Brüssel liegt nicht am Meer
Die EU hat Italien bei der Rettung der Bootsflüchtlinge im Stich gelassen von Stefano Liberti
Seit Anfang 2014 hat die italienische Marine nach Angaben der Regierung in Rom bei 420 Einsätzen etwa 150 000 Menschen aus dem Mittelmeer gerettet. Nach den beiden großen Bootsunglücken im Oktober 2013 vor der 200 Kilometer südwestlich von Sizilien gelegenen Insel Lampedusa, bei denen etwa 600 Flüchtlinge aus Syrien und Eritrea ertrunken sind, hatte die italienische Regierung die Operation „Mare Nostrum“ („Unser Meer“) ins Leben gerufen. Durch das rechtzeitige Aufspüren von Flüchtlingsbooten soll verhindert werden, dass sich solche Tragödien wiederholen.
An der Mission waren Soldaten, Schiffe und Flugzeuge der italienischen Marine, Armee und Luftwaffe, der Carabinieri, der Zolltruppe und der Küstenwache beteiligt, dazu auf den Einsatzschiffen auch Polizeibeamte. Dank der einzigartigen Such- und Rettungsaktionen konnten seither geortete Migrantenboote schon vor der libyschen Küste aufgegriffen werden. Die Geretteten wurden in Häfen auf Sizilien oder auf das italienische Festland gebracht.
Die Anzahl der Neuankömmlinge ist in den letzten Monaten dramatisch gestiegen. Die Zahl von 150 000 Flüchtlingen, die bis Anfang November 2014 über das Mittelmeer nach Europa gelangt sind, haben den bisherigen Spitzenwert von 63 000 (für das gesamte Jahr 2011) bereits weit übertroffen. Damals hatte der Arabische Frühling in Tunesien und der Bürgerkrieg in Libyen viele Menschen genötigt, ihren Heimatländern den Rücken zu kehren.
Diese Flüchtlingswellen hatten vielfältige Gründe: Instabilität und Krieg in den Herkunftsländern, aber auch zunehmende Unsicherheit in Ländern wie Libyen, wo es praktisch keine funktionierende Zentralregierung mehr gibt und die Macht in den Händen von Milizen liegt. Die große Mehrheit der Flüchtlinge, die an Italiens Küsten anlanden, sind in Libyen aufgebrochen. Die meisten von ihnen stammen ursprünglich aus Konfliktgebieten wie Syrien, Mali, Nordnigeria und Eritrea.
Im Vergleich zu früher gibt es unter den Neuankömmlingen heute kaum noch sogenannte Wirtschaftsmigranten. Die meisten von ihnen wollen politischer und religiöser Verfolgung entkommen. Dies ist ein deutliches Anzeichen dafür, dass die Rezession in Europa die Migrationsmuster verändert hat und dass die EU für Zuwanderer, die alternative Ziele ansteuern können, weniger attraktiv geworden ist.
Aber das ist nicht die einzige Veränderung. In den letzten Monaten hat sich auch der Umgang der italienischen Regierung mit den eintreffenden Flüchtlingen radikal gewandelt. Nach dem Abschluss des „Freundschafts-, Kooperations- und Partnerschaftsabkommens“ zwischen Italiens früherem Ministerpräsidenten Silvio Berlusconi und dem damaligen libyschen Staatschef Muammar al-Gaddafi am 30. August 2008 war die italienische Flüchtlingspolitik vor allem und in erster Linie eine Politik der Zurückweisung: Die Marine hatte den Befehl, alle Flüchtlingsboote im Mittelmeer abzufangen und sie umgehend zurückzuschicken.
Ohne „Mare Nostrum“ hätte es viel mehr Tote gegeben
Diese harte Linie wurde bis 2010 so konsequent durchgesetzt, dass die Zahl der Neuankömmlinge praktisch gen null tendierte. Die Marine brachte sämtliche Boote auf und eskortierte deren Passagiere zurück zum Ausgangshafen, und zwar ohne ihre Identität zu ermitteln oder zu prüfen, ob sie einen Asylanspruch anmelden konnten oder nicht. Diese Politik der Zurückweisung wurde während des Bürgerkriegs in Libyen, als Italien sich der Nato-geführten Koalition gegen Gaddafi anschloss, ausgesetzt und schließlich im Februar 2012 vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte verurteilt.
