Zurück in Saigon
Die USA und Vietnam bauen 35 Jahre nach Kriegsende eine neue Partnerschaft auf von Xavier Monthéard
Vor der Halbinsel Cam Ranh im Süden Vietnams wühlt der Wind das Südchinesische Meer auf, das man hier „Meer des Ostens“ nennt. Eine enge, von Stacheldraht gesäumte Straße windet sich zu der Marineluftwaffenbasis, die von der US-Armee während des Vietnamkriegs eingerichtet wurde. Die Landzunge ist übersät mit meist baufälligen Militärposten. Soldaten und Zöllner lassen sich Zeit. Besucher sind im Militärhafen nicht willkommen. Was wollen sie auch hier? Seit Jahren lebt die Cam-Ranh-Bucht wie in Zeitlupe.
Doch damit wird es bald vorbei sein: Am 31. Oktober 2010 hat Ministerpräsident Nguyen Tan Dung angekündigt, dass der Hafen fortan den Schiffen aus aller Welt offen stehen soll. Die USA stehen schon bereit. Seit 2003 war schon ein Dutzend US-Kriegsschiffe an der Küste des einstigen Feindes zu Gast. Die Boys von Onkel Sam sind zurück im Land von Onkel Ho, ohne Waffen und Gepäck – und als Ehrengäste. Die furchtbaren Kriegsjahre unter der Führung von fünf US-Präsidenten1 scheinen aus dem Gedächtnis der Vietnamesen getilgt. Zwanzig Jahre Mord und Verwüstung, die 1975 mit der Einnahme Saigons endeten, sind offenbar genauso vergessen wie das erst 1994 aufgehobene US-Handelsembargo und die zähen Bemühungen der gedemütigten Supermacht, nach dem Ende des Krieges die internationale Hilfe für das kleine Vietnam zu blockieren.
Im August 2010 fand in Hanoi der erste amerikanisch-vietnamesische Verteidigungsdialog statt. Im selben Monat waren hohe vietnamesische Offiziere vor Da Nang – genau dort, wo 1965 die ersten GIs an Land gegangen waren, auf der „USS George Washington“ zu Gast, dem Flaggschiff der 7. Flotte und einem der elf gigantischen US-Flugzeugträger. Gleichzeitig lag im Hafen von Da Nang der Zerstörer „USS John S. McCain“.
An dem Namen störte sich in Hanoi niemand. Der republikanische Gegenkandidaten von Barack Obama bei der Präsidentschaftswahl 2008 saß nach seinem Abschuss als Bomberpilot fünfeinhalb Jahre in einem vietnamesischen Gefängnis – als „Kriegsverbrecher“, wie er 1997 selbst sagte. Ein Teil der US-Öffentlichkeit sieht McCain wegen seiner Leiden in der Kriegsgefangenschaft als Helden. Derart legitimiert, brachte er das Lager der „unversöhnlichen“ Konservativen in den USA zum Verstummen, als er im Juli 1995 die Entscheidung von Präsident Bill Clinton unterstützte, die Beziehungen zwischen beiden Ländern zu normalisieren. Die alles andere als „unversöhnlichen“ Vietnamesen halten sich mehr an die zweite Phase von McCains Karriere. Noch heute hängen Fotos von Clintons erstem Besuch an den Wänden einer bekannten vietnamesischen Schnellimbisskette in Ho-Chi-Minh-Stadt. Heute würdigt die Frau des Expräsidenten, Außenministerin Hillary Clinton, den zurückgelegten Weg: „Wir haben gelernt, uns nicht mehr als einstige Feinde, sondern als Partner, Kollegen, Freunde zu sehen. Die Regierung Obama ist bereit, die Beziehung zwischen den USA und Vietnam auf eine neue Stufe zu heben.“2
Für Hanoi folgt die Annäherung an die USA vor allem einer ökonomischen Logik. Seit Inkrafttreten des bilateralen Handelsabkommen 2001 ist das Handelsvolumen von etwa einer Milliarde Dollar auf über 18 Milliarden (2010) angewachsen. Die Präsidentin der US-Handelskammer in Vietnam, Jocelyne Tran, rechnet bis 2010 mit einem weiteren Ansteigen auf 35 Milliarden Dollar.3
Die bilaterale Handelsbilanz weist einen enormen Exportüberschuss Vietnams auf. Die vietnamesischen Exporte in die USA – vor allem Textilien, Schuhe und Möbel – erbrachten 2010 mit rund 14 Milliarden Dollar mehr als 20 Prozent der Gesamteinnahmen aus dem Außenhandel. Und dank der engen Wirtschaftsbeziehungen mit Washington konnte sich Vietnam vollständig in das internationale Wirtschaftssystem integrieren. Im Januar 2007 trat das Land als 150. Mitglied der Welthandelsorganisation (WTO) bei. Inzwischen liegt das nominale Bruttoinlandsprodukt pro Kopf bei gut 1 000 Dollar jährlich, womit Vietnam nach den Kriterien der Weltbank ein Land mit mittlerer Einkommenshöhe ist.
