Amerika unter dem Schutz des Himmels
Die politische Theologie der Raketenabwehr von Olivier Zajec
Am 28. März 2001, ein halbes Jahr vor dem Anschlag auf das World Trade Center und dem „Krieg gegen den Terror“, legte der Verteidigungsausschuss der französischen Nationalversammlung einen Bericht zu den US-amerikanischen Raketenabwehrprogrammen vor.1 Die Schlussfolgerung lautete schon damals, dass die Verteidigung der USA gegen mögliche Angriffe durch Atomraketen weniger auf einer „strategischen Analyse“ als vielmehr auf einer „politischen Theologie“ beruhe.
Als Grundlage dieser Theologie identifizierten die Autoren „den Wunschtraum von absoluter Sicherheit“, den „Frontier-Mythos“ – also den Glauben an grenzenlose technische Machbarkeit – sowie „das Denken in Kategorien von Gut und Böse“. Das „Reich des Bösen“, hieß es in dem Bericht, sei aus der Sicht der USA heute nicht mehr ein einzelner Staat wie einst die Sowjetunion, sondern „eine relativ fluktuierende Kategorie, unter die Nordkorea, der Irak und der Iran, bald aber vielleicht noch andere Staaten fallen“.
Anfang dieses Jahres kündigte die US-Regierung die Stationierung weiterer Komponenten ihres Raketenabwehrprogramms in Europa an, obwohl namhafte US-Wissenschaftler das ganze System wiederholt vernichtend kritisiert hatten. Das führte zu neuem Rätselraten über den Sinn und Zweck des Projekts. Denn die geplanten Abfangraketen in Polen wie auch die dazugehörigen Radaranlagen in Tschechien sorgen nicht nur in Moskau für Irritationen, sondern lösten auch im „alten Europa“ Ängste aus. Und sie lassen die Nato links liegen, was im westlichen Verteidigungsbündnis merkliches Unbehagen auslöst.
Die Medien interessieren sich in diesem Zusammenhang hauptsächlich für die Reaktion Russlands, die sie zum Anlass für endlose historische Vergleiche mit der Ära des Kalten Krieges nehmen. Doch der Kern des Problems liegt woanders. In welcher Richtung man suchen müssen, zeigte bereits der zitierte französische Bericht, als er den Traum von der Unverwundbarkeit, die technischen Allmachtsfantasien und eine moralische Konzeption von internationaler Politik als die eigentlichen Triebkräfte der Raketenabwehr ausmachte. Diese Lesart bietet eine schlüssige Erklärung für die ewige Wiederkehr der amerikanischen Raketenabwehrsysteme – und dafür, dass die USA trotz der prinzipiellen Zweifel, die nach dem 11. September 2001 eigentlich angebracht wären, an ihrem Ziel eines lückenlosen atomaren Schutzschilds festhalten.
Die Raketenabwehrpläne entstanden 1957 als direkte Reaktion auf den genannten Sputnik-Schock. Plötzlich mussten die USA feststellen, wie verwundbar sie waren. Die erste russische Raumkapsel umkreiste den Planeten und Amerika musste aufhören, sich als sichere Insel außerhalb der Reichweite feindlicher Mächte wahrzunehmen: Mit ihrer erfolgreichen Raumfahrtmission waren die Sowjets in der Lage, die USA mit interkontinentalen ballistischen Raketen zu erreichen.
Noch im selben Jahr wurde das erste amerikanische Raketenabwehrprogramm „Nike-Zeus“ konzipiert. Es sah den Bau von atomar bewaffneten Langstrecken-Abfangraketen vor, die jede feindliche Rakete im Anflug zerstören sollten. John F. Kennedy verdankte seine Wahl im Jahr 1960 nicht zuletzt dem Thema der sogenannten „Raketenlücke“, dem Rückstand bei der Entwicklung ballistischer Waffen. Er sorgte als erster Präsident dafür, dass die USA sowohl ihr interkontinentales Angriffspotenzial weiterentwickelten2 als auch ein Verteidigungssystem gegen Raketenangriffe aufbauten. Das Programm „Sentinel“ (Wächter) von 1966 beinhaltete die Stationierung von Abfangraketen in Silos rund um Amerikas Großstädte, womit die wichtigsten 25 Ballungsräume vor einem sowjetischen Angriff geschützt werden sollten. Die mit nuklearen Sprengköpfen bestückten Raketen sollten in der Lage sein, feindliche Flugkörper außerhalb und innerhalb der Erdatmosphäre zu vernichten.
