08.07.2011

Der indische Freund

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Der indische Freund

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Zur Zeit des Vietnamkriegs (1965 bis 1975) bekundeten die Studenten auf den Straßen von Kalkutta – wie in aller Welt – ihre unerschütterliche Solidarität mit dem Kampf des vietnamesischen Volks „gegen den US-Imperialismus“. Ihre Parole lautete auf Bengalisch: „Amar Naam, Tomar Naam – Vietnam, Vietnam“ („Mein Name und dein Name: Vietnam, Vietnam!“).

Heute, fast vierzig Jahre nach Ende des Vietnamkriegs, entwickeln sowohl Indien als auch Vietnam immer engere Beziehungen mit den USA, allerdings lassen sich beide Länder nicht auf ein formelles Bündnis mit den USA ein. Das ist verständlich, denn wir stehen am Beginn einer neuen Epoche, in der die Macht der USA zusehends schwindet und komplexere geopolitische Konstellationen sich herausbilden. Die werden durch den Aufstieg verschiedener Machtzentren bestimmt, deren Beziehungen untereinander durch ganz spezifische Mischungen von Kooperation und Konkurrenz gekennzeichnet sind.

Ein Beispiel dafür ist das Verhältnis zwischen Indien und Vietnam, das schon deshalb immer bedeutsamer wird, weil beide Länder auf ihre Weise zu den aufsteigenden asiatischen Mächten gehören. Sowohl in geoökonomischer als auch in geopolitischer Hinsicht gibt es für beide Seiten gute Gründe für eine engere Zusammenarbeit.

Ein gutes Beispiel ist die Energiepolitik: Indien ist angesichts des wachsenden Energiebedarfs seiner expandierenden Wirtschaft an den vietnamesischen Gasvorkommen im Südchinesischen Meer interessiert. Umgekehrt bringen die indischen Investitionen im Gassektor den Vietnamesen dringend benötigtes Know-how in den Bereichen Technik, Organisation und Vermarktung, ohne auf einen Partner aus dem Westen oder aus China angewiesen zu sein. Indien wiederum will unbedingt verhindern, dass China die riesigen Energievorkommen, die in der Schelfzone der Meere Südostasiens lagern, für sich monopolisieren kann. In diesem Punkt fallen die ökonomischen und strategischen Interessen Indiens und Vietnams zusammen.

Auch militärisch muss Vietnam alles tun, um seine Schlagkraft – insbesondere auf See – zu erhöhen, um auf die Expansion der chinesischen Flotte zu reagieren, die mit der Marinebasis von Sanya (an der Südküste der Halbinsel Hainan) einen neuen, stark befestigten Heimathafen bekommen hat. Vor diesem Hintergrund zeigt Indien deutliches Interesse, mit Vietnam beim Bau moderner Kriegsschiffe zusammenzuarbeiten und die vietnamesische Marine mit schlagkräftigen Offensivwaffen auszustatten. Zum Beispiel mit dem Überschall-Marschflugkörper vom Typ Brahmos, einer Antischiffsrakete, der China derzeit militärtechnisch noch nichts entgegenzusetzen hat. Als Gegenleistung möchte Indien die Dockkapazitäten und die Reparaturwerften des vietnamesischen Staatsunternehmens Vinashin für seine eigene Flotte nutzen.

Da die Vietnamesen noch viel militärisches Gerät aus Sowjetzeiten besitzen, können die Inder – die sich mit den sowjetischen Waffen gut auskennen – anbieten, das vietnamesische Arsenal zu warten und zu modernisieren. Und weil Hanoi auch neuere Waffensysteme aus Russland bezieht – wie etwa die erst kürzlich georderten U-Boote der Kiloklasse oder die Kampfflugzeuge vom Typ Su-30 –, könnte Indien entscheidend dazu beitragen, die Einsatzbereitschaft des vietnamesischen Militärs auf hohem Niveau zu halten.

