08.06.2007

Schutzlose Helfer

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Schutzlose Helfer

von Pierre Micheletti

Bei der Gründung der humanitären Hilfsorganisationen „ohne Grenzen“ Ende der 1970er-Jahre verpflichtete man sich auf einige grundlegende Prinzipien: strikte Neutralität in religiösen und politischen Fragen, weltweit freier und sicherer Zugang zu den Opfern, ausdrückliche Unabhängigkeit von Staaten und Regierungen, auch bei den Modalitäten der Finanzierung; dazu die erklärte Absicht, die vorgefundene Situation vor Ort zu dokumentieren, wie etwa hygienische und medizinische Zustände oder Vorgänge, die dramatische Situationen auslösen könnten.

Eine Organisation, die freien Zugang zu den Opfern fordert und eine gewisse Meinungsfreiheit für sich in Anspruch nimmt, darf vor allem eines nicht: als parteiisch gelten innerhalb der Konflikte eines Landes. Sie darf auch nicht den Eindruck erwecken, sie sei abhängig von der offiziellen Politik ihres jeweiligen Herkunftslandes. Doch jüngste Entwicklungen zeigen, dass die Positionierung von NGOs in internationalen Konflikten auf sehr unterschiedliche Weise wahrgenommen wird.

Die Neustrukturierung der politischen Weltkarte nach 1989 infolge des Zusammenbruchs der Sowjetunion führte unter anderem dazu, dass in bestimmten Ländern und Regionen die (realen oder instrumentalisierten) kulturellen, ethnischen oder religiösen Antagonismen wieder sichtbar wurden. So ist die Frage der Religion – und hier insbesondere die Kluft zwischen dem Westen und der arabo-islamischen Welt – inzwischen eine der Hauptsorgen der humanitären Hilfsorganisationen. Man muss sie sinnvollerweise vor dem Hintergrund eines weiteren zentralen Phänomens unserer Zeit betrachten: der globalisierten Informationsgesellschaft.

Für weltweite Schlagzeilen sorgte etwa Anfang Februar 2006 der dänische Karikaturenstreit um den Religionsstifter Mohammed. Das ging so weit, dass am 12. Februar skandinavische NGOs unter dem Druck der Öffentlichkeit Personal reduzieren und den Rückzug ihrer Helfer aus Darfur vorbereiten mussten – einer Region, die tausende von Kilometern von Kopenhagen entfernt liegt.

Die Religion wirkt hier wie der mächtige Verstärker des Schmetterlingseffekts: Der in Europa inszenierte Karikaturenstreit löste eine Krise von internationalem Ausmaß aus und sorgte für eine derartige Aufregung, dass sich darüber die politische Klasse entzweite und die muslimische Weltgemeinschaft (mehr oder weniger spontan) in heftigen Zorn geriet. Diese Ereignisse zeigen, wie schwierig es für die humanitären Hilfsorganisationen ist, sich jenseits der Bruchlinien zu positionieren und sich von keiner Seite instrumentalisieren zu lassen.

In Ländern wie dem Irak, Afghanistan, Tschetschenien und Pakistan sind diese Fragen derzeit besonders virulent. Aus den verschiedensten Gründen manifestieren sich die Spannungen zwischen dem Westen und der arabo-islamischen Welt hier mit besonderer Schärfe. Diese Regionen stehen nachgerade emblematisch für das, was manche als „clash“ interpretieren: das Aufeinanderprallen des aggressiv-offensiven Westens – „der Kreuzfahrer“ – mit dem Dschihadismus, der seinerseits unterschiedslos allen Kuffar (Ungläubigen) den Krieg erklärt hat.

Zur generellen Verschärfung der ethnischen und religiösen Differenzen kommt gegenwärtig auch noch ein hohes Maß an gewöhnlicher Kriminalität hinzu, weil bewaffnete Gruppen und Guerillakämpfer demobilisiert wurden, ohne dass konkrete Reintegrationsstrategien entwickelt wurden – wie zum Beispiel in El Salvador, Guatemala, Tschetschenien oder Angola.

