Die Stadt als Mobilitätsmaschine
Eine Geschichte der Anpassung an den Kapitalismus von Max Rousseau
Der „arabische Weg“ als Bezeichnung für die Protestbewegungen, die derzeit im Nahen Osten und im Maghreb erblühen, der mythische Konflikt zwischen „Wall Street“ und „Main Street“, der in den Vereinigten Staaten wieder aufgebrochen ist, die „Macht der Straße“ als Schlagwort für die zahlreichen Demonstrationen in Frankreich: Die Straße ist zu einer internationalen Metapher für die Massen geworden, die gegen soziales Unrecht „auf die Straße gehen“.
Und das Manifest des spanischen Kollektivs ¡Democracia Real Ya! („Wahre Demokratie jetzt!“) verlangt die Rückeroberung der Straße durch all jene, die sich als Opfer einer kleinen Elite empfinden, die sich Macht und Reichtum erschlichen hat: „¡Toma la calle!“
„Die Straße“ ist hier weder bloß physischer noch rein symbolischer Ort, sie ist also weder der Ort, an dem man sich zu kollektiven Aktionen versammelt, noch ist sie die räumliche Metapher für den Aufenthaltsort der Unterworfenen. Sie wird vielmehr als Einsatz ins Spiel gebracht. Diese „Urbanisierung“ verleiht den politisch-ökonomischen Problemen, um die es geht, eine konkrete, unmittelbar einleuchtende Dimension. Sie suggeriert ebenso simpel wie erhellend, dass schon die kollektive Präsenz an einem öffentlichen Ort, gewaltlos, aber von längerer Dauer, ein Akt des Widerstands ist.
Um zu verstehen, welcher Bezug zum städtischen Raum in Protestbewegungen angelegt ist, sollte man sich noch einmal vor Augen führen, dass zwei gegenläufige historische Kräfte die abendländische Stadt geprägt haben: Demokratie und Kapitalismus. Demokratie braucht die allgemeine und dauerhafte Aneignung des öffentlichen Raums. Der Kapitalismus hingegen hat die Tendenz, die Verkehrsströme im Namen seines Bedarfs an Mobilität ständig zu vergrößern.
Unter dem wirtschaftsliberalen französischen Regime zur Zeit Haussmanns1 wurde Paris der „Verdichtung von Raum und Zeit“ unterworfen,2 von der sich der Kapitalismus ernährt. Diese Phase ist entscheidend in der Geschichte der abendländischen Stadtentwicklung. Baron Haussmann führte Mitte des 19. Jahrhunderts eine neue Stadtkonzeption ein, die sich weitgehend durchsetzen sollte und die Stadt als „Mobilitätsmaschine“3 entwirft.
Innerhalb von zwei Jahrzehnten zerstörte Haussmann das Geflecht der mittelalterlichen Straßen, die bis dahin Orte einer durch den knappen Raum geprägten Ökonomie und Geselligkeit waren. Er ließ breite Boulevards anlegen, die die Beschleunigung der Menschen- und Warenströme ermöglichen sollten – in einer Stadt, die zudem durch den Ausbau des Eisenbahnnetzes mit den entferntesten Winkeln des Landes verbunden wurde.
Die großen, gerade im Aufstieg begriffenen Bankiers finanzierten diese Urbanisierung und verdienten damit viel Geld. Die Pariser wurden vom Spekulationsfieber gepackt. Der Tauschwert einer Wohnung begann ihren Gebrauchswert zu übersteigen. Am Ende der „Ära der Barrikaden“ wurden die Arbeiterwohnungen an den Stadtrand verbannt, während die Bourgeoisie die neuen Grundstücke im Zentrum ebenso in Besitz nahm wie die großen Boulevards, die fortan als Orte gehobenen Konsums galten. Den blutig unterdrückten Aufstand der Pariser Commune von 1871 kann man auch als taktischen – und am Ende erfolglosen – Versuch begreifen, diesen Bedeutungswandel der Stadt zu verhindern.
