08.06.2007

Sprit vom Acker

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Sprit vom Acker

Fünf Mythen vom Übergang zu Biokraftstoffen von Eric Holt-Giménez

Der Ausdruck „Biokraftstoff“ beschwört das lebensspendende Bild von unerschöpflicher, erneuerbarer Energie – eine saubere, grüne, nachhaltige Bestätigung des frommen Glaubens an die Technologie und die Macht des Fortschritts. Damit können die Industrie und die Politiker, die Weltbank und auch die Internationale Expertengruppe zum Klimawandel die Herstellung von Kraftstoffen aus Mais, Zuckerrohr, Soja und anderen Agrarprodukten als nächsten Schritt eines allmählichen Paradigmenwechsels darstellen: von einer die Ölquellen maximal ausschöpfenden Strategie zu einer noch näher zu definierenden, auf nachwachsenden Kraftstoffen basierenden Ökonomie. Der Mythos eines unerschöpflichen Füllhorns namens Biokraftstoff lenkt von den mächtigen ökonomischen Interessen ab, die von diesem Übergang profitieren. Und er verdunkelt die politisch-ökonomischen Zusammenhänge zwischen verfügbarem Land und den Menschen wie zwischen Rohstoffen und Nahrungsmitteln. Der Ausdruck Biokraftstoff zeigt immer nur eine Seite der Medaille und behindert damit ein besseres Verständnis der tief greifenden Folgen, die sich aus der industriellen Transformation unserer Nahrungsmittel- und Kraftstoffsysteme ergeben.

Durch ehrgeizige Zielvorgaben für den Anteil nachhaltiger Kraftstoffe am Energieverbrauch haben die Industrieländer einen regelrechten Boom auf das ausgelöst, was angemessener Agrokraftstoffe heißen sollte. 2010 sollen erneuerbare Kraftstoffe in Europa 5,75 Prozent des Bedarfs an Transportkraftstoffen decken, 2020 sollen es bereits 10 Prozent sein. Die Vereinigten Staaten streben einen Absatz von 35 Milliarden Gallonen an. Diese Ziele sind mit Hilfe der landwirtschaftlichen Kapazitäten des Nordens völlig unerreichbar. Europa müsste 70 Prozent seines Ackerlandes für die Produktion von Biokraftstoffen nutzen und die USA müssten ihre gesamte Mais- und Sojaproduktion zu Ethanol und Biodiesel verarbeiten.

Einen Großteil des landwirtschaftlich nutzbaren Landes zur Herstellung von Biokraftstoffen zu verwenden, hätte verheerende Folgen für die Nahrungsmittelsysteme des Nordens. Deshalb richten die OECD-Länder ihren Blick gen Süden – und die Regierungen der südlichen Länder scheinen zu allem bereit. In Indonesien und Malaysia dehnen sich die Ölpalmplantagen derzeit um ein Vielfaches aus; am Ende sollen sie 20 Prozent des Biodieselbedarfs der EU decken. In Brasilien – wo der Anbau von Kraftstoffpflanzen bereits eine Fläche von der Größe der Niederlande, Belgiens, Luxemburgs und Großbritanniens beansprucht – plant die Regierung eine Verfünffachung der Zuckerrohrflächen. 2025 will man 10 Prozent des Weltbenzinverbrauchs decken.

Der Prozess der Kapitalisierung und der Machtkonzentration in der Agrokraftstoffindustrie ist atemberaubend. In den letzten drei Jahren haben sich die Venture Capital Investitionen im Bereich der Biokraftstoffe verachtfacht. Die öffentlichen Forschungsinstitutionen werden von Privatinvestitionen überschüttet. Hinter den Kulissen – und unter den Augen der nationalen Kartellbehörden – schmieden riesige Öl-, Getreide-, Auto- und Gentechnologiekonzerne machtvolle Allianzen: ADM und Monsanto; Chevron und VW; BP, DuPont und Toyota. Diese Firmen vereinigen unter einem Riesendach die Erforschung, die Produktion, die Verarbeitung und die Vertriebsketten unserer Nahrungsmittel- und Kraftstoffsysteme.

