Die letzten Tage der Menschheit
Der Erste Weltkrieg im Licht des epochalen Werks von Karl Kraus von Jacques Bouveresse
Fast sieben Jahre hat Karl Kraus an seiner großen Tragödie über den Ersten Weltkrieg geschrieben. Der erste Entwurf der meisten Szenen entstand in den Sommern 1915 bis 1917. Die meisten Änderungen wurden bis zum Erscheinen des Werks in den Jahren 1919 bis 1921 gemacht. Zwischen den Spielszenen treten immer wieder zwei Figuren auf, die in einem Streitgespräch das Kriegsgeschehen kommentieren: der „Nörgler“ und der „Optimist“. Es ist allerdings ein Irrtum, davon auszugehen, dass die Auffassungen, die in den „Letzten Tagen der Menschheit“ der Nörgler gegenüber seinem Konterpart vertritt, mit denen des Autors identisch seien. Tatsächlich haben sich in der Entstehungszeit des Werks die politischen Positionen des Satirikers und seine Einstellung zu der Frage der Verantwortung für die Katastrophe stark gewandelt. Edward Timms weist darauf in seiner Kraus-Biografie hin: „Das Stück spiegelt Kraus’ radikale Neuorientierung unter dem Zwang der Ereignisse wider. Ursprünglich wurde es von jenem ‚konservativen Standpunkt‘ aus verfasst, den er erst im Oktober 1917 aufgab.
Spätere Überarbeitungen sind Ausdruck der tiefen Enttäuschung Kraus’ über die politische Führungsschicht Österreichs und seiner Hinwendung zu den Sozialdemokraten. In die letzten Änderungen schließlich floß seine Abneigung gegen die Christsozialen ein, die durch die Wahlen vom Oktober 1920 wieder an die Macht gelangt waren. Ein im Jahre 1915 von einem ‚loyalen‘ Satiriker begonnenes Stück wurde somit von einem radikalen Republikaner mit starken sozialistischen Sympathien beendet.“1
Zu Kriegsbeginn war Kraus eher konservativ und gegenüber den traditionellen Mächten der Gesellschaft – Kaiser, Adel, Kirche und Militär – loyal eingestellt. Bei Kriegsende war aus ihm jedoch ein überzeugter Republikaner geworden, der durch die Ereignisse gezwungen worden war, aus dem Versagen der Autoritäten und der politischen, intellektuellen, moralischen und kirchlichen Eliten seine Konsequenzen zu ziehen.
Kraus führt „Die letzten Tage der Menschheit“ als „dokumentarische Tragödie“ ein, in der fast nichts – weder die Umstände noch die Figuren oder die Dialoge – erfunden sei: „Die Aufführung dieses Dramas, dessen Umfang nach irdischem Zeitmaß etwa zehn Abende umfassen würde, ist einem Marstheater zugedacht. Theatergänger dieser Welt vermöchten ihm nicht standzuhalten. Denn es ist Blut von ihrem Blut und der Inhalt ist von dem Inhalt der unwirklichen, undenkbaren, keinem wachen Sinn erreichbaren, keiner Erinnerung zugänglichen und nur in blutigem Traum verwahrten Jahre, da Operettenfiguren die Tragödie der Menschheit spielten […] Die unwahrscheinlichsten Taten, die hier gemeldet werden, sind wirklich geschehen; ich habe gemalt, was sie nur taten. Die unwahrscheinlichsten Gespräche, die hier geführt werden, sind wörtlich gesprochen worden; die grellsten Erfindungen sind Zitate. Sätze, deren Wahnwitz unverlierbar dem Ohr eingeschrieben ist, wachsen zur Lebensmusik. Das Dokument ist Figur; Berichte erstehen als Gestalten, Gestalten verenden als Leitartikel; das Feuilleton bekam einen Mund, der es monologisch von sich gibt; Phrasen stehen auf zwei Beinen – Menschen behielten nur eines.“2
Wer „Die letzten Tage der Menschheit“ kennt,muss Biograf Timms recht geben. Es ist „ganz bestimmt kein Drama, das für stumme Buchseiten bestimmt ist“. Und es ist unbestreitbar ein Werk von außerordentlicher theatralischer Kraft, vielleicht sogar „das größte Theaterstück des 20. Jahrhunderts“.3