Wer heute als französischer Freiwilliger an der Elfenbeinküste, als US-Amerikaner im Gaza-Streifen, als Christ in Afghanistan oder in Pakistan unterwegs ist, gilt längst nicht mehr als neutral. Auf diese Weise sieht sich das gesamte Konzept der humanitären Hilfsorganisationen in Frage gestellt.

Dass außerdem die Budgets der NGOs zunehmend aus institutionellen Mitteln, insbesondere aus EU-Töpfen finanziert werden (die EU ist der weltweit größte Geldgeber), nährt natürlich den Verdacht, dass die Solidaritätsaktionen der Hilfsorganisationen letztlich der geostrategischen Linie der Geberländer folgen. Und dies umso mehr, als die wirtschaftliche Logik die NGOs mitunter dazu verleitet, sich mit Blick auf gewisse Finanzierungswege in Programme einzubringen, die sie regelrecht zu Dienstleistern umfunktionieren, quasi strategisch komplementär zum Militär. So gesehen stinkt Geld eben doch.

Insgesamt führt die ganze Entwicklung dazu, dass die Hilfsorganisationen Sicherheitsfragen heute eine immer höhere Priorität einzuräumen beginnen. Zwei ganz unterschiedliche Ausgangslagen können dazu führen, dass das Verhältnis zwischen humanitären Helfern und dem vor Ort operierenden Militär in der internationalen Wahrnehmung einen verwirrenden Eindruck hinterlassen kann, selbst wenn es dabei nur um Sicherheit geht.

Zum einen sind das eskalierende Situationen, in denen NGOs außerhalb der eigentlichen Konfliktzone sich genötigt sehen, die Hilfe internationaler Streitkräfte anzufordern. So etwas geschieht im Wesentlichen, um Prozesse aufzuhalten, die andernfalls in humanitäre Katastrophen münden; oder um die kriegführenden Parteien zu trennen, die Zivilbevölkerung zu schützen und den Pflegediensten freien Zugang zu den Opfern zu verschaffen. Grundsätzlich handelt es sich um Interventionen im Sinne des internationalen humanitären Völkerrechts und der Beschlüsse des UN-Sicherheitsrats.

Das Dilemma von Darfur

Wieder andere Situationen können dazu führen, dass die NGOs aus logistischen Erwägungen oder aus Sicherheitsgründen mit Unterstützung oder unter dem Schutz der internationalen Streitkräfte aktiv werden – nämlich in solchen Fällen, in denen der Militäreinsatz ohne Initiative der NGOs von der internationalen Gemeinschaft beschlossen wurde.

Die aktuelle Lage in Darfur bietet reichlich Beispiele für die genannten Szenarien mitsamt all den Unsicherheiten und Spannungen, die das bei den humanitären Helfern zur Folge hat. In dieser Region im Westsudan1 stellen mehrere internationale NGOs, darunter Médecins du monde (Ärzte der Welt) übereinstimmend fest, dass ihnen der Zugang zu den Opfern außerhalb der Flüchtlingslager zunehmend erschwert wird und die gewaltsamen Übergriffe auf die Zivilbevölkerung und auf Mitarbeiter der Hilfsorganisationen sich mehren. Angesichts dieser prekären Lage plädieren manche Gruppen wie das französische Collectif Urgence Darfour für Sofortmaßnahmen wie die Entsendung von Blauhelmsoldaten. Die sollen die dort bereits stationierten Truppen der Afrikanischen Union (AU) ablösen, die zwar Präsenz zeigen, deren Mittel und Mandat sich jedoch als unzureichend erwiesen haben, was den effektiven Schutz der Zivilbevölkerung betrifft. Derlei Positionen stoßen indes auf heftigste Vorbehalte bei den NGOs vor Ort.

Die Analyse des Darfur-Konflikts als Kampf „zwischen radikalem und gemäßigtem Islam“ ist für uns nicht nachvollziehbar. Das ist eine vereinfachende, manichäische Lesart, die letztlich nur zu einer neuen Form von globaler Bipolarität führt.