Selbst die Geschichte wird umgeschrieben
Der beginnende Wohlstand wird bezahlt mit der Verdrängung der jüngeren Vergangenheit: der drei Millionen Kriegstoten, der US-Strategie der verbrannten Erde, der zerstörten Familien. Das erfordert ein gründliches Umschreiben der Geschichte: „Nach 1990 begannen die vietnamesischen Wissenschaftler, in den Beziehungen zu den USA statt der Periode 1954 bis 1975 die Jahre 1941 bis 1945 hervorzuheben“, schreibt der Historiker Wynn W. Gadkar-Wilcox. „Damals arbeiteten die USA mit den Viet Minh zusammen, und mehrere Mitarbeiter des Office of Strategic Services (OSS) unterhielten persönliche Kontakte zu Ho Chi Minh.“4
Heute ist die Hälfte der vietnamesischen Bevölkerung jünger als 26 Jahre. Der Krieg ist lange her, und die jungen Vietnamesen orientieren sich am American Dream: Wohlstand, den man durch Fleiß und harte Arbeit erlangen kann. 13 000 vietnamesische Studenten studieren an einer Universität der USA, mehr als aus jedem anderen Land Südostasiens.
Südvietnam ist – auf den Spuren der Geschichte – für Investitionen in US-Dollars besonders offen. Im Oktober 2010 hat der Weltkonzern Intel in einem Vorort von Ho-Chi-Minh-Stadt eine Fabrik in Betrieb genommen. Mit einer geschätzten Investitionssumme von einer Milliarde Dollar ist es weltweit die größte Montage- und Testanlage des Mikroprozessorenherstellers. Welche Symbolik: „We are back in Saigon!“, war im September 2009 in einem Blog des Unternehmens zu lesen.
Ab und zu wird diese Idylle getrübt, wenn sich die USA zum großen Verteidiger der Grundrechte aufwerfen. 2010 wurden in Vietnam 24 Personen verhaftet und 14 verurteilt, weil sie die Linie der Kommunistischen Partei öffentlich kritisiert hatten, darunter mehrere Journalisten und Blogger. Im Dezember 2010 erklärte US-Botschafter in Hanoi, Michael W. Michalak, in milden Tönen, während seiner dreijährigen Amtszeit seien die Fortschritte auf dem Gebiet der Menschenrechte „leider sehr ungleichmäßig“ verlaufen.
Auf Seiten Hanois wird das Misstrauen durch Erinnerungen an die Rolle geschürt, die US-Organisationen bei den „farbigen Revolutionen“ in Osteuropa gespielt haben. Dort stand Washington hinter dem Szenario einer „friedlichen Evolution“, das aus vietnappmesischer Sicht auf den Versuch hinausläuft, das Regime und die kulturelle Identität des Landes zu beseitigen.
Solche Spannungen sind allerdings weit entfernt von dem einstigen Hass zwischen den beiden Staaten. Für 2011 ist sogar eine strategische Partnerschaft vorgesehen; ein Kooperationsabkommen über die zivile Nutzung von Atomkraft steht kurz vor dem Abschluss. Es bezieht sich vor allem auf den Technologietransfer und den Ausbau von Infrastrukturen und eröffnet den US-Unternehmen den Zugang zu einem vielversprechenden Markt: Hanoi plant den Bau von 13 Kraftwerken mit einer Gesamtkapazität von 16 000 Megawatt in den nächsten 20 Jahren. Das Abkommen verbietet auch nicht die Anreicherung von Uran, was ein nukleares Militärprogramm theoretisch möglich macht. Und das, obwohl Washington stets darauf aus ist, seine Vertragspartner zur Aufgabe des Rechts auf Anreicherung zu drängen.