In der am 9. Dezember 1927 an der Pariser Sorbonne gehaltenen Vorlesung „Der Vogel, der sein eigenes Nest beschmutzt“ wettert Karl Kraus gegen jenes Argument, das zu allen Zeiten die Dummköpfe aller Länder den Mutigen an den Kopf werfen würden, die es wagen, ihren Landsleuten die Wahrheit zu sagen: „Ich behaupte, daß im Krieg jeder geistige Mensch ein Hochverräter an der Menschheit war, der nicht gegen sein eigenes kriegführendes Vaterland aufgestanden ist – mit allen Mitteln, die ihm seine geistige Natur gewährt hat. Ich behaupte, daß das Schauspiel ausgedienter Kriegslyriker und Speichellecker der eigenen Kriegsgewalt, die da nach Friedensschluß ins Feindesland kommen, um die schmierige Hand den Völkern entgegenzustrecken, die Hand, die mit Tinte das Blut gemehrt hat – ich behaupte, daß diese Wendung der Völkerverbrüderer noch weit schandvoller ist als ihre Wirksamkeit im Krieg, die sie verleugnen möchten.“4
Angesichts der Wahrheiten, die sich Kraus seinen Landsleuten zu sagen verpflichtet sah, überrascht es, dass er außer der Zensur einiger für seine Zeitschrift Die Fackel verfassten Artikel keinen weiteren Repressionen ausgesetzt war. Der britische Mathematikprofessor und Friedensaktivist Bertrand Russell hingegen kam 1918 ins Gefängnis – dabei waren seine Zeitungsartikel weitaus vorsichtiger formuliert als die giftigen Satiren, mit denen Kraus über Österreich und das mit ihm verbündete Deutschland herzog.
Man weiß von nichts und redet von etwas anderem
Von Anfang an scheint Kraus geahnt zu haben, dass es mit der fortschreitenden Militarisierung des Alltags, die für den Kriegsausbruch mitverantwortlich gewesen war, nach dessen Ende nicht vorbei sein würde. Die heimgekehrten Soldaten würden versuchen, die Misserfolge, die sie auf dem Schlachtfeld hinnehmen mussten, irgendwie wettzumachen, notfalls mit einem neuen, noch schrecklicheren Krieg gegen die Zivilbevölkerung ihres eigenen Landes beziehungsweise gegen dessen „innere Feinde“, wie der vor allem antisemitisch konnotierte Kampfbegriff der Konservativen lautete. „Gleichwohl wird sich der Heimkehrende nicht leicht in das zivile Leben wieder einreihen lassen. Vielmehr glaube ich: Er wird in das Hinterland einbrechen und dort den Krieg erst beginnen. Er wird die Erfolge, die ihm versagt werden, an sich reißen und der Krieg wird ein Kinderspiel gewesen sein gegen den Frieden, der da ausbrechen wird“, schrieb Kraus Anfang Oktober 1915.5
Nur wenige Autoren sind in der Beschreibung und Verurteilung der Schrecken des Ersten Weltkriegs so weit gegangen wie Karl Kraus. Auch war er einer der wenigen, die von Anfang an eine Gefahr wahrnahmen, die man als „Krieg nach dem Krieg“ bezeichnen könnte. Sie machten sich keine Illusionen darüber, dass die „patriotische Lüge“, mit der die zwischen 1914 und 1918 begangenen Gräuel ummäntelt wurden, die Verbrechen eines nächsten Konflikts ebenso mit einem Schleier aus Blindheit und selbst gewählter Ahnungslosigkeit verhüllen würde.
Eine Schlüsselstelle ist die Darstellung einer Exekution von Soldaten in Kragujevac. Die Opfer, „alle Familienväter, und vielfach mit allen Graden von Tapferkeitsmedaillen ausgezeichnet“, wie der Journalist Friedrich Austerlitz damals schrieb, waren gerade aus der russischen Kriegsgefangenschaft zurückgekehrt und wieder in die österreichische Armee eingegliedert worden, als sie Anfang Juni 1918 wegen „Trunkenheit und Meuterei“ hingerichtet wurden.