Solche Dienstleistungen hat Indien auch schon für andere Länder übernommen, die moderne russische Waffen gekauft haben (ein Beispiel ist Malaysia). Die Inder haben damit – nebenbei bemerkt – den Absatz russischer Rüstungsgüter erheblich gefördert.

Gemeinsame Interessen gegenüber China

Es gibt einen weiteren Schlüsselbereich, in dem Indien die vietnamesische Armee auf den Stand des 21. Jahrhunderts bringen kann; und zwar bei der Entwicklung computervernetzter Waffensysteme (Network-Centric Capability). Indien ist seit einiger Zeit dabei, mit Hilfe seiner erfolgreichen IT-Industrie die eigenen Streitkräfte mit computergesteuerten Waffensystemen auszubauen. Erste Anzeichen dafür, dass Delhi ein entsprechendes Angebot auch den Vietnamesen unterbreitet hat, wurden im Oktober 2010 beim Besuch des indischen Verteidigungsministers Antony in Hanoi registriert. Dort betonte Antony ausdrücklich, dass Indien den Beziehungen zu Hanoi seit jeher eine „hohe Bedeutung“ beimesse und gewillt sei, Vietnam „bei der Ausbildung von Technikern sowie beim englischem Sprachtraining und Ähnlichem zu unterstützen“.

Auch im Bereich der zivilen Nutzung von Atomenergie bietet Indien den Vietnamesen die erforderliche Technologie. Vor allem kann es den derzeit ausgereiftesten Kleinreaktor der Welt liefern, der speziell auf Länder mit einem mittelgroßen Stromnetz zugeschnitten ist. Im Fall Vietnam könnte ein Netz von kleineren AKWs verhindern, dass die nationale Stromversorgung bei Instandhaltungs- oder Reparaturarbeiten komplett ausfällt, wie es bei einem einzigen großen Atomkraftwerk unvermeidbar wäre.1

Auch in weniger brisanten Bereichen hat sich die Kooperation zwischen beiden Ländern ausgeweitet, etwa in Landwirtschaft und Fischerei und in der Pharma- und IT-Industrie. Die bilaterale Handelsbilanz für 2009/2010 weist einen Umsatz von 2,36 Milliarden Dollar aus, ist aber sehr unausgewogen: Die indischen Exporte nach Vietnam machen rund 80 Prozent aus, wobei der Zuwachs in den genannten Branchen weit überdurchschnittlich war. Die Entwicklung des gesamten Handels – obwohl in diesen Jahren etwas verlangsamt – lässt für die Zukunft ein stabiles Wachstum des indisch-vietnamesischen Handels annehmen.

Zudem dürfte das im August 2009 abgeschlossene Freihandelsabkommen zwischen Indien und den Asean-Staaten bewirken, dass das Handelsungleichgewicht zwischen beiden Ländern in den nächsten zehn Jahren abnimmt. Schon jetzt steht jedenfalls fest, dass Indien und Vietnam als asiatische Schwellenländer und zudem wegen der komplementären Strukturen im industriellen Bereich erheblich voneinander profitieren können. Bei der Konferenz über die indisch-vietnamesischen Handelsbeziehungen vom Januar 2011 in Kalkutta sagte der vietnamesische Botschafter in Delhi: „Ich bin mir sicher, dass sich die Handels- und Investitionsbeziehungen, bei anhaltenden Bemühungen der Unternehmer beider Seiten, mit jedem Tag weiter festigen und entwickeln werden.“ Dabei hatte der Botschafter insbesondere die engen Verbindungen zwischen Vietnam und dem indischen Bundesstaat Westbengalen (mit der Hauptstadt Kalkutta) im Auge, aber sein Optimismus kann ohne weiteres auf die gesamten indisch-vietnamesischen Beziehungen ausgeweitet werden.