Diese für Vietnam günstige Zurückhaltung erinnert an das Nuklearabkommen zwischen den USA und Indien von 2007.5 Doch Brahma Chellaney, der Direktor des Centre for Policy Research in Neu-Delhi, sieht kaum Gemeinsamkeiten: „Da Indien den Atomwaffensperrvertrag (NPT) nicht unterschrieben hat, ist es nach amerikanischem Gesetz besonderen Beschränkungen unterworfen. Deshalb brauchte die US-Regierung ppeine spezielle Zustimmung vom Kongress. Bei Vietnam, einem Unterzeichner des NPT, war diese Zustimmung nicht nötig. Zudem waren beim Abkommen mit Indien besondere Klauseln erforderlich, weil das Land bereits über Atomwaffen verfügt.“6
Vergleichbar ist demnach nicht die Form dieser beiden Abkommen, wohl aber ihre Zielsetzung: „Die USA benutzen ihre Nuklearabkommen mit Indien und Vietnam als strategisches Instrument, um eine enge Kooperation aufzubauen“, meint Chellaney. Deshalb werde Vietnam wahrscheinlich das beste Abkommen in der Gruppe der pp„nuklearen Schwellenländer“ erhalten, jener Staaten also, die am Anfang eines zivilen Atomprogramms stehen. Im Unterschied etwa zu den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE): Das 2009 zwischen den USA und den VAE geschlossene Abkommen enthält ausdrücklich den Verzicht auf die Anreicherung von Uran auf ihrem Territorium. Werden hier also unterschiedliche Maßstäbe angesetzt? Der Sprecher des Außenministeriums Philip J. Crowley erklärte dazu lediglich, die USA würden solche Abppkommen „Fall für Fall, Land für Land, Region für Region aushandeln“.7
Für Washington dient die Verstärkung der militärischen Beziehungen und die atomare Zusammenarbeit vor allem einem Zweck: die Überlegenheit der USA im Pazifik zu bewahren. Allein 2010 haben die USA für 6 Milliarden Dollar Waffen an Taiwan verkauft. Im Fall Indonesien hat das Pentagon erklärt, dass es die Beziehungen zu den Sondereinheiten der Armee, den Kopassus, wieder aufnehmen werden, die Washington wegen deren Beteiligung an Massakern in Osttimor, in Aceh und in Papua suspendiert hatte.
Außerdem hat Außenministerin Hillary Clinton die Freiheit der Schifffahrtswege im Südchinesischen Meer offiziell als „nationales Interesse der USA“ definiert. Im Gelben Meer hat die US-Navy gemeinsame Manöver mit Südkorea durchgeführt, und Washington hat anlässlich der Scharmützel zwischen China und Japan um die Diaoyu-/Senkaku-Inseln klargestellt, man werde Japan im Rahmen des Beistandspakts notfalls auch militärisch unterstützen.
Die meisten, wenn nicht alle diese Aktionen stellen Reaktionen auf den Aufstieg Chinas dar, der aus Sicht der USA die strategische Bedeutung der Nachbarn des Reichs der Mitte automatisch aufwertet. In der US Quadrennial Defense Review von 2010 werden Indonesien, Malaysia und Vietnam als mögliche Sicherheitspartner genannt. Und Kurt Campbell, im US-Außenministerium als Assistenzsekretär für Ostasien und den Pazifik zuständig, erklärte am 14. Juli 2010: „Wenn ich mir unsere Freunde in Südostasien ansehe, denke ich, dass wir mit Vietnam die besten Zukunftsaussichten haben.“8 Für Washington ist das Land also wieder zu einem wichtigen strategischen Partner geworden, und zwar gegen den chinesischen Expansionismus und nicht wie früher gegen den Kommunismus.