Das Ereignis muss Kraus tief beeindruckt haben, denn er kommt an verschiedenen Stellen in „Die letzten Tage der Menschheit“ darauf zurück, so in der letzten Szene im 5. Akt, in der ein paar Opfer der Militärtyrannei ihren Mördern – wie in Shakespeares „Richard III.“ – als Wiedergänger erscheinen: „Kragujevac. In zwei parallelen Reihen sind je 22 Gräber aufgeworfen. Davor knien 44 Heimkehrer älterer Jahrgänge, mit Tapferkeitsmedaillen aller Grade. Bosniaken schießen auf zwei Schritt Entfernung. Ihre Hände zittern. Die erste Partie wälzt sich am Boden. Keiner ist tot. Man setzt ihnen die Gewehrläufe an den Kopf. Offiziersmesse. Der Oberauditor erhebt das Glas und spricht, indem er seinem Ebenbild im Saal zutrinkt, die Worte: Weißt, ich hätt auch dreihundert hinrichten lassen. Trunkenheitsexzesse können nicht geduldet werden. Ich habe den Leuten den ehrenvollen Tod durch Erschießen ausnahmsweise bewilligt“ (S. 714). Und der Major erklärt zuvor in derselben Szene: „Meine Devise: Krieg – das is nicht nur gegen den Feind, da müssen die Eigenen schon auch was gspürn!“ (S. 700).
Hinter den meisten Gräueltaten, die in dem Stück vorkommen, verbirgt sich eine Mentalität, die Kraus die „verfolgende Unschuld“ nennt und die er als ein Grundkonzept der Kriegspropaganda entlarvt: Selbst wenn sie die größten Grausamkeiten begingen, verstünden es die Verbrecher, sich stets als Unschuldslämmer darzustellen, die sich nur gegen den bösen Wolf zur Wehr setzten, ob er nun aus der Fremde kommt oder von innen. Hat man dieses Konzept, das eines der wichtigsten Propagandamittel der Nazis werden sollte, erst einmal erkannt, habe man bereits viel über den Ersten Weltkrieg begriffen: „Man weiß von nichts und redet von etwas anderm; man hat nichts getan, aber der andre ist dran schuld; es ist nichts geschehn und er hat es getan; man bezichtigt den, der die Wahrheit sagt, der Lüge, auf der man ertappt wurde.“6
In „Die letzten Tage der Menschheit“ legt Kraus besonderes Augenmerk auf die Art und Weise, wie, gemäß der Devise des Majors, die Soldaten „was“ vom Krieg „gespürn“, den ihre Vorgesetzten gegen sie führen. So gehen in seinem Stück einige Militärs mit ihren eigenen Männern fast genauso grausam um wie mit ihren Feinden, insbesondere wenn diese in Gefangenschaft gerieten. Die Figur des Nörglers regt sich vor allem darüber auf, dass die durch ein solches Verhalten diskreditierten Autoritäten von ihren Untergebenen auch noch absoluten Gehorsam und Respekt verlangten.
Muss man es nicht, fragt Kraus, als ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit betrachten, dass „Operettenfiguren“ über Leben und Tod von Tausenden Menschen verfügen, die dazu gezwungen werden, sich als „Helden“ zu opfern und denen bei Widerstand oder auch nur der geringsten Zuwiderhandlung die Erschießung oder der Galgen droht?
„Bedenken Sie“, sagt der Nörgler, „daß unter dem Armeeoberkommando des Erzherzogs Friedrich allein 11 400, nach einer andern Version 36 000 Galgen errichtet worden sind. Einer, der nicht bis drei zählen konnte! Und eine kriegerische Erscheinung, vor deren Tatenruhm Napoleon als der erste Defaitist erscheint – im Martialischen wie im Erotischen wahlverwandt und verbündet jenem Scheusal von einem Barbarenkaiser, dem Imperator der geistigen Knödelzeit, der keine Quantität von Fleisch und Blut unberührt lassen konnte und dazu seinen eigenen Schenkel klatschend schlug und sein gröhlendes Wolfslachen ertönen ließ: so lachte der Fenriswolf, als die Welt in Flammen aufschlug“ (S. 505).
In einer ergreifenden Passage spricht der Nörgler von dem Schmerz, den es ihm bereite, dass die Mörder ungestraft und vergnügt die von ihnen verantworteten Millionen Opfer überlebt haben und sich an nichts erinnern wollen und nichts gelernt haben: „Wahrlich, wenn Gottes Wege nicht unerforschlich wären, so wären sie unbegreiflich! Warum doch hat er uns kriegsblind gemacht! Hier tappen sie durchs Leben, Krüppel und Gelähmte, zitternde Bettler, altersgraue Kinder, irrsinnige Mütter, die von Offensiven geträumt hatten, Heldensöhne mit den Flackeraugen der Todesangst, und alle, die keinen Tag mehr haben und keinen Schlaf und nichts mehr sind als die Trümmer einer zerbrochenen Schöpfung. Und dort lachen jene, die sich des Eingriffs vermessen haben, des Richters über den Sternen, der zu hoch thront, als daß sein Arm sie erreiche. Ist’s nicht erfüllt? Keine Narbe bleibt ihrer Seele, die nie verwundet ward von dem, was sie getan, gewußt, geduldet. Der Menschheit ist die Kugel bei einem Ohr hinein und beim andern hinausgegangen. Weg von diesem lachenden Grauen! Weg von diesem österreichischen Antlitz, von dem unendlichen Behagen dieser Blutlache!“ (S. 644).
