Ein Hafen für Afghanistan
von Jean-Luc Racine
Der Anschlag auf das indische Konsulat in Herat im Westen Afghanistans am 23. Mai 2014 wurde allgemein als Botschaft an Neu-Delhi verstanden: Zwei Tage zuvor hatte der neu gewählte indische Premierminister Narendra Modi die Staats- und Regierungschefs Südasiens – darunter auch der afghanische und der pakistanische Präsident – zur Feier seiner Amtseinführung am 26. Mai eingeladen. Afghanistans Präsident Hamid Karsai machte für den Überfall die Terrorgruppe Lashkar-e-Taiba verantwortlich, die im pakistanischen Teil von Kaschmir beheimatet ist. Ihren spektakulärsten Überfall verübte sie 2008 in Bombay.
Der Anschlag auf das Konsulat war der jüngste einer ganzen Serie, die darauf abzielte, die indisch-afghanischen Beziehungen zu torpedieren. Im Laufe der Regierungszeit Karsais (2001–2014) hatten sich diese gut entwickelt; ihr Höhepunkt war 2011 die symbolisch bedeutsame Unterzeichnung des strategischen Partnerschaftsabkommens, in dem es nicht nur um Sicherheitsfragen, sondern auch um Wirtschaft, Handel und Bildung geht. Für Afghanistan war es das erste Abkommen dieser Art überhaupt und für Indien das erste mit einem Land in der Nachbarschaft.
Nach dem Ende der Ära Karsai1 sorgt sich Neu-Delhi vor allem aus drei Gründen um die Zukunft seiner Beziehungen zu Afghanistan: wirtschaftliche Interessen, der bereits gewonnene Einfluss und die Rolle Afghanistans in einer Region, wo die Interessen von Pakistan, dem Iran, Tadschikistan und China einander überschneiden. Nach dem für Ende 2014 geplanten Abzug des Großteils der US-amerikanischen Truppen muss die indische Regierung die heikle Frage beantworten, wie weit die Militärhilfe für den neuen afghanischen Präsidenten gehen darf, ohne die schwierigen Beziehungen zu Pakistan noch mehr zu belasten.
Indien erinnert gern an seine jahrhundertealten Beziehungen zu Afghanistan, von den Zeiten Buddhas (ab dem 3. Jahrhundert vor Christus) bis zu den Eroberungen der Mamluken unter Sultan Mahmud von Ghazni (971–1030), die von Indiens Reichtümern ebenso angezogen wurden wie später die Gründer der indischen Dynastien. 1880 ließ sich das britische Empire angesichts des afghanischen Irredentismus auf den Kompromiss ein, Emir Abdur Rahman Khan auf den Thron in Kabul zu setzen; der überließ dafür den Briten die Kontrolle über die Außenpolitik.
1893 setzte Großbritannien die sogenannte Durand-Linie (nach dem Kolonialbeamten Henry Mortimer Durand benannt) als Demarkationslinie zwischen Britisch-Indien und Afghanistan durch. Die Höhenlinie verlief mitten durch paschtunisches Gebiet. Ein Teil des afghanischen Territoriums fiel so unter britisch-indische Verwaltung und wurde nach der Teilung der ehemaligen Kolonie Britisch-Indien 1947 dem neu gegründeten Staat Pakistan zugeschlagen.