Es steht den internationalen NGOs nicht zu, die Akteure eines militärischen Einsatzes „frei zu wählen“. Würden auf ihr Ersuchen hin tatsächlich Truppen entsandt, würde ihrem Verbleib in der Region fortan der Ruch der Komplizenschaft mit Militäreinsätzen anhaften. Würden aber trotz eines solchen Ersuchens keine UN-Truppen entsandt, könnte der Appell von den sudanesischen Behörden sofort als feindlicher Akt interpretiert und/oder instrumentalisiert werden, der darauf abzielt, die Intervention nichtafrikanischer Truppen zu legitimieren. Im schlimmsten Fall wäre die Ausweisung sämtlicher NGOs die Folge und die Zivilbevölkerung in Darfur bliebe ohne Versorgung und ohne Augenzeugen zurück. Der Appell hätte exakt das Gegenteil dessen bewirkt, was er eigentlich wollte.

Hier zeigt sich, wie heikel solche Überlegungen sind. Interventionsbeschlüsse dürfen unter keinen Umständen zum Gegenstand politischer oder staatlicher Manöver werden unter dem fadenscheinigen Vorwand, allein die Appelle humanitärer Hilfsorganisationen könnten das hypothetische Recht auf Einmischung legitimieren.

Naturkatastrophen sind demgegenüber ein Sonderfall, wo die offen zur Schau gestellte Nähe zwischen humanitären Helfern und Militärs zumindest theoretisch nicht so folgenschwer erscheint. Doch ein Restrisiko bleibt auch hier, denn manche Regionen werden nicht nur von Naturgewalten, sondern auch von internen Krisen heimgesucht. Sri Lanka nach dem Tsunami ist so ein Beispiel.

Mehrere Monate nach der Flutkatastrophe und trotz der relativen Beruhigung im Konflikt zwischen der Regierung und den bewaffneten tamilischen Rebellen2 , flammten die Auseinandersetzungen wieder auf. Am 5. August 2006 wurden 17 einheimische Mitarbeiter der französischen Hilfsorganisation „Aktion gegen den Hunger“ ermordet.

Doch selbst wenn sich derlei Katastrophen in politisch konfliktfreien Regionen ereignen und selbst wenn es zu keinen unmittelbaren lokalen Auswirkungen kommt: Wiederholte Gemeinschaftseinsätze von westlichen Streitkräften und humanitären Hilfsorganisationen europäischen Ursprungs verwischen auf die Dauer die Trennlinien. Diesem Verwirrspiel leisten die Streitkräfte übrigens selber Vorschub: Sie vervielfältigen ihre Interventionsmethoden, die einerseits zunehmend humanitäre Aktionen militärisch-zivilen Typs umfassen, und stützen sich andererseits immer häufiger auf Söldnerarmeen oder Privatmilizen. Dadurch entsteht eine Art Kontinuum, in welchem militärische, humanitär-militärische, privatmilitärische und privathumanitäre Aktionen einander überlagern.

All diese Prozesse führen schließlich zum Verlust der Immunität, welche die NGOs und ihre Teams in den Einsatzgebieten einst unangefochten genossen haben. Seit den 1990er-Jahren haben Helfer in Ruanda, Burundi, im Kosovo und im Kaukasus ihren Einsatz vor Ort mit dem Leben bezahlt.

Wiewohl es schwierig ist, exakte Angaben über die Anzahl der Verletzten und Toten pro Einsatzgebiet, Organisationstyp oder Jahr zu erhalten, so lässt sich einem kürzlich erschienenen Bericht3 immerhin entnehmen, dass 83 humanitäre Helfer bei gewaltsamen Zwischenfällen im Jahr 2006 ums Leben kamen, also dreimal so viel, wie Soldaten im Verlauf von UN-Friedensmissionen getötet wurden. Im vergangenen Jahrzehnt starben über 1 100 humanitäre Helfer im Rahmen von Hilfseinsätzen für die Zivilbevölkerung bei mehr als 500 Angriffen. Derselbe Bericht betont, dass es sich bei 80 Prozent der Opfer um einheimische Mitarbeiter handelt.