Nach dem Sturz Gaddafis hat die italienische Regierung mehrmals versucht, mit den neuen libyschen Machthabern eine Vereinbarung zu treffen, wonach diese die Flüchtlinge und Migranten nach Möglichkeit schon in Libyen aufhalten sollte. Das erwies sich jedoch als schwierig, weil die Regierung in Tripolis notorisch instabil ist und keine reale Macht ausübt, die sich auf das ganze Land erstrecken würde.
Die beiden Tragödien, die sich im Oktober 2013 vor Lampedusa ereigneten, stellten einen Wendepunkt dar: Nach dem Kentern eines Boots am 3. Oktober wurden 366 Leichen geborgen. Die Bilder aus dem Hangar mit den drei Reihen brauner Holzsärge gingen um die ganze Welt und lösten eine Welle großen Mitgefühls aus. Der damalige Ministerpräsident Enrico Letta rief nach der Katastrophe die Hilfsmission „Mare Nostrum“ ins Leben. Als Begründung führte er an, dass es nicht zu weiteren Tragödien kommen dürfe.
Obwohl seitdem viele Schiffsunglücke verhindert werden konnten, sterben immer wieder Menschen bei dem Versuch, nach Europa zu gelangen. Seit Januar 2014 sind laut Schätzungen des UN-Hochkommissariats für Flüchtlinge mindestens 3 300 Migranten im Mittelmeer ertrunken. „Diese Zahl wäre ohne die Operation ‚Mare Nostrum‘ viel höher“, erklärte Luigi Ammatuna, Bürgermeister von Pozzallo an der Südspitze Siziliens, einer der Hafenstädte, in der die italienische Marine die geretteten Flüchtlinge bisher an Land gebracht hat. „Aber wir können die riesige Menge an Neuankömmlingen nicht bewältigen. Europa muss uns unterstützen, wir brauchen Sachmittel und Geld.“
Solche Hilferufe waren in den vergangenen Monaten immer öfter zu hören. Den italienischen Staat kosten die Rettungsaktionen im Rahmen von „Mare Nostrum“ pro Monat rund 9 Millionen Euro. Überall an der sizilianischen Küste, deren Hafenstädte sonst eher von Touristen frequentiert werden, riefen die Behörden nach Unterstützung, die sowohl von der Zentralregierung in Rom als auch aus Brüssel kommen soll.
„Sizilien ist nicht nur die Grenze Italiens, es ist auch die Grenze der Europäischen Union“, meinte Enzo Bianco, Bürgermeister von Catania und ehemals italienischer Innenminister. „Die EU sollte uns bei den Seepatrouillen unterstützen und bei der Aufnahme und Versorgung der vielen Asylsuchenden, die jeden Tag in Italien eintreffen. Für diese Menschen ist Italien das Tor zu Europa. Sie wollen nicht hierbleiben. Sie wollen weiter Richtung Norden.“ Doch Brüssel stellt sich gegenüber den wiederholten Forderungen nach mehr Hilfe und Engagement seitens der EU regelmäßig taub.
Italien wiederum verzichtete darauf, die Identität der Flüchtlinge zu ermitteln, und ermunterte diese zur Weiterreise in andere EU-Länder. Das widerspricht den EU-Regularien, nach denen die italienischen Behörden verpflichtet sind, den Flüchtlingen Fingerabdrücke abzunehmen und sie aufzufordern, ihre Asylanträge vor Ort zu stellen. Das steht in der sogenannten Dublin-II-Verordnung,2 die gerade verhindern soll, dass die Flüchtlinge in Länder mit günstigeren Lebensbedingungen weiterreisen, indem sie diese zwingt, ihren Asylantrag im Ankunftsland zu stellen.
Dieses System erlaubt den nordeuropäischen Staaten, Flüchtlinge und „illegale“ Migranten in die südeuropäischen Grenzländer wie Italien und Griechenland zurückzuschicken, wo sie erstmals europäischen Boden betreten haben. Da diese Länder jedoch sehr schwache Sozialsysteme haben, enden die Flüchtlinge dort in menschenunwürdigen Lagern, in Slums oder einfach auf der Straße. Deshalb hat das Bundesverfassungsgericht 2009 untersagt, Flüchtlinge von Deutschland nach Griechenland zu überstellen (siehe Kasten).