Fortan gab es keine gemeinsame Grenze mehr zwischen Indien und Afghanistan. In Pakistan befürchtete man, es könnte eine Bewegung für ein unabhängiges oder an Afghanistan angegliedertes Paschtunistan entstehen und beließ deshalb die Zone der paschtunischen Stammesgebiete unter Sonderverwaltung. Während Pakistan die Durand-Linie als legale Grenze betrachtet, hat sie Afghanistan bis heute nicht anerkannt – mit dem Argument, dass sie nie durch einen Vertrag zur internationalen Grenze erklärt worden sei.2
Das unabhängige Indien unterhielt hingegen gute Beziehungen zum afghanischen Königreich. 1950 wurde sogar ein Freundschaftsabkommen unterzeichnet. Das änderte sich auch nicht, als 1978 die Kommunisten in Kabul an die Macht kamen. Nach dem sowjetischen Einmarsch im Dezember 1979 distanzierte sich die indische Premierministerin Indira Gandhi, die zuvor einen Freundschafts- und Kooperationsvertrag mit der Sowjetunion geschlossen hatte, von der Intervention, ohne sie jedoch direkt zu verurteilen. Sie hatte die Risiken und möglichen Konsequenzen im Blick, insbesondere die Unterstützung der USA und Pakistans für die afghanischen Mudschaheddin. Deren Sieg stärkte die Macht des pakistanischen Generals Zia-ul-Haq,3 der verhindern wollte, dass sein Land zwischen Indien und einem Afghanistan unter proindischer Führung in die Zange geriet.
Die endlosen Konflikte in Afghanistan nach dem Abzug der sowjetischen Truppen schwächten die Stellung Indiens – trotz seiner guten Beziehungen zu Ahmed Schah Massud, der 1992 die Macht in Kabul übernommen hatte.4 Als die Taliban 1996 die Hauptstadt eroberten, wurde Indiens Einfluss noch weiter zurückgedrängt. Gleichzeitig ging der 1989 begonnene antiindische Aufstand in Kaschmir weiter, den Pakistan unterstützte, das Dschihadisten (die oft in Afghanistan ausgebildet waren), Mudschaheddin und später Taliban für seine Zwecke einspannte.
Nach dem Schock vom 11. September 2001 stimmte auch Indien für die UN-Resolutionen, die das militärische Eingreifen der internationalen Koalition unter Führung der USA autorisierten. Auf militärischer Ebene kooperiert Neu-Delhi zwar mit Washington, was geheimdienstliche Informationen betrifft, es beteiligt sich aber nicht an der International Security Assistance Force (Isaf).5
Im Dezember 2001 nahmen Vertreter Neu-Delhis auch an der Bonner Konferenz zur Zukunft Afghanistans teil. Während der Amtszeit von Präsident Karsai betrieb Indien eine Politik der aktiven Zusammenarbeit und setzte dafür fast zwei Milliarden Dollar ein, wobei die gesamte für das Jahrzehnt von 2002 bis 2012 zugesagte internationale Hilfe für Wiederaufbau und Entwicklung etwa 100 Milliarden Dollar (80 Prozent davon aus den USA) umfassen sollte; bis Ende 2011 waren davon erst 70 Milliarden Dollar tatsächlich ausgezahlt worden. Gemessen an dieser Summe scheint Indiens Beitrag bescheiden, aber er lag weit über demjenigen Pakistans. Die Chinesen zogen es vor, Investitionen zu tätigen. Und der Iran übte seinen Einfluss über manchmal undurchsichtige Kanäle aus, erreichte aber nicht annähernd die Höhe der indischen Finanzhilfen – jedenfalls nicht nach offiziellen Zahlen.
Die Beiträge Indiens reichen vom Bau des neuen afghanischen Parlaments über Lebensmittelhilfe und Gesundheitsprogramme bis hin zu Gemeinschaftsprojekten zur ländlichen Entwicklung, Stipendien für technische und andere Studien an indischen Hochschulen sowie Ausbildungsprogrammen (zum Beispiel für Medienberufe) und Investitionen im Energiesektor, wie bei der Stromleitung von Usbekistan nach Kabul.