In der ersten Zeit setzte sich diese Konzeption von Stadt noch nicht allgemein durch. Die Entwicklung der europäischen Stadt basierte zunächst auf der Entwicklung der Industrie. Die industriellen Zentren waren wenig mobil, und die Profitabilität einer Fabrik beruhte auf ihrer Nutzung über einen langen Zeitraum. Um das industrielle Kapital profitabel zu realisieren, galt es daher, sich die dauerhaften Dienste einer zahlreichen Arbeiterschaft zu sichern. Die Kapitalisten konstruierten die Industriestadt als ein Gravitationszentrum, das durch viele Anreize Arbeiter aus einem immer größer werdenden Umkreis anziehen und binden sollte.
Die company towns, wie Le Creusot in Frankreich oder Colònia Güell in Spanien, waren Archetypen dieses „Städtebaus der Immobilität“. Verbesserte Wohnverhältnisse, Bau von Gemeinschaftseinrichtungen, Bereitstellung neuartiger Dienstleistungen: Damit hatte der Arbeiter alles in unmittelbarer Nähe „seiner“ Fabrik und brauchte sich nirgendwo anders umzusehen. Parallel dazu wurde Landstreicherei, als exemplarische Form einer unkontrollierbaren und potenziell „ansteckenden“ Mobilität, die Arbeitgeber wie Behörden gleichermaßen zu fürchten hatten, unter Strafe gestellt.
Gegen Mitte des 20. Jahrhunderts führte dann die gleichzeitige Entwicklung des Autos zum Massenprodukt und eines modernen Urbanismus zu einer rasanten Mobilitätssteigerung. Aber es war eine kontrollierte Mobilität zwischen den (an den Stadtrand verlagerten) Wohngebieten und dem Arbeitsplatz in der Stadtmitte. Dieser mobilen Routine stellten sich seit den 1950er Jahren verschiedene subkulturelle Bewegungen entgegen – wie die Beat Generation in den USA oder die Situationisten in Frankreich– die das Vagabundendasein feierten und zum „Herumtreiben“ aufriefen.
Seit den 1970er Jahren wandelte sich der abendländische Kapitalismus erneut durch die Intensivierung der Menschen- und Warenströme im globalen Maßstab und der damit einhergehenden neuen internationalen Arbeitsteilung. In dem Maße, in dem Kapital und industrielle Arbeitsplätze ins Ausland verlagert wurden, wurde auch die Konzeption der Stadt als Gravitationszentrum obsolet.
Verkehrsströme zwischen Hochhäusern
Der Protest der Subkulturen gegen eine eingeschränkte und routinierte Mobilität wurde medial umgedeutet und erweitert: Das Individuum wurde zum Unternehmer in eigener Sache stilisiert, der in seinem privaten wie beruflichen Leben räumliche Barrieren ohne Zögern hinter sich lässt. Die darin implizierte Aufforderung spiegelte einen neuen systemischen Imperativ: die Häufigkeit wie die – nunmehr ins globale gewachsene – Reichweite von Ortswechseln zu steigern. Die neoliberale Stadt als Mobilitätsmaschine war zur Profitmaximierung gedacht, und dafür musste sie sich weder an geografische Grenzen halten noch die Lebensbedingungen der unteren Gesellschaftsschichten berücksichtigen.
In den 1960er Jahren wurde in Paris das Hochhausviertel La Défense aus dem Boden gestampft mit dem Ziel, auf vergleichsweise engem Raum die Zentralen von vor allem solchen Unternehmen zu versammeln, die besonders stark in die Globalisierung eingebunden sind. Damit war Paris – wieder einmal – städtebauliche Avantgarde. Dem Ausmaß und der Wirkung der Ströme, die durch La Défense gehen, entsprach auf sehr handgreifliche Weise sein städtebauliches Konzept.
Der Philosoph Zygmunt Bauman bemerkt in seiner Erörterung über „öffentliche Räume, die nicht für die Bürger sind“,4 dass es auf dem riesigen Platz unter der Grande Arche, dem Herz von La Défense, rein gar nichts gibt, was den Passanten zum Verweilen einlädt: Die einzige Möglichkeit, sich irgendwo niederzulassen, ist die Treppe der Grande Arche. Dort sitzen Touristen und Angestellte in ihrer Mittagspause bei gutem Wetter auf den Stufen.