Die Befürworter der Biokraftstoffe versichern uns täglich, wie nachhaltig und umweltfreundlich Energiepflanzen seien und dass sie die Klimaerwärmung verringerten und die ländliche Entwicklung förderten. Doch die enorme Marktmacht der Agrokraftstoffkonzerne – in Kombination mit mangelndem Regulierungswillen seitens der Regierungen – weckt erhebliche Zweifel an diesen idyllischen Szenarien. Bevor wir in den Chor einstimmen, sollte die mythische Überfrachtung, die den Übergang zum Zeitalter des Biokraftstoffs begleitet, öffentlich dekonstruiert werden:

Mythos 1: Biokraftstoff ist sauber und umweltfreundlich

Biokraftstoffe sollen besonders umweltfreundlich sein, weil sie den Verbrauch fossiler Energieträger reduzieren und weil die Photosynthese der Kraftstoffpflanzen der Atmosphäre Treibhausgase entzieht. Aber wenn man den gesamten „Lebenszyklus“ von Biokraftstoffen betrachtet – von der Rodung bis zum Autotank –, werden die moderaten Emissionsverringerungen mehr als aufgewogen, weil die Abholzung, Trockenlegung, Kultivierung und der Kohlendioxidverlust des Boden weit größere Emissionen verursachen. Die Herstellung jeder Tonne Palmöl geht mit 33 Tonnen Kohlendioxidemissionen einher, das ist zehnmal mehr als bei einer Tonne Rohöl.1 Die Rodung tropischer Regenwälder zum Anbau von Zuckerrohr für die Ethanolproduktion setzt 50 Prozent mehr Treibhausgase frei als Produktion und Verbrauch derselben Menge Benzins.2 Und in Hinblick auf den globalen CO2-Haushalt meint Doug Parr, der Forschungsleiter von Greenpeace Großbritannien: „Wenn nur 5 Prozent der Biokraftstoffe durch die Zerstörung bestehender, alter Wälder gewonnen werden, sind die Einsparungen an CO2-Immissionen bereits wieder aufgebraucht.“

Aber es gibt noch weitere Umweltprobleme. Die industrielle Gewinnung von Biokraftstoff erfordert den Einsatz von Düngemitteln, die aus Erdöl gewonnen werden. Der globale Düngemitteleinsatz – von derzeit 45 Millionen Tonnen pro Jahr – hat die Menge des biologisch gebundenen Stickstoffs inzwischen mehr als verdoppelt und trägt damit erheblich zur Emission von Distickstoffmonoxid bei, das ein 300-mal aggressiveres Treibhausgas ist als Kohlendioxid. In den Tropen, wo demnächst ein Großteil der Biokraftstoffe produziert wird, wirken sich chemische Düngemittel 10- bis 100-mal so stark auf die Klimaerwärmung aus wie in klimatisch gemäßigteren Breiten.3

Die Herstellung von einem Liter Ethanol verbraucht 3 bis 5 Liter Wasser und verursacht bis zu 13 Liter Abwasser. Um diese Abwässer zu klären, bräuchte man das Energieäquivalent von 113 Litern Erdgas, wobei freilich wahrscheinlicher ist, dass diese Abwässer ungeklärt in die Umwelt abgegeben werden und Flüsse, Bäche und Grundwasser verschmutzen.4 Der intensive Anbau von Kraftstoffkulturen, insbesondere von Soja, führt zu einer massiven Bodenerosion: In den USA gehen jährlich 6,5 Tonnen Erde pro Hektar verloren, in Brasilien und Argentinien sogar bis zu 12 Tonnen pro Hektar.

Mythos 2: Biokraftstoff führt nicht zur Abholzung von Wäldern

Die Befürworter von Biokraftstoffen behaupten, dass die Kultivierung von Kraftstoffpflanzen auf minderwertigem, erodiertem Boden der Umwelt nicht schadet, sondern nützt. Von diesem Gedanken ließ sich womöglich die brasilianische Regierung leiten, als sie 200 Millionen Hektar an tropischem Trockenwald, Savanne und Feuchtgebieten in die Kategorie „minderwertig“ umklassifizierte und zur Kultivierung freigab.5 In Wahrheit handelt es sich um Ökosysteme mit hoher Biodiversität wie die Mata Atlantica, den Cerrado und das Pantanal, wo Ureinwohner und Kleinbauern leben oder wo extensive Viehzucht betrieben wird. Die Anlage von Biokraftstoffplantagen wird diese Menschen weiter in Richtung Amazonasbecken treiben; und hier sind die verheerenden Folgen der Abholzung der Wälder nur allzu bekannt.