Weil das den Flüchtlingen klar ist, versuchen sie die Personenidentifizierung in Italien zu umgehen und direkt nach Nordeuropa zu gelangen. Und die italienischen Behörden, die den unaufhörlichen Strom der Flüchtlinge und deren Minimalversorgung längst nicht mehr bewältigen können, sind auf die langwierigen Verfahren zur Identitätsfeststellung auch nicht gerade erpicht und verschließen gern die Augen, wenn die Neuankömmlinge sich schnell wieder auf den Weg machen.
Die Zahlen sprechen eine eindeutige Sprache: Von den 13 000 eritreischen Staatsangehörigen, die zwischen Januar und Mai 2014 in Italien eintrafen, haben nur 190 Asyl beantragt – also weniger als 2 Prozent. Ganz ähnlich ist es bei den syrischen Flüchtlingen: Hier kommen auf 6 620 Personen 170 Asylanträge.
Doch in den anderen EU-Ländern wurde zunehmend Kritik laut. So erklärte Bundesinnenminister Thomas de Maizière Anfang Oktober: „ ‚Mare Nostum‘ war als Nothilfe gedacht und hat sich als Brücke nach Europa erwiesen.“ Und die Versuche, sich gegenseitig unter Druck zu setzen, gehen weiter: Die EU-Kommission lobte Italien für seine Anstrengungen zur Rettung von Menschenleben und verlangte immer wieder die Durchführung der erkennungsdienstlichen Behandlung. Brüssel verzichtete auf die Androhung von Sanktionen, war aber überhaupt nicht bereit, „Mare Nostrum“ zu übernehmen und in ein grenzübergreifendes, EU-finanziertes Projekt umzuwandeln. Rom wiederum hielt sich nicht an die geltenden EU-Vereinbarungen. Italiens Innenminister Angelino Alfano drohte sogar, sein Land könnte, wenn die EU nicht zu substanzieller Unterstützung bereit wäre, Asylsuchenden gleich nach der Ankunft in Italien die Weiterreise in andere Teile Europas gestatten.
Das Hickhack dauerte bereits mehrere Monate, als Italien am 1. Juli 2014 die EU-Ratspräsidentschaft übernahm. Seither hatte Rom die Forderung nach mehr Mitwirkung der EU bei den Rettungsaufgaben lauter und nachhaltiger geäußert – und im Gegenzug die Bereitschaft signalisiert, die Hilfsmission „Mare Nostrum“ zurückzufahren oder ganz zu beenden. Um zu signalisieren, dass man die EU-Richtlinien umsetzen will, werden seit Ende September von den eintreffenden Flüchtlingen Fingerabdrücke genommen.
Am 1. November hat Italien seine Mission „Mare Nostrum“ eingestellt. Stattdessen wurde im Mittelmeer – unter Leitung der europäischen Grenzschutzagentur Frontex – die EU-Mission „Triton“ gestartet.2 Während sich die „Mare Nostrum“-Mission das Auffinden und Retten von Menschen in den internationalen Gewässern des Mittelmeers zur Aufgabe gemacht hatte, geht es beim „Triton“-Einsatz, an dem sich 21 EU-Staaten beteiligen, auch um die Kontrolle der Grenzen und den Kampf gegen Schlepperbanden. Mit sieben Schiffen, vier Flugzeugen und einem Hubschrauber sind 65-köpfige Teams im Einsatz. Das monatliche Budget beträgt 2,9 Millionen Euro – „Mare Nostrum“ kostete mehr als das Dreifache.
Dieser neuerliche Schwenk scheint in Richtung alter Gewohnheiten zu gehen: Migranten, Flüchtlinge und Asylsuchende sollen mit allen verfügbaren Mitteln abgehalten werden, nach Europa zu gelangen. Offensichtlich will man ihnen die Einwanderung so schwer wie irgend möglich machen – und sie letztlich kriminalisieren.
Nachdem Italien im Sommer die EU-Ratspräsidentschaft übernommen hatte, wurde die Öffentlichkeit über eine geplante Großaktion gegen „irreguläre Immigranten“ im Schengenraum informiert. Diese europaweite Operation namens „Mos Maiorum“ („Sitte der Vorfahren“)3 ging zwischen dem 13. und 26. Oktober über die Bühne. Nationale Polizeikräfte sollten möglichst viele illegale Migranten ausfindig machen, verhaften und in ihre Herkunftsländer zurückschicken. Dahinter steckt die Vorstellung, dass Fremde – ob Migranten oder Asylsuchende – so etwas wie Barbaren sind, gegen deren Invasion sich die EU schützen muss.