Kaum ist der Krieg vorbei, empört sich Kraus, erstarrt die Erinnerung an den Krieg zur Heldenverklärung und zum Opferfest für die auf dem sogenannten Feld der Ehre Gefallenen. Die Erinnerungsindustrie funktioniere, so Kraus, wie das organisierte Vergessen. Früher oder später könne dieses Verdrängen dafür verantwortlich sein, dass wieder Millionen Menschen zu Tode kommen.
Kaum war der Krieg vorbei, wurde tatsächlich ein neuartiger Geschäftszweig entdeckt, der sich schnell erfolgreich entwickelte. Man könnte ihn als „Schlachtfeldtourismus“ bezeichnen. Kehre eine Epoche wie die unsere, fragt Kraus, nicht letztlich immer möglichst schnell zu dem zurück, was für sie als Einziges zähle? Oder wie der Redakteur im Landesverband für Fremdenverkehr zum Funktionär sagt: „Nun aber die Hauptsache. Welche Attraktionen werden wir unsern Fremden nach dem Kriege bieten können, oder vielmehr welchen Ersatz werden wir für jene Sehenswürdigkeiten, die etwa durch den Krieg zerstört worden sind, durch andere Attraktionen bieten können?“ Der Funktionär ist um keine Antwort verlegen: „Wir geben uns der Hoffnung hin, daß der pietätvolle Besuch der Heldengräber und Soldatenfriedhöfe eine lebhafte Verkehrsbewegung zur Folge haben wird. Es handelt sich ja darum, unser Haus wiederum zu bestellen. Und wir appellieren gerade in diesem Punkte an die verständnisvolle Mitarbeit der Presse, da es unsere Aufgabe ist, jeder Epoche die Attraktionen abzugewinnen, die sie in sich selbst bietet, und die Gräber der Gefallenen wie geschaffen erscheinen, die Hebung des Fremdenverkehrs erhoffen zu lassen“ (S. 603 f.).
Unter den Floskeln, die Karl Kraus sowohl in seiner Zeitschrift Die Fackel als auch in seinem Stück „Die letzten Tage der Menschheit“ analysiert und kritisiert, kommt die Phrase „Man darf nicht generalisieren“ besonders häufig vor. Dahinter verbergen sich, so der Autor, allzu oft jene, die Schuld auf sich geladen haben und das gern vergessen machen würden, indem sie daran erinnern, dass, wer einmal gestohlen habe, es bei anderen Gelegenheiten nicht unbedingt wieder tun müsse, und dass überhaupt viele Menschen noch nie gestohlen hätten.
Kraus vertritt dagegen die Auffassung, dass es Situationen gebe, in denen man das Recht (und sogar die Pflicht) habe zu generalisieren. Oder, präziser ausgedrückt, man „generalisiert“ nicht, wenn man der Ansicht ist, dass ein einmaliger Fall bereits ein Fall zu viel sein kann, um eine Institution hinlänglich zu diskreditieren. Das würde wiederum nicht ausschließen, dass sich unter ihren Repräsentanten immer noch viele anständige Leute fänden. In einer missbräuchlichen Weise generalisieren, so Kraus, würden gerade diejenigen, die versuchten, die nachweisliche Tugend und Anständigkeit der anderen zu vereinnahmen.
Eine der schlimmsten Illusionen über den Krieg besteht laut dem Nörgler in der Rede von dessen regenerativer Kraft und dem Glauben, die Zivilisation werde aus der Katastrophe erneuert hervorgehen. In Wahrheit aber, meint Kraus, besitzt der Krieg nicht die Macht, die Guten besser zu machen; er kann nur jene noch schlechter machen, die es zuvor bereits waren. „Wenn’s einer Brandstiftung bedurft hat, um zu erproben, ob zwei anständige Hausbewohner zehn unschuldige Hausbewohner aus den Flammen tragen wollen, während achtundachtzig unanständige Hausbewohner die Gelegenheit zu Schuftereien benützen, so wäre es verfehlt, die Tätigkeit von Feuerwehr und Polizei durch Lobsprüche auf die guten Seiten der Menschennatur aufzuhalten. Es war ja gar nicht nötig, die Güte der Guten zu beweisen, und unpraktisch, dazu eine Gelegenheit herbeizuführen, durch die die Bösen böser werden“ (S. 160).