Soja liefert 40 Prozent des brasilianischen Biokraftstoffs. Die Nasa hat festgestellt, dass zwischen der Zerstörung des Amazonas-Regenwalds von derzeit rund 325.000 Hektar pro Jahr und dem Weltmarktpreis für Soja eine positive Relation besteht. Das zur Gewinnung von Biodiesel hergestellte Palmöl, das man treffend auch „Kahlschlagdiesel“ (Deforestation Diesel) nennt, ist heute die Hauptursache der Waldverluste in Indonesien, einem der Länder mit der höchsten Abholzungsrate der Welt. Bis 2020 werden sich die Ölpalmplantagen in Indonesien auf 16,5 Millionen Hektar, das entspricht der Größe von England und Wales, und damit auf die dreifache Fläche erweitert haben – um den Preis des Verlusts von 98 Prozent des Waldbestands.6 Im benachbarten Malaysia, dem weltgrößten Palmölproduzenten, sind bereits 87 Prozent der tropischen Regenwälder verschwunden, und beim Rest geht die Abholzung mit einer Geschwindigkeit von 7 Prozent pro Jahr weiter.

Mythos 3: Biokraftstoffe fördern die ländliche Entwicklung

In den Tropen tragen 100 Hektar Land, das von Bauernfamilien bewirtschaftet wird, etwa 35 Arbeitsplätze. Plantagen von Ölpalmen und Zuckerrohr schaffen auf derselben Fläche zehn – schlecht bezahlte – Arbeitsplätze, Eukalyptus zwei und Sojabohnen gerade mal einen halben. Bislang wurden Biokraftstoffe vorwiegend für lokale und subregionale Märkte angebaut. Selbst in den USA waren die meisten Ethanolfabriken relativ klein und von Farmerfamilien betrieben.

Mit dem Biokraftstoffboom sind die großen Konzerne eingestiegen, mit den damit verbundenen Konzentrationseffekten und Größenvorteilen. Die großen Öl-, Getreide- und Gentechnikkonzerne machen sich zügig daran, die gesamte Wertschöpfungskette für Biokraftstoffe unter ihre Kontrolle zu bringen. Die Marktmacht dieser Konzerne ist atemberaubend: Cargill und ADM beherrschen 65 Prozent des weltweiten Getreidehandels, Monsanto und Syngenta ein Viertel der 60 Milliarden Dollar schweren Gentechnikindustrie. Dank ihrer Marktmacht können sich diese Konzerne die lukrativsten und risikoärmsten Segmente der Wertschöpfungskette sichern, also Einkauf, Verarbeitung und Vertrieb. Die Rohstoffproduzenten geraten, was den Bezug von Saatgut, Einkauf, Service, Verarbeitung und Verkauf anbelangt, in immer stärkere Abhängigkeit von einem straff organisierten Firmenoligopol. Angesichts dessen werden für die Produzenten keine großen Profite übrig bleiben.7 Kleinbauern dürften über kurz oder lang aus dem Markt und vom Land weggedrängt werden. In der „Sojarepublik“, einem 50 Millionen Hektar großen Gebiet, das sich von Südbrasilien über Nordargentinien und Paraguay bis Ostbolivien erstreckt, wurden bereits hunderttausende Bauernfamilien durch den Sojaanbau vertrieben.8

Mythos 4: Biokraftstoffe verursachen keinen Hunger

Hunger beruht laut Amartya Sen nicht auf Knappheit, sondern auf Armut. Der FAO zufolge gibt es genügend Nahrungsmittel auf der Welt, um jeden Menschen täglich mit einer 2 200-Kalorien-Ration aus frischem Obst, Nüssen, Gemüse, Milchprodukten und Fleisch zu versorgen. Dennoch müssen 824 Millionen Menschen Hunger leiden.