Alle sind zufrieden – bis auf die Asylsuchenden
Der Wandel der italienischen Politik ist offenbar das Ergebnis einer neuen umfassenden europäischen Übereinkunft zwischen den EU-Mitgliedstaaten. Italien, das sich mit „Mare Nostrum“ zu weit vorgewagt hat, wurde zur Räson gerufen und hat klein beigegeben. Der schwelende Konflikt zwischen Rom und Brüssel wurde beigelegt. Italien stellt seine Seerettungsoperation ein und erklärt sich zur Identifizierung aller eintreffenden Flüchtlinge bereit, während Frontex eine deutlich weniger ambitionierte Überwachungsoperation im Mittelmeer beginnt. Das stellt offenbar alle Seiten zufrieden – bis auf die Asylsuchenden, für die man befürchten muss, dass Tausende von ihnen wieder im Meer ertrinken.
Der Politikwechsel kommt zwar nicht überraschend, wirft aber mehrere Fragen auf. Warum waren die anderen EU-Staaten nicht bereit, die Lasten zu teilen? Warum bestehen sie so hartnäckig auf der Dublin-Verordnung? Sind 133 000 Asylsuchende wirklich eine Bedrohung für einen Kontinent, auf dem 500 Millionen Menschen leben?
Wenn man auf das Jahr 2011 zurückblickt, kann man vielleicht noch verstehen, warum die „Flüchtlingsfrage“ solche irrationalen Reaktionen und Ängste hervorrief, die mit der realen Situation kaum etwas zu tun hatten. Damals trafen rund 15 000 Flüchtlinge aus Tunesien in Lampedusa ein. Die italienische Regierung gewährte ihnen eine sechsmonatige Aufenthaltserlaubnis, die sie auch zu Reisen innerhalb der EU berechtigte. Frankreich beantwortete diese humanitäre Geste mit der Aufkündigung des Schengen-Abkommens und richtete Polizeikontrollen am Grenzübergang Ventimiglia ein. Damals wurde also wegen einer kleinen Gruppe von 15 000 Menschen das Abkommen über Personenfreizügigkeit innerhalb Europas, das als ein Meilenstein der jüngeren europäischen Geschichte gilt, vorübergehend einfach außer Kraft gesetzt.
Ähnliche Ängste hat noch jede der früheren EU-Erweiterungsrunden ausgelöst. Zwischen 2004 und 2007 traten der EU zwölf neue Staaten bei, darunter acht ehemalige Ostblockländer. Damals wurden in zahlreichen Ländern Bedenken gegen den schnellen Erweiterungsprozess laut, und die Angst vor einer massiven Einwanderungswelle aus den neuen Mitgliedstaaten wurde von der politischen Rechten ausgebeutet. In Frankreich zum Beispiel war vor der Abstimmung über die Europäische Verfassung 2005 in Frankreich viel die Rede vom „polnischen Klempner“, der seinen teureren französischen Kollegen die Arbeit wegzunehmen drohe.
Der polnische Handwerker hat ebenso wenig Probleme verursacht wie all die anderen neuen Bürger aus Osteuropa, die angeblich die reichen westeuropäischen Länder überfluten würden. Als Rumänien und Bulgarien am 1. Januar 2007 der EU beitraten, galten für ihre Bürger zunächst noch verschiedene Beschränkungen: In neun Ländern – darunter Frankreich, Großbritannien und Belgien – mussten bulgarische und rumänische Zuwanderer eine Arbeitserlaubnis beantragen, um arbeiten zu dürfen.4 Als die Restriktionen am 1. Januar 2014 aufgehoben wurden, blieb dies weitgehend folgenlos: An den Grenzen war kein Anstieg der Zuwanderung aus den beiden Ländern zu verzeichnen.
Dieselben Argumente kennen wir aus den Diskussion über den endlosen Beitrittsprozess der Türkei zur Europäischen Union. Die ersten Verhandlungen zwischen Ankara und Brüssel fanden im Jahr 1963 statt. 1987 stellte die Türkei ein offizielles Beitrittsgesuch. Inzwischen hat sich die Union über den ganzen Kontinent ausgebreitet, ist von 12 auf 28 Länder angewachsen – und die Türkei steht immer noch vor der Tür. Sie gehöre, so heißt es, geografisch nicht zu Europa. Doch die Motive für die Zurückweisung sind vor allem kultureller und religiöser Natur. In Wirklichkeit geht es darum, dass viele den Beitritt von beinahe 75 Millionen Muslimen verhindern und ihnen keine europäischen Bürgerrechte gewähren wollen.