Wenn der Schutz zur Gefahr wird

Welches Gefahrenpotenzial der Verwechslung von Militär und humanitären Helfern innewohnt, kann sich sowohl direkt am Schauplatz des Konflikts zeigen als auch über weite Entfernungen – dank der rasanten Verbreitung von Nachrichten. Spontan kann sich die Gewalt extremistischer Gruppen, wie die Ermordung einer Care-Helferin 2006 im Irak bezeugt, gegen Freiwillige entladen, die als Bürger der kriegführenden Länder identifiziert und zugleich als „Eroberer“ wahrgenommen werden. Sie gelten als Handlanger beziehungsweise Erfüllungsgehilfen der fremden Interventionstruppen.

Auf längere Sicht verändert der beständige Doppelauftritt von Militärs und humanitären Helfern unwiderruflich und definitiv das Image der NGOs. Sollte sich die Überlappung von deren Interessen und Erscheinungsbildern in der öffentlichen Wahrnehmung festsetzen, wäre die komplette Logik der Hilfe „ohne Grenzen“ in Frage gestellt. Der geografische Aktionsradius für den potenziellen Einsatz europäischer NGOs wäre infolge der Selbstbeschränkung, die sich diese zum Schutz der freiwilligen Helfer aus aller Welt und der ortsansässigen Mitarbeiter auferlegen müssten, radikal beschnitten. Ein solches Szenario liefe in letzter Konsequenz darauf hinaus, dass die Anwendungsbereiche des internationalen humanitären Rechts stark eingeschränkt würden.

Das Verhältnis der humanitären und militärischen Organisationen zueinander kann also keineswegs neutral sein. Wie groß der Handlungsspielraum der NGOs künftig sein wird, hängt von mehreren Faktoren ab: der Erneuerung ihres Bekenntnisses zu ihren Gründungsprinzipien und einer unzweideutigen Haltung gegenüber den Streitkräften und der Außenpolitik ihrer Herkunftsländer. Dies wiederum hat viel zu tun mit finanzieller Unabhängigkeit, das heißt, dass privaten Geberfonds Vorrang vor Institutionen, staatlichen oder zwischenstaatlichen Fonds einzuräumen ist.

Bleibt das Problem des Schutzes der NGOs und des sicheren Zugangs zu den Opfern, welches die humanitären Helfer in extremis dazu bewegen kann, in einem offiziellen Appell internationale militärische Hilfe anzurufen. Aus den genannten fundamentalen Gründen sollte dies freilich stets das wirklich allerletzte Mittel bleiben.

Vom Geschick der humanitären Bewegung, diese Schwierigkeiten in den Griff zu bekommen, hängt es letztlich ab, ob es ihnen gelingen wird, notleidenden Menschen effizient zu helfen, sie aus ihrer Isolation herauszuholen und sich selbst als Alternative zur politischen und ökonomischen Logik der Staaten zu etablieren. Fragt sich nur, welchen Preis sie für diese weltumspannende Solidarität zu zahlen bereit sind.

Fußnoten:

1 Siehe Gérard Prunier, „Darfur, Motive eines Völkermords“, Le Monde diplomatique, März 2007. 2 Siehe Eric Paul Meyer, „Sri Lanka, der hoffnungslose Konflikt“, Le Monde diplomatique, April 2007. 3 Abby Stoddard, Adele Harmer and Katherine Haver, „Providing Aid in Insecure Environments: Trends in Policy and Operations“, Overseas Development Institute – Humanitarian Policy Group (ODI – HPG), London, September 2006.

Aus dem Französischen von Regina Keil-Sagawe

Pierre Micheletti ist Vorsitzender der NGO Médecins du monde (MDM).

Le Monde diplomatique vom 08.06.2007, von Pierre Micheletti