Wie dieser Platz wurden auch Flughäfen, Bahnhöfe und Verkehrsknotenpunkte zu Räumen unablässig zirkulierender Ströme. Auch Umgehungsstraßen, Boulevards und Einkaufspassagen gehören zu den Kennzeichen einer „Gewinnerstadt“. Die Stadtplaner der europäischen Großstädte sind allesamt Anhänger dieses Konzepts. Und im Zuge des zunehmenden internationalen Standortwettbewerbs haben sich längst auch die mittleren Städte dieses Konzept zu eigen gemacht.5
Vor diesem Hintergrund wird die angeblich geringe Mobilität der verarmten Stadtbevölkerungen als Wachstumsbremse und als mögliche Bedrohung der öffentlichen Ordnung wahrgenommen. Die postindustrielle Stadt, integriert in die Megagemeinschaft der Metropolen, ist nicht mehr als Gravitationszentrum, sondern als Beschleuniger der täglichen Mobilität seiner Bewohner gedacht – und zwar der ständigen ebenso wie der zeitweiligen. Touristen bilden einen mehr und mehr erwünschten Strom.
Auch die Vorstellung des innerstädtischen, öffentlichen Raums hat sich tiefgreifend verändert. Unter dem Vorwand der „situationsbezogenen Prävention von Kriminalität“ wird das städtische Mobiliar abgebaut: Die „immobilen“ Feinde – Bettler, Prostituierte, Obdachlose – sollen nicht mehr eingeladen werden, sich hier aufzuhalten.
Öffentliche Bänke oder Wartehäuschen an Bushaltestellen sind immer weniger zu sehen. Händler, die inmitten der durchströmten Räume versuchen, ihrem nicht angemeldeten Gewerbe nachzugehen, werden zum Ziel polizeilicher Schikanen. In Frankreich sieht das 2003 in Kraft getretene Gesetz zur inneren Sicherheit Strafen für Delikte vor wie öffentliche Kundenwerbung, Ansammlung in Foyers von Gebäuden, Hausbesetzung und Bettelei. Diese Vergehen haben ein gemeinsames physisches Charakteristikum: räumliche Immobilität im Herzen der Stadt.
Die Stadt ist eine zweigeteilte Mobilitätsmaschine. Um sich davon zu überzeugen, braucht man sich nur anzusehen, wie die Standards für Wohnungen und Gewerbeimmobilien in den Stadtzentren im Lauf der letzten beiden Jahrzehnte gestiegen sind. Die „Gentrifizierung“, die Vereinnahmung der Zentren durch die „Gewinner“, erklärt sich vor allem daraus, dass inmitten der urbanen Ströme die Wege zur Arbeit, zum Konsum und zur Freizeitgestaltung kurz und vielfältig wurden. Für die „Verlierer“ dagegen, die sich mit jeder Immobilienblase noch weiter von den Kreuzungspunkten der Ströme entfernen müssen, wird Mobilität immer mehr zu einem Zwang beziehungsweise zur Last.
Und was wird aus der Stadt als Ort der Demokratie? Seit der athenischen Agora, die zugleich Marktplatz war und Ort der Beratung und der Teilhabe an der kollektiven Entscheidungsfindung, gilt der öffentliche Raum als der – symbolische und erst recht physische – Ort, der mit dem Funktionieren von Demokratie verknüpft ist. Daher muss er so konzipiert sein, dass er den Austausch, das Gespräch, das Zusammenkommen begünstigt. Wenn man ihn zu einem Raum der permanenten Bewegung macht, erschwert man auf ganz konkrete Weise das soziale Miteinander – in seinen einfachsten Formen – und verstellt den Blick fürs Ganze.
Der Protest gegen die Stadt als Mobilitätsmaschine ist daher ein äußerst wichtiges Thema. So verschieden sie sein mögen, die neuen Taktiken – von „Straßenbefreiungen“ der von den anarchistischen „temporären autonomen Zonen“7 inspirierten Bewegung „Reclaim the Streets“ bis hin zur institutionellen Schaffung der „langsamen Stadt“ – wollen Entschleunigung. Die Camper auf der Plaza del Sol in Spanien und die „immobilisierte“ Jugend zeigen, dass der Sinn, den wir der Stadt geben, für das Abenteuer der Demokratien von entscheidender Bedeutung ist – heute mehr denn je.
Aus dem Französischen von Jens Hagestedt
Max Rousseau ist Politologe und Stadtforscher.