Die Bürger der USA waren allerdings nicht bereit, sich mit Atomwaffen vor ihrer Haustür abzufinden. Angesichts der äußerst negativen Reaktion der Öffentlichkeit wurde „Sentinel“ 1974 in das Programm „Safeguard“ umgewandelt, das nicht mehr dem Schutz der städtischen Zentren diente, sondern nur noch der Abwehr von Angriffen auf die Abschussbasen der (offensiven) Interkontinentalraketen. Doch dann kam der Vietnamkrieg, der in den 1970er-Jahren ein riesiges Loch in die Verteidigungsbudgets riss. „Safeguard“ wurde aus Kostengründen auf einen einzigen Standort reduziert. Unterdessen installierten aber die UdSSR einen defensiven Gürtel von Raketensilos rund um Moskau. Und anders als in den USA musste man hier keinen Widerstand der Bevölkerung gegen den Bau der Silos und die Stationierung der Galosch-Raketen einkalkulieren.
„Star Wars“ unter Ronald Reagan
Der ABM-Vertrag3 von 1972 fror die Abwehrsysteme der USA und der Sowjetunion auf dem damaligen Entwicklungsniveau ein. Vier Jahre später wurde das US-System aus innenpolitischen und finanziellen Gründen ganz aufgegeben, wohl auch wegen mangelnder Funktionstüchtigkeit. Dagegen blieb der Silogürtel rund um Moskau bestehen, obwohl auch dieses System schlecht funktionierte. Der erste Wettlauf um atomare Abwehrraketen endete also mit einer Niederlage der USA.4 Seitdem arbeitete Washington intensiv an der Verbesserung seiner Angriffskapazitäten; die defensiven Komponenten traten entsprechend in den Hintergrund.
Doch am 23. März 1983 kam es zu einem radikalen Kurswechsel: Präsident Ronald Reagan proklamierte den Beginn seiner „strategischen Verteidigungsinitiative“ (SDI), auch „Star Wars“ genannt. Der Bestand an „überholten und ineffizienten“ nuklearen Angriffswaffen sollte reduziert und durch ein globales, aus Satelliten und weltraumgestützten Laserwaffen bestehendes Raketenabwehrsystem ersetzt werden. Das System sollte jede atomar bestückte Interkontinentalrakete aus der Sowjetunion abfangen können.5
Diese Rede Reagans gilt als historischer Meilenstein, weil sie den Rüstungswettlauf angeheizt und wesentlich dazu beigetragen haben soll, die Sowjetunion wirtschaftlich in die Knie zu zwingen. Man muss aber auch hier genauer hinsehen. Immerhin hatte die UdSSR bei der Raketenabwehr damals einen gewissen Vorsprung vor den Vereinigten Staaten. Außerdem nahmen die anfangs so ambitionierten SDI-Pläne schon bald viel bescheidenere Dimensionen an: 1987 war – wie bei „Safeguard“ – nur noch von der Verteidigung der eigenen, offensiven Raketenabschussbasen im Fall eines sowjetischen Erstschlags die Rede.
1991 wurde die SDI in „Global Protection Against Limited Strikes“ (GPALS) umbenannt und die Zahl der wahrscheinlichen Ziele reduziert. Es wiederholte sich also dieselbe Geschichte, die schon zur Einstellung von „Safeguard“ geführt hatte. Von da an konzentrierte man sich auf die Entwicklung einer raketengestützten, regional fokussierten Abwehr von Kurzstreckenraketen aus „Schurkenstaaten“ und zog damit die Konsequenz aus dem ersten Golfkrieg (1990–1991) und den spektakulären Einschlägen irakischer Scud-Raketen in Israel. Die auf potenzielle regionale Kriegsschauplätze bezogene Raketenabwehr (theater defense) ersetzte das Prinzip der territorialen Verteidigung wie auch die interkontinentale offensive Abschreckung, die ja auf dem Gegensatz zwischen den beiden Supermächten und dem Gleichgewicht der Angriffspotenziale beruht hatten.