Zum Jahrtausendwechsel vor sieben Jahren gelobten die Regierungschefs der Welt, die Anzahl der in extremer Armut lebenden Menschen bis 2015 zu halbieren. Fortschritte wurden seitdem kaum erzielt. Die Ärmsten der Welt geben bereits heute 50 bis 80 Prozent ihres gesamten Haushaltseinkommens für Nahrungsmittel aus. Aber genau sie sind die Leidtragenden, wenn steigende Kraftstoffpreise die Lebensmittelpreise in die Höhe treiben. Da Nahrungs- und Kraftstoffpflanzen um dieselben Anbauflächen konkurrieren, könnten jedoch umgekehrt auch hohe Nahrungsmittelpreise die Kraftstoffpreise in die Höhe treiben. Beide Kulturen wiederum erhöhen die Land- und Wasserpreise.

Diese inflationäre Spirale führt dazu, dass Nahrungsmittel und die Ressourcen zu ihrer Herstellung für Arme unerschwinglich werden. Laut Schätzung des International Food Policy Research Institute werden sich Grundnahrungsmittel bis 2010 um 20 bis 33 Prozent und bis 2020 um 26 bis 135 Prozent verteuern. Erfahrungsgemäß geht der Kalorienkonsum bei einer 10-prozentigen Preiserhöhungen um 5 Prozent zurück. Mit jedem Prozent, um das die Nahrungsmittelpreise steigen, wird die Ernährung von 16 Millionen Menschen prekär. Wenn die derzeitige Entwicklung anhält, könnten im Jahr 2025 etwa 1,2 Milliarden Menschen chronisch Hunger leiden – 600 Millionen mehr als nach früheren Prognosen.9 Die Welthungerhilfe wird dagegen sehr wahrscheinlich nicht viel ausrichten können, weil jeder Überschuss im Benzintank landet. Es ist obszön, aber die Hungerhilfe erhöht sich quantitativ nur dann, wenn die Nahrungsmittelpreise sinken. Statt auf wertvollem Ackerland Kraftstoff zu produzieren, sollten wir dringend einen massiven Transfer von Ressourcen zur Nahrungsmittelproduktion an die arme Landbevölkerung dieser Welt einleiten.

Mythos 5: Eine „zweite Generation“ von Biokraftstoffen löst alle Probleme

Die Befürworter der Biokraftstoffe kommen Skeptikern gern mit dem Argument, dass die heutigen, aus Nahrungspflanzen hergestellten Biokraftstoffe schon bald durch eine neue Generation ersetzt werden könnten, die aus umweltfreundlichen Pflanzen wie schnell wachsenden Bäumen oder Rutenhirse (Switchgrass) hergestellt werden. Dieser Mythos soll die erste Generation von Biokraftstoffen akzeptabler machen.

Der Wechsel zu Biokraftstoffen verändert die Nutzung der Bodenflächen in großem Maßstab. Nahrungsmittel- und Kraftstoffproduktion konkurrieren um Land, Wasser und andere Ressourcen. Welche Pflanzen angebaut werden, ist dabei völlig nebensächlich. Wildpflanzen, die zur Kraftstoffgewinnung angebaut werden, werden nicht weniger Umweltschäden anrichten, weil die Kommerzialisierung auch ihr ökologisches Profil verändert. Sie werden rasch von Hecken und Wäldern auf landwirtschaftliche Nutzflächen übersiedeln und dort ebenso intensiv bewirtschaftet werden wie jede andere industriell genutzte Feldfrucht – mit den entsprechenden Folgen für die Umwelt.

Durch die gentechnische Reduktion von Lignin und Zellulose in bestimmten Pflanzen will die Industrie Bioethanollieferanten – insbesondere schnell wachsende Bäume – herstellen, deren Zellulose sich leichter in Zucker aufspalten lässt. Bäume sind jedoch mehrjährige Pflanzen, deren Pollen sich wesentlich weiter ausbreiten als die Samen von Nahrungspflanzen. Die vielversprechenden Kandidaten Chinaschilf, Rutenhirse und Kanariengras sind schnell wuchernde Arten. Zudem ist von gentechnisch veränderten Pflanzen eine massive genetische Kontamination anderer Pflanzen zu erwarten. Monsanto und Syngenta dürfen sich freuen. Die Biokraftstoffe sind das trojanische Pferd, mittels dessen ihnen die vollständige Kolonisierung unseres Kraftstoff- und Nahrungsmittelsystems gelingen wird.