Das vergossene Blut hat Ströme von Druckerschwärze fließen lassen, und die Druckerschwärze hat ihrerseits Ströme von Blut fließen lassen: Durch den Ersten Weltkrieg konnten unter unverhofften Bedingungen sowohl die Zerstörungskraft der Waffen perfektioniert als auch die fast unbegrenzten und noch weitgehend ungeahnten Möglichkeiten von Presse und Propaganda erprobt werden.
Das Übel gedeiht hinter dem Ideal am besten
Nach der Niederlage von Przemysl – die westgalizische Festungsstadt wurde im März 1915 von den Russen eingenommen und einen Monat später von den deutsch-österreichischen Truppen zurückerobert – erklärt der Generalstäbler am Telefon dem Kriegsberichterstatter, wie in solchen Fällen vorzugehen sei. Wie über den Wert und die Bedeutung einer Festung zu berichten sei, hänge ganz davon ab, ob sie gehalten wurde oder verloren gegangen sei: „Was, hast wieder alles vergessen? – Ös seids – Hör zu, ich schärfe dir noch einmal ein – Hauptgesichtspunkte: Erstens, die Festung war eh nix wert. Das ist das Wichtigste – Wie? man kann nicht – Was? man kann nicht vergessen machen, daß die Festung seit jeher der Stolz – Alles kann man vergessen machen, lieber Freund! Also hör zu, die Festung war eh nix mehr wert, lauter altes Graffelwerk – Wie? Modernste Geschütze? Ich sag dir, lauter altes Graffelwerk, verstanden?“ (S. 274).
Auch im Fall der Presse, so wird ständig wiederholt, dürfe man nicht die Ungerechtigkeit begehen zu generalisieren. Ein anständiger und mutiger Mensch sei weniger anfällig, von einem System wie dem Journalismus verdorben zu werden. Doch einen schwachen Menschen könne das System mühelos in einen Schuft verwandeln. Bestimmte Institutionen böten zu vielen charakterlosen Menschen zu viele Gelegenheiten, als dass dabei nicht eine bedeutende Menge von Lumpen herauskäme. Wenn der Satiriker Kraus die Halunken und deren Schandtaten anprangert, geht es ihm vor allem um Kritik an den Institutionen und nicht so sehr um die Verurteilung Einzelner.
„Das Übel“, sagt der Nörgler, „gedeiht hinter dem Ideal am besten“ (S. 193). Die Universität sei der Verpflichtung, die „großen Ideale“ zu schützen, stets nachgekommen, selbst dann noch, als diese zur Rechtfertigung himmelschreiender Untaten benutzt wurden. Gerade Deutschland, dem „Land der Dichter und Denker“, stünde es ganz und gar nicht an, sich zum Opfer feindlicher Barbarei zu stilisieren, wo „ein ganzes Heer von journalistischen, literarischen und akademischen Tröpfen und Spitzbuben aufgeboten war, Söldner fremden Blutes, die mit derselben Feder, mit der sie den Vorwurf unmenschlicher Kriegführung auf die Feinde abzuwälzen hatten, ja auf demselben Papier, die Bombardierung von Krankenhäusern, Kirchen und Schulzimmern, die Torpedierung von Spitalschiffen, die Ehrung und Verklärung von Menschenjägern nicht nur beschrieben, sondern auch bejubelt haben.“7
Man könne, meint Kraus in demselben Aufsatz, der im Januar 1919 in der Fackel erschien, Mitleid mit denen haben, die keine andere Wahl hatten, keineswegs aber mit der „deutsche(n) Intelligenz, welche wie die keines andern Landes, vom ersten Dichter bis zum letzten Reporter, vom ersten Völkerrechtsprofessor bis zum letzten Pastor, in der feldgrauen Materie gesiehlt, im fremden Bluterlebnis geschwelgt, ja vielfach von dieser Haltung ihre Existenz gefristet und durch den Claqueurdienst für Haudegen die eigene Unversehrtheit errungen hat, keineswegs hat die Barbarei der Bildung auch nur den geringsten Anspruch auf Mitleid, wenn sie die Strafe mitzuzahlen hat, und käme selbst ein Säkulum solchen Geisteslebens in wirtschaftliche Bedrängnis.“
Weder die Generäle noch deren Regierungen hätten in einem solch skandalösen Ausmaß von der Straffreiheit profitiert wie die Journalisten. Die Krieger der Presse, die die bellizistische Hysterie entfacht haben, über all die Jahre den chauvinistischen Furor angeheizt und Lügen über die schreckliche Wirklichkeit verbreitet haben, wussten, dass ihnen nach dem Krieg nichts passieren würde. Für manch einen Militärchef oder Politiker konnte es hingegen weit weniger glimpflich ausgehen. Die Presse, die sich tunlichst nicht an ihr Verhalten erinnern wollte, hatte gute Gründe, sich aktiv an der Organisation des kollektiven Vergessens zu beteiligen.