Gleich nach seiner Wahl im Jahr 1992 sorgte Bill Clinton für den Übergang von der territorialen Verteidigung zur neuen Strategie. Das Thema Raketenabwehr kam dennoch während seiner Präsidentschaft zum dritten Mal auf die Tagesordnung. Das lag vor allem an dem veränderten Kräfteverhältnis zwischen einem schwächelnden Präsidenten und einem seit 1995 stärker von den Republikanern dominierten Kongress, der eine ideologische Offensive eröffnete. Die stützte sich maßgeblich auf den 1998 veröffentlichten Bericht einer parlamentarischen Kommission unter Donald Rumsfeld, der die weltweite Bedrohung durch Raketenangriffe nicht mehr nach den Absichten und Zielen der Akteure bewertete, sondern nach deren theoretischen Handlungsmöglichkeiten.
Im selben Jahr bestätigten die Atomversuche Pakistans und Indiens, der Start der nordkoreanischen Rakete Taepo-Dong I und eine iranische Testrakete die Einschätzung der Rumsfeld-Kommission, womit die Demokratische Partei Clintons in die Defensive geriet. Der seit 2001 regierende Präsident George W. Bush nutzte diese Schwäche und erweckte das Projekt des nuklearen Schutzschilds zu neuem Leben.
Das sichtbarste Merkmal dieses dritten Anlaufs ist die systematische Ausarbeitung und geografische Ausweitung des strategischen Konzepts einer Raketenabwehr, das bessere Chancen bieten soll, feindliche Flugkörper bereits kurz nach deren Abschuss abzufangen.
Sicherheit im Namen Gottes
Die Idee, Amerika für feindliche Raketen unerreichbar zu machen, stammt also keineswegs aus der zweiten Amtszeit von George W. Bush. Ganz im Gegenteil: Die Unverwundbarkeit des nationalen Territoriums zu garantieren, ist entscheidend für das Sicherheitsempfinden und das historische Sendungsbewusstsein eines Landes, das seit seiner Gründung dazu neigt, sich als „zweites himmlisches Jerusalem“ auf Erden zu verstehen.
Aus dieser Perspektive ist jeder Angriff auf US-amerikanisches Territorium nicht nur ein Akt der Aggression, sondern auch eine Schändung des Tabernakels der Freiheit. Wer die USA angreift, ist ein Frevler, der gewissermaßen das Fegefeuer verdient hat. Irdische Strafexpeditionen beruhen auf dem Prinzip6 einer Offensive, die dem Gegner möglichst zuvorkommt, und dessen strategischer Vernichtung.
Die drei Säulen einer nuklearen Offensive – raketenbestückte U-Boote, ballistische Interkontinentalraketen und strategische Bomber – erlauben es den Vereinigten Staaten heute, fast überall auf der Welt zuzuschlagen. Doch welchen Wert hat ein solches Angriffspotenzial, wenn die Unverwundbarkeit des geheiligten eigenen Territoriums dennoch nicht gesichert ist? Nachdem es am Ende des Zweiten Weltkriegs im letzten Moment gelungen war, die Schande von Pearl Harbor mit dem atomaren Feuer über Hiroschima und Nagasaki zu vergelten, empfand man seit den 1950er-Jahren die Bedrohung des eigenen Territoriums durch die ballistischen Atomraketen der Russen als eine neue Häresie gegen die offenkundigen Bestimmung als Gottes eigenes Land. Diese Häresie war um so schmerzhafter, als die Flucht in die Abschreckung, zu der sich die USA gezwungen sahen, auf der Strategie gegenseitiger Vernichtung beruhte, mit der allein die Apokalypse zu verhindern war. Es war eine perverse nukleare Kasuistik, die nach amerikanischem Verständnis auf einen unzulässigen Handel mit dem Bösen hinauslief.