Jede Technologie, die geeignet sein soll, die schlimmsten Auswirkungen der globalen Erwärmung noch zu verhüten, müsste innerhalb weniger Jahre kommerziell einsetzbar sein. Genau das erscheint beim Bioethanol, einem Produkt, das bislang keinerlei CO2-Reduktion erbracht hat, mehr als fraglich. Um daraus ein erfolgreiches grünes Produkt zu machen, müssten nicht nur vorhandene Technologien in großem Maßstab eingesetzt werden, sondern auch neue Erkenntnisse in der Pflanzenphysiologie hinzukommen, die eine rentable Aufspaltung von Zellulose, Hemizellulose und Lignin allererst möglich machten. Die Agrokraftstoffindustrie hofft auf ein Wunder oder darauf, dass die Kosten am Ende der Steuerzahler trägt. Doch der Glaube an Wissenschaft ist noch keine Wissenschaft. Und der willkürliche Glaube an Biokraftstoffe der zweiten Generation – statt die bereits bewährten Solar-, Wind- und Umwelttechnologien weiterzuentwickeln – ist nur Parteinahme zugunsten des Meistbietenden.

Die Internationale Energieagentur schätzt, dass in den nächsten 23 Jahren weltweit bis zu 147 Millionen Tonnen Biokraftstoff hergestellt werden. Zu den Nebenwirkungen gehören der Ausstoß beträchtlicher Mengen an Kohlendioxid und Distickstoffmonoxid, vermehrte Bodenerosion und über 2 Milliarden Tonnen Abwässer. Der produzierte Kraftstoff wird aber nicht einmal die jährliche Steigerung des weltweiten Ölbedarfs abfangen können, die im Augenblick bei 136 Millionen Tonnen liegt. Ist das die Sache wert?

Der Übergang zu Biokraftstoffen beendet ein zweihundertjähriges Kapitel in der Beziehung zwischen Landwirtschaft und Industrie, das mit der industriellen Revolution begonnen hat. Die Erfindung der Dampfmaschine versprach das Ende der körperlichen Plackerei. Aber der rasante Aufstieg des industriellen Sektors erfolgte erst, nachdem man das öffentliche Grundeigentum privatisiert und die ärmsten Bauern aus der Landwirtschaft in die städtischen Fabriken getrieben hatte. Die bäuerliche Landwirtschaft subventionierte dabei durch billige Nahrungsmittel und Arbeitskräfte die Entwicklung die Industrie.

In den ersten hundert Jahren expandierte die Industrie und der Anteil der Stadtbevölkerung stieg weltweit von 3 auf 13 Prozent. Billiges Erdöl und die daraus gewonnenen Düngemittel machten die Landwirtschaft für das Industriekapital interessant. Die Mechanisierung führte zu einer intensiven Bewirtschaftung, sorgte für niedrige Preise und eine boomende Industrie. Seitdem hat sich die Stadtbevölkerung verdreifacht. Heute leben ebenso viele Menschen in Städten wie auf dem Land.10 Die massive Verlagerung der Einkommen von der Landwirtschaft in die Industrie, die Industrialisierung der Landwirtschaft und die weltweite Landflucht machen in der Summe jene „landwirtschaftliche Revolution“ aus, die der weit weniger bekannten Zwillingsbruder der industriellen Revolution ist. Diese doppelte Revolution hat das Brennstoff- und das Nahrungsmittelsystem der Welt radikal verändert und das nicht erneuerbare Erdöl zum Fundament des heutigen agrarindustriellen Komplexes gemacht.

Große Getreidekonzerne wie ADM, Cargill und Bunge bilden die Eckpfeiler dieses Komplexes. Sie werden auf der einen Seite von einer Phalanx von Nahrungsmittel verarbeitenden Konzernen, Großhandelsunternehmen und Supermarktketten sekundiert und auf der anderen Seite von einem Konglomerat aus Agrochemie, Saatgutproduzenten und Maschinenherstellern. Von 5 Dollar, die für Nahrungsmittel ausgegeben werden, landet 1 Dollar bei diesen Industrien. Doch seit einiger Zeit leiden die Produzenten innerhalb des agrarindustriellen Komplexes unter einer „Involution“. Die wachsenden Investitionen (in Agrochemie, Gentechnik und Maschinen) können die landwirtschaftliche Produktivität nicht mehr steigern, was heißt: Der agrarindustrielle Komplex gibt immer mehr aus, um weniger zu verdienen.