Neben der Botschaft in Kabul unterhält Neu-Delhi Konsulate in Herat, Masar-i-Scharif sowie auf paschtunischem Gebiet in Kandahar und Dschalalabad. Pakistan bezeichnet diese Konsulate als Spionagenester und beschuldigt Indien, die belutschischen Separatisten in ihren afghanischen Rückzugsräumen gegen Islamabad zu unterstützen. Um seinen Einfluss in Afghanistan zu behalten, übt Pakistan häufig Druck aus, damit Indien nicht zu internationalen Konferenzen über die Zukunft Afghanistans eingeladen wird. Die Taktik hatte im Jahr 2008 im Iran noch Erfolg; doch an dem 2011 begonnenen „Istanbuler Prozess für regionale Sicherheit und Zusammenarbeit für ein stabiles und sicheres Afghanistan“6 ist Indien sogar als „Führungsland“ für den Bereich Handel und Investitionen beteiligt. Es soll Kooperationen zwischen den teilnehmenden Staaten vermitteln. Zu diesem Zweck organisierte Neu-Delhi 2012 ein Gipfeltreffen zum Thema „Investitionen in Afghanistan“.
Indien forderte außerdem seine Partner dazu auf, den Bau der Turkmenistan-Afghanistan-Pakistan-Indien-Pipeline (Tapi) voranzutreiben. Darüber hinaus will ein indisches Konsortium in das afghanische Eisenerzbergwerk von Hadschigak investieren, während China vorhat, die Kupfermine Ainak im Süden Kabuls auszubeuten. Die wacklige Sicherheitslage sorgt jedoch für Verzögerungen; von den versprochenen indischen Investitionen (1,5 Milliarden Dollar zusätzlich zu den bereits erwähnten 2 Milliarden Dollar an Hilfsgeldern) könnten weitaus weniger ankommen als vorgesehen.7
Indien baut Straßen, Pakistan zündelt
Da Islamabad den Transport indischer Waren durch Pakistan blockiert (nur afghanische Lastkraftwagen dürfen seit 2010 das Land Richtung Indien passieren), versucht Indien gemeinsam mit dem Iran, für die Afghanen einen Zugang zum Meer zu eröffnen, der nicht über Pakistan und seine Häfen in Karatschi und dem von Chinesen finanzierten und betriebenen Gwadar (siehe Karte) läuft.
Zu diesem Zweck hat die indische Regierung eine Straße erneuern lassen, welche die Ring Road, die große Verbindungsstraße zwischen den wichtigsten afghanischen Metropolen, mit Sarandsch an der iranischen Grenze verbindet. Außerdem kam sie für den Ausbau des iranischen Hafens Tschahbahar auf, der nun auch besser an Sarandsch angebunden ist.
Die Reaktion ließ nicht lange auf sich warten: Die Baustelle an der Straße zum Iran wurde mehrere Male von Gruppen angegriffen, denen man Verbindungen zum pakistanischen Geheimdienst nachsagt, wie es auch bei den Attentaten gegen die indische Botschaft in Kabul (2008 und 2009) und das Konsulat von Dschalalabad (2013) der Fall war.
Der neue afghanische Präsident Ghani ist in Indien kein Unbekannter, denn er leitete dort bereits Projekte, als er noch bei der Weltbank tätig war. Kontinuität steht im Vordergrund der afghanisch-indischen Beziehungen. Die größte Herausforderung ist nach wie vor die Sicherheitsfrage. Wie viele andere Staaten hat sich auch Indien für eine „nationale Versöhnung“ der Afghanen unter eigener Regie ausgesprochen. Aber ist das möglich? Indien fürchtet weniger die afghanischen Taliban als das dazugehörige, aber selbstständig agierende Haqqani-Netzwerk; und am meisten fürchtet es die pakistanischen Taliban mit ihren Verbindungen zu den Dschihadisten im Pandschab, vor allem zur Terrorgruppe Lashkar-e-Taiba. Die Frage ist, welche Rolle Pakistan dabei spielt.
Da sich die Beziehungen zwischen Afghanistan und Pakistan verschlechtert hatten, wurde in das strategische Partnerschaftsabkommen zwischen Kabul und Neu-Delhi ein Abschnitt zur politischen und militärischen Zusammenarbeit aufgenommen. In Artikel 5 heißt es: „Indien stimmt zu, seinen Beitrag zur Ausbildung und Ausrüstung […] der afghanischen Sicherheitskräfte nach gemeinsam festgelegten Richtlinien zu leisten.“ Auch wenn Neu-Delhi der Bitte um die Lieferung von Panzern und Kampfhubschraubern nicht entsprochen hat, einigte es sich im April 2014 mit Kabul darauf, die Anschaffung leichter Geschütze und logistischer Ausrüstung aus Russland zu bezahlen. Die Inder wollen auf keinen Fall Soldaten entsenden, nicht einmal Ausbilder. Doch sie bilden immer öfter afghanische Offiziere in Indien aus, auch für Aufgaben in Spezialeinheiten.