Dies führt uns zur Frage nach der europäischen Identität: Wie sieht sich Europa? Ist Europa ein christliches Gebilde? Was sind die Merkmale einer europäischen Identität? Gibt es eine solche Identität überhaupt? In Wahrheit begreifen sich die europäischen Bürger nach wie vor eher als Italiener, Spanier, Franzosen oder Deutsche (von den Briten ganz zu schweigen) denn als Europäer. Die EU ist in den Augen ihrer Bürger eher eine Ansammlung von Bürokraten, die in Brüssel Sparpakete aushecken, denn ein supranationaler Zusammenschluss von Menschen, die durch dieselben Werte und eine ähnliche Geschichte verbunden sind.
Da die europäische Identität so schwach ausgeprägt und vage ist, kann sie nicht integrativ wirken. Alles Neue wird als Bedrohung empfunden. Dies gilt für die türkischen Staatsbürger und den Beitritt der Türkei. Aber sicher auch für die Flüchtlinge, die an Europas Küsten stranden. Wir empfinden Mitgefühl für sie und ihr Schicksal, besonders wenn es Frauen und Kinder sind. Aber wir nehmen sie eher als Last denn als Ressource wahr. Wir helfen ihnen, weil wir „die Menschen nicht im Meer sterben lassen können“, wie Italiens Ministerpräsident Matteo Renzi nicht müde wurde zu betonen.
Aber diese Haltung ist kurzsichtig, denn sie übersieht den entscheidenden Punkt: Die Flüchtlinge sind zumeist junge, kluge Menschen. Und sie sind fest entschlossen, in einer Region, die sie für den Himmel auf Erden halten, für sich und die Ihren ein besseres Leben aufzubauen. Warum können wir sie nicht als Chance begreifen, die Europa zu Wachstum und mehr Perspektiven verhilft, statt uns dauernd zu beklagen, wie viel sie uns kosten?
EU-Grenze Ägäis
An der griechisch-türkischen Grenze ist der Zustrom von Migranten infolge des syrischen Bürgerkriegs stark angeschwollen. Ihre Zahl hat sich in den ersten zehn Monaten dieses Jahres gegenüber 2013 mehr als verdreifacht. Die meisten Flüchtlinge kommen nicht mehr über die Landgrenze am Fluss Evros, sondern versuchen von der türkischen Küste auf die griechischen Inseln der Ostägäis überzusetzen. Von den rund 30 000 „Flüchtlingen ohne Papiere“, die dieses Jahr in Griechenland registriert wurden, kamen mehr als 25 000 übers Meer.
Das liegt vor allem an der schärferen Überwachung der Evros-Grenze und dem Bau eines zehn Kilometer langen Metallzauns Ende 2012. Seitdem konzentriert sich auch die Tätigkeit der Frontex auf die Meeresgrenze. Die Zahl der Einsatzkräfte der griechischen Marine und der Küstenwache in der Ostägäis steigt ständig und liegt heute bei 2 500. Pro Asyl wirft der Küstenwache völkerrechtswidrige „Pushback“-Praktiken vor. Bei einer solchen Operation östlich der Insel Leros sind im Januar 2014 zwölf Menschen ertrunken.
65 Prozent aller Flüchtlinge, die 2014 in Griechenland ankamen, stammen aus Syrien, die übrigen vorwiegend aus Afghanistan, Eritrea und Somalia. Die genaue Zahl der Migranten ohne Papiere, die sich in Griechenland aufhalten, ist unbekannt. Die meisten wollen weiter in andere EU-Länder, auch weil ihre Lage in Griechenland unerträglich ist: Die Auffang- und Abschiebelager sind unzureichend ausgestattet und überfüllt. Das Recht auf die Beantragung von Asyl ist nicht gewährleistet, die Anerkennungsquote von 4 Prozent ist mit Abstand die niedrigste in der gesamten Union. Angesichts dieser Verhältnisse schicken die meisten EU-Staaten Migranten, die keine Papiere haben, nicht mehr nach Griechenland zurück.
Niels Kadritzke