Biokraftstoffe sind die perfekte Antwort auf diese Involution: Sie werden subventioniert, das Produktionsvolumen nimmt zu, während die Ölförderung abnimmt, und sie begünstigen die Konzentration der Marktmacht im Nahrungsmittel- und Kraftstoffgeschäft. Der Übergang zu Biokraftstoffen wird wie die Agrarrevolution vor zweihundert Jahren zur Privatisierung der verbliebenen Wälder und Savannen dieser Welt führen. Er wird kleine Grundbesitzer, Bauernfamilien und Ureinwohner in die Städte treiben. Er wird die landwirtschaftlichen Ressourcen in Form von „Biomasse“ in die Städte pumpen und damit enormen industriellen Reichtum schaffen.

Doch der Wechsel zum Biokraftstoff hat leider einen Geburtsfehler: Sein Zwillingsbruder ist der Tod. Denn eine neue industrielle Revolution wird ausbleiben. Es gibt keinen expandierenden Industriesektor, der nur darauf wartet, entwurzelte Ureinwohner, Kleinbauern und Landarbeiter aufzunehmen; keine produktivitätssteigernden Erfindungen, die uns demnächst mit billigen Nahrungsmitteln überschwemmen; keinen neu entdeckten Kraftstoff, der billige Energie für die Landwirtschaft liefern könnte. Im Gegenteil: Brennstoff wird mit Nahrungsmitteln um Land, Wasser und andere Ressourcen konkurrieren. Im Extremfall wird Biokraftstoff dazu benutzt, Biokraftstoff herzustellen – eine blamable Bestätigung des ersten Hauptsatzes der Thermodynamik.

Die der industriellen Landwirtschaft inhärente Entropie blieb solange unsichtbar, wie Erdöl im Überfluss vorhanden war. Jetzt müssen sich das Nahrungsmittel- und das Kraftstoffsystem vom Modell Sparkonto auf das Modell Girokonto umstellen. Und die Biokraftstoffe bringen uns dazu, das Konto zu überziehen. Dabei ist „erneuerbar“ keineswegs gleichbedeutend mit „unerschöpflich“. Zwar können Pflanzen immer wieder neu angebaut werden, doch Land, Wasser und Nährstoffe bleiben begrenzt. Wer etwas anderes behauptet, spielt lediglich denjenigen in die Hände, die diese Ressourcen monopolisieren.

Die Attraktion der Biokraftstoffe liegt darin, dass sie die Ölökonomie verlängert anstatt sie abzulösen. Bei geschätzten Ölreserven von einer Billion Barrel ist ein Ölpreis von 100 Dollar pro Barrel nicht mehr allzu weit entfernt. Je höher der Ölpreis, desto stärker können die Ethanolkosten steigen und zugleich wettbewerbsfähig bleiben. Hier liegt auch das Problem der Biokraftstoffe der zweiten Generation: Je teurer das Öl ist, desto lukrativer sind die Biokraftstoffe der ersten Generation und desto geringer ist der Anreiz zur Entwicklung einer zweiten. Wenn der Ölpreis bei 80 Dollar pro Barrel anlangt, können Ethanolproduzenten für Mais bis zu 4 Dollar pro Doppelzentner zahlen, womit Mais gegenüber Zuckerrohr konkurrenzfähig würde. Die Energiekrise des Planeten kann den Nahrungsmittel- und Kraftstoffkonzernen Gewinne von 80 bis 100 Billionen Dollar einbringen. Kein Wunder, dass man uns auffordert, unseren Überkonsum an Ressourcen ins Unendliche zu verlängern.

Der Übergang zum Biokraftstoff ist keine unabänderliche Tatsache. Es spricht nichts dafür, die Möglichkeit nachhaltiger und gerechter Nahrungsmittel- und Kraftstoffsysteme einer industriellen Strategie zu opfern, die beides vereitelt. Es gibt heute schon zahllose erfolgreiche, lokale, energieeffiziente und auf die Bedürfnisse der Menschen abgestimmte alternative Formen der Nahrungsmittel- und Kraftstoffproduktion, die weder das Nahrungsmittelsystem noch die Umwelt noch die Lebensgrundlage der Menschen zerstören. Die Frage lautet nicht, ob Ethanol und Biodiesel in unserer Zukunft überhaupt einen Platz haben, sondern ob wir uns von fünf, sechs Weltkonzernen in die Sackgasse des Biokraftstoffs treiben lassen.