Aus purer Gerechtigkeit hätte Kraus alle Zeitungen, die mehr als alles andere dazu gedient hatten, das weltweite Feuer zu entfachen, am liebsten auf den Scheiterhaufen geworfen. Aber selbstverständlich ist nichts dergleichen geschehen; und die mächtigsten und einflussreichsten Zeitungen brauchten nicht einmal einen Anflug von Verlegenheit oder Reue zu heucheln. Im Gegenteil, die Presse spielte erneut eine wichtige Rolle, als es darum ging, die Wahrheit systematisch zu leugnen und die Ursachen und Folgen des Kriegs jenseits aller Tatsachen zu verschleiern. Damit hat sie nicht zuletzt entscheidend zu Hitlers Aufstieg beigetragen, der keine zwanzig Jahre nach dem Ende des Ersten in den Zweiten Weltkrieg mündete.
Im Unterschied zur Mehrheit der Bevölkerung Deutschlands und Österreichs hatte Kraus nie Zweifel an der realen Verantwortung dieser beiden Länder für Ausbruch und Verlauf der Feindseligkeiten. In dem oben zitierten Artikel für Die Fackel, der eine Art Epitaph auf den Krieg und das durch ihn ruinierte Österreich darstellt, bezeichnet er den Angriff Serbiens und den Einmarsch deutscher Truppen in Belgien als kriminelle Akte: „Ich möchte was drum geben, genau zu wissen, für wen eigentlich die Taten getan worden sind, von denen man öffentlich sagt, sie wären für das Vaterland getan worden.“
Als die Waffen endlich wieder schwiegen, forderte Kraus, dass die politischen und militärischen Führer, die diesen Krieg gewollt und ihn der Menschheit aufgezwungen hatten, vor ein internationales Gericht gestellt und bestraft werden. Mit diesem Vorschlag verbeugte er sich auch vor Kants Schrift „Zum ewigen Frieden“, die er zutiefst bewunderte. Kant entwirft hier die Idee eines Bundes zwischen Staaten, die durch einen Friedensvertrag vor Kriegen untereinander geschützt werden und sich bei Regelverstößen vor einem internationalen Tribunal verantworten müssen, das Sanktionen ausspricht und für die friedliche Lösung von Konflikten sorgt.
Kraus war allerdings überzeugt, dass der von den Siegermächten diktierte Frieden weder gerecht noch sicher sei und früher oder später zu einem neuen Krieg führen könnte. Er lehnte es ab, mit erlittenem Unrecht ein noch größeres Unrecht zu rechtfertigen. Anders als man ihm vorgeworfen hatte, dachte er niemals, dass der Feind grundsätzlich besser, und schon gar nicht, dass er untadelig sei: „Daß aller Glanz und alles Recht auf der anderen Seite ist, dürfte aus keinem meiner Kriegsaufsätze zu entnehmen sein, wohl aber das sittliche Gebot, die Schäbigkeit und das Unrecht auf der eigenen Seite zu erkennen und zu bekennen. Wenn dortige Geister ihrerseits die Pflicht erfüllen, wird der Menschheit geholfen; wir haben das Unsrige zu tun. Die Pflicht ist mit dem Frieden nicht erfüllt. Der Feind hat zu vergessen, was der Feind ihm, und darf nie vergessen, was er dem Feinde angetan hat. Beide leider sündigen gegen beiderlei Gebot.“9 Will man verhindern, so Kraus, dass erneut Kriege ausbrechen, muss man zwar ihre Ursachen kennen, darf sich aber zugleich nicht damit begnügen, ihre Folgen der Bösartigkeit des Feindes zuzuschreiben, auch wenn dieser gewonnen hat.