das Kaspische Meer transportieren. Wegen des russischen und iranischen Widerstands kommt allerdings eine Unterwasserpipeline nicht in Betracht. Stattdessen soll eine Tankerflotte zwischen Kasachstan und Aserbaidschan pendeln, wo das Öl in einem neuen Terminal in die BTC eingespeist werden kann. Deren Kapazität soll sich, dank zusätzlicher Pumpstationen und dem Einsatz von durchlaufbeschleunigenden Mitteln von 1 Millionen auf 1,8 Millionen Barrel pro Tag erhöhen.
Das zweite Vorhaben steckt noch in den Kinderschuhen. Es handelt sich um den „transkaspischen Korridor“, der dazu bestimmt ist, Europa mit kasachischem und turkmenischem Gas zu versorgen. „Wir sprechen von ‚Korridor‘ und nicht von ‚Gasleitung‘ “, betont Faouzi Bensarsa, Energieberater bei der Europäischen Kommission. „Wir möchten dazu anregen, über alternative technologische Lösungen nachzudenken, etwa eine Erhöhung der Investitionen zur Produktion von Flüssiggas in Turkmenistan, das dann per Schiff nach Baku gebracht werden könnte.“
Die EU will dabei im Großen Spiel kein Akteur sein, hält Bensarsa fest: „Sie orientiert sich nur an ihrem Bedarf. Der wird bald zwischen 120 und 150 Milliarden Kubikmeter Gas jährlich liegen. Wir wollen diese zusätzlichen Mengen auftreiben und unsere Versorgungsquellen diversifizieren, das ist alles. Und wir streben Lösungen an, die komplementär zu den schon bestehenden sind.“
Die andere große, von Washington favorisierte Pipeline hat hingegen kaum eine Perspektive. Die Turkmenistan-Afghanistan-Pakistan-Indien-Rohrleitung (TAPI) hat der kalifornische Konzern Unocal schon 1996 projektiert, als in Afghanistan die Taliban an die Macht gekommen waren. Heute meint Ajay Kumar Patnaik, Spezialist für Russland und Zentralasien an der Jawaharlal-Nehru-Universität in Neu-Delhi: „Seit den neuerlichen Angriffen der Taliban in Afghanistan hat dieses Vorhaben zu viele Sicherheitsrisiken. Außerdem gehen etliche Experten davon aus, dass die Vorkommen in Turkmenistan nicht korrekt eingeschätzt wurden.“
Washington hat die TAPI in der Absicht verteidigt, den Iran zu isolieren und zugleich Russland in Zentralasien zu schwächen. Die USA wollen auch in Afghanistan ihr Image aufbessern und das Land stabilisieren, indem sie die Energieversorgung der dortigen Bevölkerung gewährleisten und die Wirtschaft wieder aufbauen. Die neuen Prioritäten des US-State-Department zeigen sich auch darin, dass 2005 die Südasienabteilung mit der für Zentralasien zu einem neuen Bereich zusammengelegt wurde, die für einen „Großraum Zentralasien“ zuständig ist.
Die Energie ist einer der maßgeblichen Faktoren für die Beziehungen innerhalb dieser Region. Deshalb sind in Tadschikistan Wasserkraftwerke geplant, die die Versorgung Nordafghanistans gewährleisten sollen. Aber das Gesamtkonzept ist kein wirklicher Erfolg. Neu-Delhi fühlt sich Zentralasien sehr fern und ist nur widerstrebend bereit, die TAPI mitzutragen. Das von Teheran angeregte Vorhaben einer Gasleitung Iran-Pakistan-Indien (IPI) wäre verlockender, wird aber durch den Iran Libya Sanctions Act (ILSA) verhindert, nach dem Washington Sanktionen gegen jedes Unternehmen verhängen kann, das in die Öl- oder Gasvorkommen dieser Länder investiert.