Damit wir nicht in diese Falle gehen, müssen wir uns von jenen Überflussmythen befreien, die noch aus Zeiten vermeintlich unerschöpflicher Ölreserven stammen. Wir müssen den Mut zu einem ökologischen Paradigmenwechsel in der Landwirtschaft finden, zu einer Bodenreform, die der Landflucht entgegenwirkt und die zerfallenden ländlichen Gemeinschaften stabilisiert.

Wir müssen unsere lokalen Nahrungsmittelsysteme neu ausrichten und stärken, um Bedingungen zu schaffen, unter denen die Reinvestition des lokal erwirtschafteten Wohlstands vor Ort gesichert ist. Es geht darum, Menschen und Umwelt ins Zentrum der landwirtschaftlichen Entwicklung zu stellen – statt die Megaprofite von Weltkonzernen. Es geht um Nahrungsmittelsouveränität: um das Recht der Menschen, selbst über ihr Nahrungsmittelsystem zu bestimmen.

Die Agrokraftstoffindustrie braucht keine Anreize, sondern Schranken. Dem globalen Süden die Lasten unseres exzessiven Kraftstoffverbrauchs aufzubürden, nur weil in den Tropen die Sonne länger scheint, mehr Regen fällt und fruchtbarere Landstriche existieren, ist schlechterdings skandalös. Wenn die Produktion von Biokraftstoffen nicht zulasten der Wälder und der Ernährung gehen soll, müssen Getreide-, Zuckerrohr- und Palmölindustrie auf koordinierte Weise reguliert werden. Biokraftstoffe bringen den ländlichen Gegenden nur dann nachhaltige Gewinne, wenn sie nicht als Kernstück, sondern als Ergänzung nachhaltiger ländlicher Entwicklung begriffen werden.

Wir brauchen ein proaktives, globales Moratorium für die Expansion von Biokraftstoffen, um die nötigen regulativen Strukturen zu entwickeln und Programme zum Schutz der Umwelt und zur Entwicklung von Alternativen anzukurbeln. Wir brauchen Zeit, um einen besseren Wechsel auf den Weg zu bringen – den Übergang zur Nahrungsmittel- und Kraftstoffsouveränität.

Fußnoten:

1 George Monbiot, „If we want to save the planet, we need a five-year freeze on biofuels“, The Guardian, 27. 3. 2007. 2 The Washington Post, 25. 3. 2007. 3  Miguel Altieri und Elizabeth Bravo, „The ecological and social tragedy of biofuels“, 5. 1. 2007, www.foodfirst.org. 4 The Ecologist, Mai 2007. 5 „Plano Nacional de Agroenergia 2006–2011“, in: Camila Moreno, „Agroenergia X Soberania Alimentar: A Questão Agrária do século XXI“, Brasília 2006. 6 The Ecologist, a. a. O. 7 Annie Dufey, „International trade in biofuels: Good for development? And good for environment?“, International Institute for Environment and Development, London 2006. 8 Elisabeth Bravo, „Biocombustibles, cultivos energeticos y soberania alimentaria en America Latin: Encendiendo el debate sobre biocombustibles“, Acción Ecologica, Quito (Ecuador) 2006. 9 C. Ford Runge und Benjamin Senauer, „How Biofuels Could Starve the Poor“, Foreign Affairs, Mai/Juni 2007. 10 „The World Goes to Town,“ The Economist, 5. 11. 2007.

Aus dem Englischen von Robin Cackett

Eric Holt-Giménez ist Geschäftsführender Direktor des unabhängigen Thinktanks Food First/Institute for Food and Development Policy. Früher war er bei der Weltbank für Öffentlichkeitsarbeit für Lateinamerika verantwortlich. Nützliche Webadressen: www.biofuelwatch.org.uk, www.rainforestfoundationuk.org www.attac.de/agrarnetz/cms/media/g8_biofuels.pdf Europäische Umweltagentur (EEA): /energy/listfeed?feed=reports_energy

Le Monde diplomatique vom 08.06.2007, von Eric Holt-Giménez