Diese Politik, wie ausgewogen sie auch sein mag, wird die Beziehungen zu Pakistan vermutlich noch mehr belasten. Und hier gibt es offenbar auch eine neue Entwicklung: Die pakistanische Armee soll im April 2014 dem Haqqani-Netzwerk und dem Emir der afghanischen Taliban, Mullah Omar, signalisiert haben, sie müssten sich entscheiden, ob sie auf der Seite Islamabads oder auf der der pakistanischen Taliban stünden. Sollte sich diese Information bestätigen, dann heißt das, dass Pakistan neuerdings den afghanischen Taliban misstraut, obwohl diese gemäß einem Szenario von vor 20 Jahren pakistanische Interessen in Afghanistan wahren sollten.
Dieses Durcheinander zeigt, wie nötig ein regionaler Dialog wäre – bei dem Indien durchaus Trümpfe im Ärmel hätte. Über den Iran oder Russland vermag es die pakistanische Blockade teilweise zu umgehen. Zudem hat es gemeinsame Interessen mit China, das sich vor dem Erstarken eines extremistischen Lagers und dessen Einflüsse auf die uigurische Unruheregion Xinjiang fürchtet. Deshalb sprechen Peking und Neu-Delhi bei ihren bilateralen Treffen auch über Afghanistan.
Schon 2009 zeigte sich General Stanley McCrystal, damals Oberbefehlshaber der Isaf-Streitkräfte in Afghanistan, in seinem ersten Bericht nach Washington besorgt über die möglichen Auswirkungen des indischen Einflusses in Afghanistan, vor allem im Hinblick auf die Reaktion Pakistans.8 Drei Jahre später aber drängte der damalige US-Verteidigungsminister Leon Panetta bei seinem Besuch in Neu-Delhi die indische Regierung, sich stärker zu engagieren, um Afghanistan nach dem Truppenabzug 2014 zu konsolidieren. Nach wie vor gilt, was der wichtigste indische Thinktank, das Institute for Defence Studies and Analyses (IDSA), 2013 in einem Leitsatz formuliert hat: Angesichts eines möglichen Wiedererstarkens der Taliban in Afghanistan „darf Indien weder stummer Zuschauer bleiben, noch unbedachten Aktionismus zeigen“.9
Was wann geschah
1950 Indisch-afghanischer Freundschaftsvertrag.
1971 Indisch-sowjetischer Freundschafts- und Kooperationsvertrag.
1978 Machtübernahme der Kommunisten in Kabul.
Dezember 1979 Sowjetischer Einmarsch in Afghanistan auf Bitten der Regierung.
Januar 1980 Die indische Premierministerin Indira Gandhi kritisiert in Bezug auf Afghanistan die „Einmischungen von außen“ (gemeint sind die UdSSR, die USA und Pakistan).
1989 Rückzug der Sowjets. Beginn des von Pakistan unterstützten Aufstands im indischen Kaschmir.
1990–1992 Diskrete Unterstützung Indiens für die Nordallianz von Ahmed Schah Massud gegen die von Pakistan geförderten Paschtunen.
1996 Einmarsch der Taliban in Kabul mit Hilfe Pakistans.
2001 Unterstützung Indiens für die US-Intervention in Afghanistan.
2002–2014 Vertiefung der indisch-afghanischen Beziehungen unter der Regierung Karsai.
2008/2009 Attentate gegen die indische Botschaft in Kabul und zwei Konsulate.
2011 Strategisches Partnerschaftsabkommen zwischen Kabul und Neu-Delhi.