Junge Vietnamesen träumen den amerikanischen Traum
Diese strategische Obsession findet in Hanoi durchaus Widerhall. Seit Jahrhunderten kreist das Land wie ein Planet um das Reich der Mitte und versucht, diesem Orbit zu entfliehen. Doch die wirtschaftliche Abhängigkeit bleibt beträchtlich, denn ein erdrückender Anteil der vietnamesischen Importe kommt aus dem Nachbarstaat im Norden. Der australische Vietnamspezialist Professor Carlyle Thayer stellt fest, dass „in Hanoi kein Staat so selbstbewusst auftritt und so großen Einfluss ausübt wie China“.9
Um sich von Peking zu emanzipieren, versucht die vietnamesische Diplomatie, mit möglichst vielen Ländern gute Beziehungen aufzubauen. Gleichzeitig will man aber das privilegierte Verhältnis zum großen Nachbarn bewahren. Damit steckt Vietnam in demselben strategischen Zwiespalt wie die meisten der südostasiatischen Nachbarländer Chinas. Angesichts dessen meint Dinh Hoang Thang, ehemals vietnamesischer Botschafter in den Niederlanden: „Wenn Vietnam China überzeugen kann, dass die Verbesserung der amerikanisch-vietnamesischen Beziehungen Chinas Interessen nicht schadet, wäre das ein großer Erfolg.“10
Ähnlich kompliziert liegen die Dinge für die USA. Nach Ansicht von Brantly Womack, Professor für internationale Beziehungen an der Universität von Virginia, beeinträchtigt die Entfernung der USA zu Asien „wie auch die Asymmetrie in ihren Beziehungen sowohl zu China als auch zu Vietnam noch immer ihre Wahrnehmung des Verhältnisses zu diesen beiden Staaten“.11
Die Chinesen dagegen verweisen gelegentlich ganz unverblümt auf das Machtgefälle: „Vietnam sollte begriffen haben, dass es zwischen zwei Großmächten ein gefährliches Spiel spielt und dass seine eigene Situation so fragil ist wie ein Stapel Hühnereier“, schrieb im August 2010 ein Kolumnist der kommunistischen Parteizeitung: „Sollte es irgendwann zu einer militärischen Auseinandersetzung zwischen China und Vietnam kommen, könnte kein Flugzeugträger, aus welchem Land auch immer, seine Sicherheit garantieren.“12
Mit dem letzten Satz warnte der Kolumnist die Vietnamesen vor der „Illusion“, seine Ansprüche im Südchinesischen Meer „unter dem Schutz der US-Navy“ zu forcieren. Gemeint ist damit der Konflikt um die Paracel- und die Spratly-Inseln.13 Obwohl Vietnam seine Flotte aufgerüstet hat, ist die chinesischen Marine nach wie vor hoch überlegen. Das erklärt nach Ansicht des Verteidigungsexperten Richard Bitzinger den Wunsch Hanois, dass sich mehr Staaten im Südchinesischen Meer engagieren: „Das würde Vietnam Schutz bieten. Ihm liegt auch an der Unterstützung für die Modernisierung der Hafenanlagen in der Cam-Ranh-Bucht. Ich vermute, die US-Navy wird diesen strategischen Ort nutzen, aber auch die Kriegsflotten anderer Länder – mit Ausnahme natürlich der chinesischen Marine!“
Werden die USA eines Tages Vietnam gegen das Reich der Mitte unterstützen? Das wäre mehr als eine Ironie der Geschichte: Maos China war das erste Land war, das die junge Demokratische, im September 1945 ausgerufene Republik Vietnam im Januar 1950 anerkannt hat, noch zwölf Tage vor der Sowjetunion. Seitdem hatten es Ho Chi Minh und seine Nachfolger 25 Jahre lang geschafft, die Balance zwischen den beiden kommunistischen Schutzmächten zu bewahren, die seit 1956 immer mehr zu Rivalen wurden.
Das größte Tabu der vietnamesischen Außenpolitiker ist bis heute der offene Konflikt, der Ende der 1970er Jahre mit China entbrannte. Selbst 32 Jahre danach ist es immer noch nicht möglich, den kurzen Krieg vom Frühjahr 1979 zu erwähnen, der zehntausende Menschenleben gekostet hat. Der Krieg kommt bis heute weder in der vietnamesischen Presse noch in den Schulbüchern vor. Offiziell steht mit Peking alles zum Besten.
Die Geschichte hat gezeigt, wie groß für Vietnam die Gefahr ist, zum Gefangenen der geopolitische Kalküle seiner mächtigen Nachbarn zu werden. Wer könnte das in Hanoi vergessen? Der Diplomat Hoang Anh Tuan meinte kürzlich: Obwohl das Vertrauen und gegenseitige Verständnis zwischen Hanoi und Washington über die Jahrzehnte deutlich gewachsen sei, könne man auch in Zukunft strategische Differenzen nicht ausschließen: „Deshalb können sich dauerhafte bilaterale Beziehungen nur auf gleichberechtigter Grundlage entwickeln, das heißt, wenn sie den nationalen Interessen Vietnams und der USA und nicht den geopolitischen Interessen nur einer Seite dienen.“14
Die Aussichten, dass dies gelingen könnte, stehen heute günstig. Aber noch ist keineswegs sicher, ob das Schicksal der vietnamesischen Nation am Ende doch von der „Tyrannei der Geografie“15 bestimmt wird.
Aus dem Französischen von Claudia Steinitz
Xavier Monthéard ist Journalist und Asienexperte.