Noch 1959 verteidigte Oskar Morgenstern, der Begründer der Spieltheorie, in seinem Buch „The Question of National Defense“ die Strategie der atomaren Abschreckung. Dem erwiderte Bernard Brodie („der amerikanische Clausewitz“), die sichere gegenseitige Vernichtung mache „die Sicherheit der USA von der Fähigkeit des Kremls abhängig, sich rational zu verhalten“ und sei deshalb aus moralischen Gründen unannehmbar.7 Aus diesem metaphysischen Bedürfnis nach einer günstigeren Gewichtung von Angriff und Verteidigung entstand der kategorische Imperativ der Raketenabwehr. Er war im Kern eine moralische Forderung, an die sich die kollektive Psyche der Amerikaner dann ständig geklammert hat.
Die Auseinandersetzung zwischen Brodie und Morgenstern im Jahr 1959, also zwei Jahre vor dem Amtsantritt Kennedys, war mehr als nur ein Schlagabtausch unter Intellektuellen. Seitdem war klar, dass „moralisches“ Verhalten im Nuklearzeitalter darin bestand, die Verwundbarkeit Amerikas nicht einfach hinzunehmen.
Aufschlussreich in diesem Zusammenhang ist, dass amerikanische Politiker sich häufig auf eine berühmte Predigt des puritanischen Pfarrers John Winthrop aus dem Jahr 1630 bezogen. Dieser hatte unter dem Titel „A Model of Christian Charity“ eine politische Philosophie im äußersten Gegensatz zu Macchiavelli entworfen und die Wendung geprägt, die später erstaunliche Karriere machen sollte: Amerika als biblische „Stadt auf dem Hügel“ (die nicht verborgen bleiben kann), die als eine Art moralischer Leuchtturm mit vorbildlichem Verhalten zur Erbauung und Läuterung aller Nationen beizutragen habe. Vor seinem Amtsantritt zitierte John F. Kennedy diese Predigt8 , und zwei Jahrzehnte später hat sich Ronald Reagan mehrfach auf sie bezogen. Bezeichnenderweise sorgten diese beiden „moralischen“ Präsidenten für die entscheidenden Anstöße zum Ausbau eines umfassenden atomaren Schutzschilds.9
In diesem Kontext zeigt sich der neuerliche Vorstoß bei der amerikanischen Raketenabwehr als Teil einer zyklischen Entwicklung. Auch George W. Bush hatte in einer Rede vor seiner Wahl im Jahr 2000 erklärt, er wolle das nukleare Arsenal auf den „kleinstmöglichen Bestand“ reduzieren, der „noch mit unserer nationalen Sicherheit vereinbar ist.“10 Im selben Jahr unterstrich sein künftiger Verteidigungsminister Rumsfeld auf einer Europareise, die Fortsetzung der Raketenabwehrprogramme sei keine technische, sondern eine „moralische Frage“.11 Als Bush am Beginn seiner ersten Amtszeit das Atomarsenal seines Landes einer „nuklearen Inventur“ unterzog,12 war das fast wie eine Prüfung des Gewissens der Nation im Gefolge von Kennedy und Reagan.
Dass der französische Parlamentsbericht des Jahres 2001 eine „politische Theologie“ als Grundlage der amerikanischen Raketenabwehr identifiziert hat, war ein wichtiger Beitrag zur Versachlichung der Debatte. Das Primat einer Metaphysik der Vorsehung in der amerikanischen Psyche und die wiederholten Anläufe zur Entwicklung von Raketenabwehrprogrammen seit 1957 legen den Schluss nahe, dass Washington auch diesmal von einem Neubeginn nicht abzubringen sein wird. Die entscheidende Frage, die sich für den alten Kontinent stellt, lautet damit, ob wir eine amerikanische Raketenabwehr in Europa haben wollen oder eine europäische.
Fußnoten:
Aus dem Französischen von Herwig Engelmann
Olivier Zajec ist Berater der Compagnie Européenne d’Intellegence Stratégique (CEIS), einer privaten Consulting-Firma für Sicherheits- und Marktstrategien mit Sitz in Paris und Brüssel.