„Der Iran ist der große Verlierer im neuen Großen Spiel. Nicht nur führen die Ölleitungen um das Land herum, sondern es will auch niemand im Iran investieren“, sagt Mohammad-Reza Djalili, iranischer Spezialist für internationale Beziehungen in Zentralasien. Aber gerade Teheran braucht Investitionen am dringlichsten: „Die Förderanlagen sind fast vier Jahrzehnte alt, weshalb der Iran gezwungen ist, 30 Prozent seines Benzinbedarfs zu importieren. Der Iran konnte seinen Anteil am Kaspischen Meer nicht ausbeuten und er fördert seine enormen Gasvorkommen nur unzureichend.“
Im Übrigen sei es paradox, dass Teheran vom Großen Spiel ausgeschlossen bleibt, denn für die Produzenten von fossilen Brennstoffen in Zentralasien hätte eine Route gen Süden höchste Priorität: „Die ist am günstigsten und technisch am einfachsten“, erklärt Arnaud Breuillac, Leiter der Abteilung Mitteleuropa und Zentralasien bei Total. Im Interesse einer Diversifikation der Exportwege argumentiert er für die Südroute, „vor allem weil die dem Kaspischen Meer am nächsten lebenden Verbraucher im Nordiran leben.“
Deshalb meint Djalili, dass die Annäherung an die Shanghai Cooperation Organisation (SCO)11 , „für die Politik des Iran in Zentralasien einen Rettungsanker darstellt. Auf diesem Wege kann Teheran seine Verbindungen nach Asien knüpfen, insbesondere nach China, und im Kräftemessen mit den USA Rückhalt gewinnen.“
China wiederum verfolgt im Großen Spiel drei Ziele, wie der China- und Zentralasien-Experte Thierry Kellner erläutert: erstens Sicherheit, insbesondere in der muslimischen turksprachigen Region Xinjiang, die an Zentralasien angrenzt; zweitens gute Zusammenarbeit mit seinen Nachbarn, um zu verhindern, dass eine andere Großmacht im zentralasiatischen Raum zu viel Gewicht gewinnt; drittens seine Energieversorgung. Über die wachsenden Investitionen chinesischer Energiekonzerne in Zentralasien ist viel geschrieben worden. Im Dezember 2005 nahm China sogar eine Ölpipeline in Betrieb, die Atasu mit Alaschanku in Xinjiang verbindet. Nachdem China 1997 sein erstes Abkommen in Zentralasien unterzeichnet hat, betreibt es laut Kellner heute eine langfristige Politik: „Es hat verstanden, sich in Zentralasien eine solide Basis zu schaffen, und das macht sich heute bezahlt.“
Diese hektischen Ankäufe spiegeln nicht nur den Energiebedarf des rapide wachsenden Landes – die jährliche Wachstumsrate liegt bei 10 Prozent –, sondern sind laut Kellner auch Ausdruck seiner geopolitischen Vision: „Um seine energiepolitische Sicherheit zu gewährleisten, leistet China sich Vorkommen und Ölleitungen, über die es sich direkt versorgt, die es aber auch sehr teuer bezahlt. Dabei wäre doch entscheidend, dass Angebot und Nachfrage sich weltweit ausgleichen, um das Preisniveau zu halten. Schon in seinem eigenen Interesse sollte Peking zu diesem Gleichgewicht beitragen, ohne unbedingt in erster Linie an seine Direktversorgung zu denken.“
Investitionen in Zentralasien sind für China auch eine Methode, in der Region politisch mitzumischen – angeblich, um deren Sicherheit zu gewährleisten. Peking engagiert sich in der SCO, um die Mitgliedstaaten für seine eigenen Anliegen zu gewinnen, etwa den Kampf gegen den Terrorismus oder die wirtschaftliche und energiepolitische Zusammenarbeit. Außerdem bildet die Organisation einen Block, der sich im Notfall eng zusammenschließen würde, also im Fall einer Destabilisierung der Region oder falls die USA dort so viel Einfluss gewinnen sollten, dass sich die lokalen Mächte gefährdet sehen.
Die Welle der „bunten Revolutionen“ im ehemals sowjetischen Raum seit 2003 hat die SCO veranlasst, deutlich gegen Washington Stellung zu beziehen. Im Juli 2005 unterstützten seine sechs Mitglieder die usbekische Regierung in Taschkent bei ihrer Forderung nach Schließung des US-Luftwaffenstützpunkts in Karschi-Khanabad, der im Zuge der Afghanistanmission entstanden war. Heute sind auf usbekischem Boden keine GIs mehr stationiert.
Doch im Grunde kommt das Große Spiel den zentralasiatischen Republiken zugute, die auf die wirtschaftliche und politische Rivalität zwischen den Supermächten setzen. Sie gewinnen an Unabhängigkeit, weil sie der einen „nein“ sagen können, um sich einer anderen zuzuwenden: Was letzten Endes darauf hinausläuft, sich seine Abhängigkeit selbst auszusuchen. Während etwa Kasachstan seine Wirtschaft der Welt öffnet, kapselt sich Usbekistan ab; und während Georgien ganz auf die Washingtoner Karte setzt, hegt Turkmenistan nach wie vor ein tiefes Misstrauen gegenüber den USA.
Das kleine Spiel der Despoten
Bei allen Unterschieden verleiht das Große Spiel den Republiken Zentralasiens einen Spielraum, so dass sie sich den Vorgaben der Großmächte nicht unbedingt beugen müssen. Wenn zum Beispiel die demokratischen Werte des Westens den Interessen der zentralasiatischen Machthaber zuwiderlaufen, können sie sich umorientieren, denn Peking oder Moskau sind diesbezüglich nicht so zimperlich.
Dasselbe trifft allerdings auch auf Washington oder Brüssel zu. Auch sie lassen sich durch strategische Erfordernisse häufig dazu bewegen, die Menschenrechte hintan zu setzen. Das wiederum geht auf Kosten der Glaubwürdigkeit der sogenannten westlichen Werte, die von den lokalen Machthabern lediglich als ideologische Waffe betrachtet wird. Diese setzen seit 2003 mehr und mehr auf eine „orientalische“ Art von Demokratie, mit der sie ihre Kritiker zum Schweigen bringen.
Bei alledem dominiert im Großen Spiel überall die Korruption. Und obwohl die Gas- und Erdölvorkommen als „nationale Güter“ deklariert sind, kann von einer demokratischen Kontrolle durch die Einwohner dieser Länder nicht die Rede sein.
Fußnoten:
Aus dem Französischen von Barbara Kleiner
Régis Genté ist freier Journalist und lebt in Bischkek, Kirgisien.