Ein dauerhaftes Verhältnis zwischen beiden Ländern braucht als Fundament den verlässlichen wirtschaftlichen Austausch. Das setzt kontinuierliche Kontakte auf der Unternehmensebene voraus – und zwar unabhängig von einer weiteren Vertiefung der politisch-strategischen Beziehungen beider Länder. Derzeit ist die Annäherung zwischen Indien und Vietnam allerdings noch stark von der indischen Rivalität (und der Doktrin der Reziprozität) zu China geprägt.

Im Poker an der indisch-chinesischen Grenze hat Peking den Einsatz gerade durch Modernisierung der Grenzstreitkräfte und den Ausbau der militärischen Infrastruktur deutlich erhöht. Zudem irritiert China die Inder mit merkwürdigen Äußerungen zur Kaschmirfrage und hat sein Engagement in einigen Nachbarstaaten Indiens wie Birma (Myanmar), Nepal, Bangladesch und Skri Lanka verstärkt – während die traditionelle „Allwetterfreundschaft“ zu Pakistan noch enger geworden ist. Delhi beobachtet Pekings Engagement in diesen Ländern mit großem Misstrauen – vor allem im Hinblick auf die Beteiligung der Chinesen am Ausbau von Häfen und auf chinesische Waffenlieferungen.2

Dass Peking weiterhin Raketen- und Nukleartechnologie nach Pakistan liefert, ist Delhi ebenfalls nicht verborgen geblieben. Ganz im Sinne der Reziprozität („Wie du mir, so ich dir“) fordern indische Verteidigungsexperten neuerdings lautstark, die seit langem erwogene Lieferung von Privthi-Kurzstreckenraketen (mit einer Reichweite bis zu 350 Kilometern) an Vietnam voranzubringen.

Indien könnte sich sogar für eine permanente Militärpräsenz im Südchinesischen Meer entscheiden und auf das vietnamesische Angebot einer Marinebasis im Kriegshafen Cam Ranh Bay zurückkommen. Dieser Schritt hängt vor allem davon ab, ob Peking es schafft, den Indern glaubwürdig zu vermitteln, dass chinesische Hafenprojekte wie Gwadar in Pakistan und Hambantota in Sri Lanka rein wirtschaftlichen und nicht etwa militärischen Zwecken dienen.

Dass China parallel zu seinem ökonomischen Aufstieg eine beschleunigte militärische Modernisierung betreibt, erweckt bei seinen asiatischen Nachbarn erhebliche Zweifel an Pekings Bekenntnis zu einem „friedlichen Aufstieg“ zur Weltmacht. Während sich die Nachbarstaaten – von Indien über Vietnam bis Japan – in ihrer Chinapolitik zunehmend mit den USA koordinieren, sind sie zugleich dabei, ihre Beziehungen untereinander zu festigen. In diesen Ländern hat man verstanden, dass Washington in der Region letzten Endes nur ein Offshore-Machtfaktor ist und dass man der chinesischen Herausforderung deshalb nur durch eine engere Zusammenarbeit unter den asiatischen Ländern erfolgreich begegnen kann. In diesem Rahmen ist das Verhältnis zwischen Indien und Vietnam ein zentraler Baustein für jede künftige Stabilitätsarchitektur in Asien. Saurav Jha

Fußnoten: 1 Ende Oktober 2010 unterzeichnete Vietnam mit Russland ein Abkommen über den Bau von zwei Druckwasserreaktoren in der südvietnamesischen Provinz Ninh Thuan, die in zehn Jahren ans Netz gehen sollen. 2 Siehe Olivier Zajec, „Admiral Zheng He kehrt zurück. Die Handelsmacht China sichert ihre Seewege und knüpft an alte maritime Traditionen an“, Le Monde diplomatique, Oktober 2008.

Aus dem Englischen von Niels Kadritzke

Saurav Jha ist Energieexperte und schreibt unter anderem für upiasia.com. Er ist Autor von „The Upside Down Book of Nuclear Power“, New York (HarperCollins) 2010.

Le Monde diplomatique vom 08.07.2011, von Saurav Jha